Nikolaj Berdjajews Vorfahren

Klaus Bambauer

Wie aus den sehr gründlichen historischen Forschungen zur Familiengeschichte Nikolaj A.Berdjajews durch seinen Biographen Donald A.Lowrie hervorgeht, können wir die Vorfahren des russischen Denkers und Religionsphilosophen mütterlicherseits als dem französischen Adel entstammend ermitteln.1) Mit Lowrie ist zu konstatieren, dass sein französischer Ur-Großvater Antoine-Louis-Octave Choiseul-Gouffier (1773-1840) infolge der französischen Revolution von 1789 gezwungen war, Frankreich zu verlassen und nach Russland zu emigrieren, wo ihm Katharina die Große Asyl gewährte. Schließlich sorgte sehr viel später wiederum die russische Revolution dafür, dass ein Nachkomme des französischen Adeligen, nämlich der russische Denker und Religionsphilosoph Nikolaj A.Berdjajew (1874-1948), zusammen mit seiner Familie im Jahre 1922 seine Heimat verließ, um nach einer Zwischenstation in Berlin von 1924 bis zu seinem Tode (1948) eine bleibende Heimat in Frankreich zu finden, einem Land, dem insbesondere seine Mutter, die in Frankreich aufgewachsen war, in Russland nur französisch schrieb und französische Lebensart pflegte, eng verbunden war.

Die Ursprünge der Familie Choiseul-Gouffier

Die Familie Choiseul-Gouffier ist französischen Ursprungs. N.A.Berdjajews Ur-Ur-Ur-Großvater mütterlicherseits war ein Gabriel-Florian de Choiseul-Gouffier. Sein Geburtsjahr ist uns unbekannt (vor bzw. um 1700). Er starb im Jahre 1753 und war verheiratet mit Marie-Francisque de l’Allemande de Betz. Eine andere Quelle besagt, dass der hier genannte Gabriel Florian Christoph Daillecourt geheißen hätte und mit Marie Francoise de Lallemand de Betz [der Name der Ehefrau ist identisch] verheiratet gewesen wäre. Hier existiert also eine Unstimmigkeit. Gabriel-Florians sehr früher Vorfahre war Rainier III., Seigneur von Choiseul, verheiratet mit Alice de Dreux (+1258), sie war Nachkomme von Louis VI. (1081-1137), dem König von Frankreich.

Aus der Ehe des oben erwähnten Gabriel-Florian de Choiseul-Gouffier ging der Sohn Marie-Gabriel-Florian-Auguste (*27. September 1752 in Paris), N.A.Berdjajews Ur-Ur-Großvater, hervor. Dieser Marie-Gabriel-Florian-Auguste, ursprünglich Kapitän der Kürassiere und Freund von Talleyrand, begann eine Karriere als Diplomat im Dienste Frankreichs, nachdem der Außenminister Charles Vergenne (1719-1787) ihn zum Botschafter an der Großen Pforte (Konstantinopel) ernannt hatte, einen Prestigeposten, den er von 1784 bis 1792 brillant ausfüllte. Graf Choiseul verheiratete sich in erster Ehe am 23. September 1771 mit Adelaïde Marie de Gouffier d’Ailly, (Geburtsjahr unbekannt – gestorben 1817), der einzigen Tochter und der letzten der Linie des Louis Charles Antoine Gouffier, zugleich Marquis d’Ailly et de Richmond (letztes männliches Familienmitglied der Gouffier-Linie), verheiratet mit Marie Catherine Phelippeaux d’Outreville. Der Heiratskontrakt mit ihr bestimmte, dass der Gatte den Namen Choiseul-Gouffier tragen durfte. Die letztgenannte Marie Catherine führt ihre Abstammung auf den Prinzen Kudasheff (Tartarenprinzen des 17. Jhdts.) zurück. Schon in diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass N.A.Berdjajews Mutter als Prinzessin Alexandra Kudasheff (1838-1912) eine Tochter des Prinzen Sergej Kudasheff (1796-1862) war, sodass das tartarische adelige Element im 18. Jahrhundert wieder Eingang in die Familie findet. Aus seiner ersten Ehe hatte Marie-Gabriel-Florent-Auguste Choiseul-Gouffier fünf Kinder:

Die hier genannten Geschwister sind in der genealogischen Übersicht bei D.A.Lowrie (S. 6) nicht aufgeführt und deshalb bis jetzt in der historischen Forschung unbekannt geblieben. Einige Hinweise auf die Choiseul-Gouffiers im 19. Jahrhundert: Der Titel des französischen Grafen der Choiseul-Gouffier wurde für Alexandre Octave Felix de Choiseul-Gouffier, seine Söhne und seinen Neffen Édouard François Xavier am 20. Februar 1855 in Russland anerkannt. Er wurde gleicherweise bestätigt am 30. April 1856 für Alexandre Ladislas Ignace Octave de Choiseul-Gouffier. Die letzten bekannten Choiseul-Gouffier sind Emmanuel, geboren 1831 (ohne Verwandtschaft), Theobald, geboren 1866 (ohne Nachkommenschaft), Gabriel, geboren 1873, und Louis, der letzte dieses Namens († 1949 in Genf).

Nach dieser ersten Ehe mit Adelaïde Marie de Gouffier d’Ailly war Graf Choiseul-Gouffier seit dem Jahre 1816 in zweiter Ehe verheiratet mit Hélène de Beauffremont (+1836). Sie veröffentlichte im Jahre 1820 den dritten und letzten Band der "Voyage pittoresque en Grèce", ein Werk, das ihr Gatte verfasst hatte.

Marie-Gabriel-Florent-Auguste de Choiseul-Gouffier, einer langen Linie des französischen Adels entstammend, spielte eine recht bedeutende Rolle in der französischen Geschichte. Aufgrund seiner Verheiratung mit der Tochter des Grafen Gouffier erhielt er das Recht, im Zusammenhang mit der Aussteuer der Braut, diesen Titel bzw. Namen seinem ursprünglichen Namen Choiseul-Beaupré anzuhängen.

Er war ein frühreifer junger Mann; seine persönlichen Interessen wandten sich der Wissenschaft und dem Reisen zu, obwohl er wie die meisten französischen Aristokraten in der Armee diente, wo man ihm im Alter von 24 Jahren schon das Kommando eines Regiments übertrug. Er beendete seinen Militärdienst am Ende der 1770er Jahre, als die meisten seiner Kameraden nach Amerika zogen, um in der Kolonialarmee zu kämpfen. Dieser junge Aristokrat schloss sich einer der frühesten französischen wissenschaftlichen Expeditionen an und fuhr mit der Fregatte Atalante nach Griechenland. Das Buch, das er nach seiner Rückkehr veröffentlichte, Voyage Pittoresque de la Grèce [Malerische Reise nach Griechenland], wurde allgemein als eines der wichtigen literarischen Ereignisse der Zeit betrachtet.2) Sein Buch über die "Malerische Reise" half mit, seinen Ruf als ein Spezialist des nahen Ostens zu begründen.

Der junge Graf Choiseul wurde mit 29 Jahren im Jahre 1779 zum Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles Lettres3) ernannt und ein Jahr später in die Académie Française4) berufen. Graf Choiseul ersetzte am 11. Dezember 1783 Jean le Rond d’Alembert (1717-1783) auf Platz 25. D’Alembert war Philosoph, Mathematiker und Physiker. Er war im Jahre 1741 in die Akademie der Wissenschaften eingetreten.

Nach seinem Eintritt in die Akademie wurde Graf Choiseul von Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat Condorcet (+29. März 1794), seit 1777 Sekretär der Akademie der Wissenschaften, erst am 26. Februar 1784 aufgenommen. Seine Wahl in die Académie française rief einen Protest seines Kollegen an der "Académie des Inscriptions", Anquetil-Duperron5) hervor, der ihn anklagte, die Zulassung zur Académie française im Gegensatz zu den Verpflichtungen der Mitglieder dieser Gesellschaft beansprucht zu haben; seine Drohung, den Grafen von Choiseul dem Tribunal "des Maréchaux" von Frankreich wegen Übertretung gegenüber seinem Versprechen anzuzeigen, hatte infolge königlichen Befehls keine Folgen.

Im Alter von 32 Jahren wurde Graf Choiseul im Jahre 1784 zum Botschafter von Konstantinopel ernannt. Dies war einer der verantwortungsvollsten Posten der französischen Diplomatie. D.A.Lowrie erläutert die dienstlichen Funktionen: "Konstantinopel war nicht nur ein 'verantwortungsvoller Posten', es war eine schwierige Position für jeden Franzosen und besonders für Choiseul. Obwohl offiziell freundlich gegenüber der türkischen Regierung und die Kriegsstärke der Türkei durch französische Ingenieure überwachend, interessierte sich der junge Botschafter mehr und mehr für Russland, den Feind der Türkei. Er selbst ein glühender Monarchist wie viele andere seiner Generation, wurde zu Katharina II. hingezogen, damals die führende Unterstützerin von Europas altem Regime. Bewegt von einer natürlichen Sympathie und auch – möglicherweise – durch vorausschauendes Denken für einen Platz für späteren Aufenthalt, folgte der französische Botschafter einer Richtung kalkulierter Führung, um das Vertrauen des russischen Hofes zu gewinnen. Er kam russischen Kriegsgefangenen in türkischen Händen zu Hilfe, indem er einigen half, zu fliehen. Solches offensichtliche Parteigängertum machte Choiseul bei den Türken nicht beliebt, und seine sich daraus ergebende Unpopularität ist zweifellos für die Tatsache, das die Parthenon-Marmorsäulen nun im Britischen Museum und nicht im Louvre aufgestellt sind, verantwortlich. Als ein glühender Sammler träumte Choiseul davon, die Skulpturen-Schätze der Akropolis für Frankreich zu sichern und erörterte die Frage mit der türkischen Regierung. Trotz seiner drängenden Bitte jedoch – alles, was er erhalten konnte, waren die beiden Stücke, die nun im Louvre ausgestellt sind. Dass dies in hohem Maße mit seiner Person zusammenhing, ist aus der Tatsache ersichtlich, dass nur einige Jahre später (1780) Lord Elgin den Rest sicherte und ihn mit sich ins Britische Museum nahm."6)

Im Jahre 1791 wies Graf Choiseul das Angebot zurück, Botschafter in London zu werden. "Choiseul war durch die Revolution in Frankreich tief schockiert. Seine Sympathien lagen auf der Verliererseite, und so drückte er es in seiner Korrespondenz mit seinen befreundeten Aristokraten aus, die aus Frankreich entkommen waren".7)

Als man ihn nach Frankreich zurück berief, war er hinreichend informiert, darauf nicht einzugehen, da man ihn in Paris verhaftet hätte. Rasch verließ er Konstantinopel und reiste über Transsylvanien, um sicher in St. Petersburg anzukommen. Sein literarischer Ruf war ihm, zusammen mit Berichten über seinen den Russen gegenüber freundliche Haltung in der Türkei, vorangegangen. Berichte dieser Zeit besagen, dass Katharina d. Gr. sein Kommen mit großem Interesse erwartete. Indem er mit Genehmigung Russlands seine Familie aus Frankreich mitbrachte, ließ er sich in Russlands Hauptstadt nieder.

Graf de Choiseul war nicht der einzige französische Emigrant in St. Petersburg. Die Zarin lud die französischen Flüchtlinge – es waren häufig Aristokraten – freundlich in ihr Land ein, da sie deren Qualitäten schätzte und ihnen angesehene Stellen im Staatsdienst verschaffte. Aus irgendeinem Grund machte Graf de Choiseul auf die Herrscherin zunächst keinen vorteilhaften Eindruck, doch er bewältigte dies und empfing bald nacheinander wichtige Zeichen der Gunst der Zarin. Sie machte ihm ein Geschenk von zweitausend Zehnrubel-Scheinen, genug, um ihn mit einer lebenslangen angenehmen Pension zu versehen. Er erhielt den Titel eines Privat-Ratgebers. Sie beförderte seinen älteren Sohn Octav (Berdjajews Ur-Großvater) zu den Garden und stellte den jüngeren Sohn zusammen mit den Söhnen der russischen Aristokraten ins Kadettenchor ein.

In der Zwischenzeit kamen laufend weitere französische Emigranten aus Frankreich nach Russland. Als eine Art von inoffiziellem Ministerium für die französischen Emigrantenangelegenheiten bildete die Zarin ein Triumvirat, um sie zu beraten. Diese Gruppe umfasste Graf Esterházy, den Marquis de Lambert und den Grafen de Choiseul. Dieser Kreis übernahm im Grunde genommen die Organisation aller Emigrationsvorgänge. Als im Jahre 1795 Katharina II. den Grundbesitz der polnischen Adeligen, die sie für einen rebellischen Aufstand verantwortlich machte, beschlagnahmte, waren die drei Franzosen unter den Empfängern bei der Wiederverteilung. Choiseul erhielt ein großes Gut nahe der galizischen Grenze, eines, das nicht von einer Privatseite konfisziert worden war, und das nicht in Gefahr stand, schließlich bei Rehabilitation des früheren Besitzers am Hof in einen Rechtsstreit zu geraten.

Im Jahre 1795 bot Louis XVIII dem Grafen Choiseul die Stelle eines Botschafters in Wien an, und Choiseul war darauf vorbereitet, die Position anzunehmen. Doch Wien wies es aus eigenen Gründen zurück, ihn zuzulassen. Als ein Ergebnis dieser unangenehmen Situation zog sich Choiseul bis zu Katharinas Tod im Jahre 1796 auf sein Landgut zurück. Ihr Nachfolger, Zar Paul I., erneuerte nicht nur, sondern erweiterte die Gunst und Autorität, die Choiseul von Katharina zugemessen worden waren. Choiseul wurde wiederum Privat-Ratgeber (nach Lowrie dem deutschen Geheimrat entsprechend), und man ernannte ihn zum Präsidenten der Akademie der Künste.8) Ebenso erhielt er den Titel des Direktors "aller kaiserlichen Bibliotheken" Russlands. Doch das romantische Interesse an den französischen Emigranten verblasste, nachdem man einige Jahre mit ihnen gelebt hatte, und nicht wenige Russen beneideten die hohen Positionen, die von Franzosen eingenommen wurden, unter ihnen auch von Choiseul. Zu diesem Neid gesellte sich des Grafen Inkompetenz, und das Ergebnis war katastrophal. Choiseul hatte große Ideen – zu groß, um verwirklicht werden zu können. Die Autorität in der Akademie der Künste wurde bald in die Hände eines Vize-Präsidenten gelegt. Choiseuls Erfahrung mit den Bibliotheken war sogar noch weniger erfolgreich. Im Jahre 1800 wurde er aus seinem Dienst entlassen und zog sich auf sein Landgut zurück. Nach der Ermordung von Zar Paul I. (1801) suchte Choiseul keine weiteren Positionen mehr in Russland und kehrte 1802 nach Frankreich zurück, wo er sich für den Rest seines Lebens wissenschaftlichen Studien hingab. Er war nicht mehr Mitglied der Akademie aufgrund der Organisation von 1803, sondern nur noch der 3. Klasse des Instituts. Er trat dort wieder aufgrund der königlichen Anordnung von 1816 ein, zur gleichen Zeit wie in die Akademie der Schönen Künste und der Inschriften und nahm einen Sitz ein, der besetzt gewesen war von Portalis9), Laujon10) und Étienne; dieser letztere wurde durch die gleiche Anordnung ausgeschlossen. Der Graf von Choiseul-Gouffier wurde zum Pair von Frankreich, Staatsminister der Regierung Richelieu und Mitglied des Privatrates ernannt. Er starb am 22. Juni 1817 in Aachen.

 

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