Belvedere

 

 

Mit Gott!

Im Oktober 1938

 

Meine Angehörigen haben wiederholt den Wunsch geäußert, ich möchte ihnen einige Erinnerungen aus meinem Leben aufzeichnen. Diesem Verlangen will ich nachkommen. Vor mehr als 42 Jahren hatte ich einige Aufzeichnungen gemacht über meine Jugendzeit, die hier mit entsprechender Kürzung, aber möglichst wortgetreu wiedergegeben werden sollen.

 

Kindheit (1876-1889)

 

In der im Jahre 1874 in Reichenberg[1] eröffneten Sommerrestauration „Belvedere“ war Anfang Mai des Jahres 1876 reges Leben eingekehrt. Die Saison hatte begonnen und in allen Räumen des Hauses wogte geschäftiges Treiben. Im Schlafzimmer, welches die Familie bewohnte, war ein Balken der Zimmerdecke gebrochen, weshalb sie einige Tage in das gegenüberliegende Haus des Herrn Mužik übersiedeln mußte.

In einem Dachstübchen dieses Hauses war es, wo am 19. Mai 1876 um ½ 3 Uhr früh das zweite Kind der Familie, ein Sohn, das Licht der Welt erblickte. Bei der am 24. Mai stattgefundenen Taufe erhielt er den Namen Hermann Emil. Taufpaten waren Emil Sieber und Mina Fritsche. Der Vater Stefan war damals noch als Kellermeister bei Herrn Sieber angestellt, der die Restauration „Belvedere“ erbaut hatte. Er stand schon seit sechs Jahren in seinem Dienste.

Im Jahre 1877 übernahm er das Gasthaus (erbaut 1873), welches in diesem Jahre in den Besitz der Stadtgemeinde überging, zuerst mit Ernst Appelt gemeinsam. 1879 wurde er alleiniger Pächter.

Im Sommer, wenn das Geschäft gut ging, hatten die Eltern für uns Kinder wenig freie Zeit übrig. Wir waren dann meistens auf uns selbst und fremde Leute angewiesen. Besonders war es eine alte Kinderfrau namens Ladek, an der wir mit großer Zärtlichkeit hingen. In den Herbstmonaten wurden die Dienstboten entlassen, die Gäste blieben aus, und im Winter war dann der ganze Betrieb, in dem im Sommer so reges Leben geherrscht hatte, einsam und verlassen.

Der Vater hatte sich als gelernter Faßbinder eine eigene Werkstätte eingerichtet, in der er den ganzen Winter über bastelte, das Mobiliar reparierte, für uns Kinder Betten und andere kleine Möbel anfertigte, Holzfiguren schnitzte, und alles selber baute, was im Hause gebraucht wurde.

Besonders zu Weihnachten erfreute er uns gern mit selbstgemachten Spielsachen, an denen er wochenlang gearbeitet hatte. Er war zwar sehr streng, aber seelengut. Noch heute denke ich an die schönen Winterabende zurück, an denen er uns Geschichten erzählte, Gedichte vortrug und uns zum Guten ermahnte. Mir ist bis heute ein Gedicht aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben: „Der Schelm vom Berge“, das ich dann als Elfjähriger auswendig gelernt habe:

 

                      1

 

Am Waldberg, hoch aus den Tannen heraus

ragt wüst ein halb verfallenes Haus.

Drinn' sitzen bei spärlichem Kerzenlicht

zwei schweifende Männer mit finst'rem Gesicht.

Der eine, gebeugt und lebenssatt,

die Haare silbern, das Auge matt.

Der and're in ernster männlicher Kraft,

den Blick voll Feuer und Leidenschaft.

Rings im Gemach ist’s so öd’ und leer,

als käme seit Jahren kein Dritter her.

Ein Tisch, zwei Stühle, ein Becher, ein Krug,

das ist für des Hauses Bewohner genug.

Nur fern in der Ecke am roten Band,

da hängt ein gewaltiges Schwert an der Wand.

Der Mond, er scheint durch's Fenster herein.

Das Schwert, es glitzert im rötlichen Schein.

Im Auge des Jungen mit einem Mal

erblitzt ein zückender Feuerstrahl.

Er schlägt auf den Tisch mit grimmiger Faust

und ruft, daß dumpf im Gemach es braust:

„Nicht duld’ ich sie mehr die empörende Schmach,

die das Herz schon der Mutter, der teuren brach.

Nicht will ich mehr sein ― beim gewaltigen Gott!

der Niederen Schreck, der Hohen Spott.

Nicht werden will ich, Vater ― wie Ihr,

der Knecht der Gewalt, der blutigen Gier.

Führ’ je ich Euer entsetzliches Schwert,

so sei mir der Himmel auf ewig verwehrt.

Ihr sagt, Ihr seid ein Heil für den Staat,

vollbringet auf Erden des Himmels Rat.

Doch sagt: Wie hoch man Euch ehrt im Reich?

Den Schelm vom Berge! ― So nennet man Euch.

Wohin Ihr gehet ― von Ort zu Ort,

da weichen die Menschen von Euch fort.

Der Henker! Sagt einer dem anderen leis’,

und jedem gerinnt das Blut zu Eis.

Der Henker! Und ich des Henkers Sohn ―

der Fluch ― auch auf mir lastet er schon.

Wohin ich in meinem Jammer seh’

drängt alles bang sich aus meiner Näh’.

Sie flüstern ― wie sehr sein Arm so stramm.

Der Apfel ― er fällt nicht weit vom Stamm!

Der Vater war schlimm, der Sohn ― denkt mein,

wird schlimmer noch als der Vater sein.

Ich hör's und fliehe entsetzt hinaus

und trete wieder in’s öde Haus.

Und will ich küssen die Vaterhand,

so schleudert’s entsetzt mich zurück an die Wand.

Ich weiß, Ihr habt kein verhärtet’ Herz,

und was Ihr tut bereitet Euch Schmerz.

Doch schreckt mich Eure Nähe. ― In der Fern,

da denke ich Euer doppelt so gern.

Drum fort von Euch ― drum fort von hier.

Ein ander’ Leben such ich mir.

Das Brandmal wasch' ich von meiner Stirn

und ― müßt es sein ― mit dem eigenen Hirn.“

„Wohin entfliehen? Du junger Tor“,

erwidert der Alte und hebt sich empor.

„Des Kaisers Reisige fangen Dich ein.

Des Henkers Sohn muß Henker sein.

Mein Vater war es, drum wurd’ ich es auch.

Das ist Gesetz- und Landesbrauch.

Ja, ehrlich sind wir ― und ohne Recht.

Vor Gott und den Menschen ein verworf'nes Geschlecht

Berührst Du des Kaisers, der Kais'rin Talar,

ein Glied ihres Leibes ― ja, ein einziges Haar,

dann stirbst Du den Tod, den gerechten zur Stund’,

doch lecken darf ihnen die Hand ― der Hund.

Die Hohen der Welt ― der Erde Herr’n,

sie wollen die Dienste des Henkers so gern.

Doch was ihr Stolz dafür uns zollt,

das ist Verachtung: und ― schlechtes Gold.“

Auf lacht der Junge, daß rings es gellt:

„Die Hohen der Erde ― die Stolzen der Welt ―

die Reichen ― in ihrem goldenen Haus­

ich zahle mit gleicher Münze sie aus.

Wohl sah ich sie oft beim Lanzenspiel

stets strahlen und glänzen, und dünken sich viel,

Doch ― gebt mir die Lanze! Gebt mir ein Roß!

Sollt seh'n wie sie weichen vor meinem Stoß.

Ich singe so laut ― mit so hellem Schall

wie des Kaisers Ritter und Höflinge all’.

Ich tanze so leicht und flink wie sie.

Mein Herz, ― das tausch’ ich mit ihnen nie.

Drum hab’ ich nicht Ruhe und habe nicht Rast,

bis ich denn steh’ in des Kaisers Palast.

Hin eil' ich von hier! Und ― ist es mein Tod,

so endet mit einem Mal Schmach und Not.

Ich ersinne mir List ― und mische mich ein

in die bunte Menge, die schimmernden Reih'n.

Dann will ich sehen ― ob nicht die Pest

sich bald im Palaste spüren läßt!“

So rächt sich ― so spricht Hohn für Hohn

der Schelm vom Berge ― des Henkers Sohn.

 

2

Im Kaiserschloß ― in dunkler Nacht ―

ist heller, leuchtender Tag erwacht.

Viel hundertfarbige Lampen blüh’n,

viel tausend flackernde Kerzen glüh’n.

und rings ― durch der prächtigen Hallen Raum

bewegen sich schwankend ― wie Bilder im Traum –

Gestalten. ― Seltsam wechselnd und irr

wogen und wall'n sie im bunten Gewirr.

Hier wandelt der Schäfer, dort schreitet ein Mohr

hier recket ein Riese die Keule empor.

Da trippelt ein Zwerg an des Fürsten Arm,

durchwandert der Klausner der Musen Schwarm.

Im Narrengewande der erste Held,

die Schöne, die sich im Schmucke gefällt,

sie bergen all’ unter der Maske Scherz,

der Seele Freude ― der Seele Schmerz.

Der Kaiser nur und die Kaiserin

stehen unverkleidet mitten darin.

Sie lächelt ihn an mit holdem Blick,

er gibt ihr ein zärtliches Wort zurück.

Dann winkt er ― und laute Musik erschallt,

daß jedem das Herz im Leibe wallt.

Die Reihen ordnen sich rasch zum Kranz

und schnell ― im Wirbel beginnt der Tanz.

Wie zierlich drehen die Herren sich um,

die Damen leicht auf den Spitzen herum.

Rings bietet schöne gefällige Schau

der Glieder Maß ― und üppiger Bau.

Vor allem ein Ritter ― so hoch und schlank

tanzt allen den lieblichen Damen zum Dank.

Er hält sie so sittig ― er schwingt sie so leicht

daß jede vom Wind sich getragen deucht.

Er trägt ein blutrotes enges Gewand

von leuchtender Farbe mit schwarzem Rand.

Ein schwarzes Barret, daraus quillt sein Haar

in blonder, herrlicher Lockenschar.

Dem Kämmerling winket die Kaiserin:

„Zum roten Ritter, da gehet mir hin.

Zu dem Ritter dort ― so gelenk und zier ―

entbietet den Herrn zum Tanze mit mir.“

Der Kämmerling geht, der Ritter eilt,

er neiget sich tief ― und unverweilt,

im schnellen Fluge sieht man hin

die beiden schönen Gestalten flieh'n.

Da schweigt die Musik! Die Kaiserin ruht.

Sie spricht: „Den Tanz, Herr, lerntet Ihr gut.

Gewiß, Ihr seid auch kühn im Strauß

und wählt Euch die stärksten Kämpfer aus.

Doch habet Ihr da eine seltsame Tracht,

nicht passend wohl für des Festes Pracht!

Unheimlich wird mir ― seh ich auf Euch.

Beim Himmel! Ihr seht ja dem Henker gleich!“

Die Kaiserin ruft’s, doch mit einem Mal

schreits: „Feuer! Feuer!“ durch den Saal

und hell auflodender Feuerschein

schlägt zu den Bogenfenstern herein.

Da schiebt auseinander der Tänzer Schwall,

da rufen und drängen und drücken sich all’,

im wirren Getümmel, im wilden Gebraus

stürzt alles zur weiten Pforte hinaus.

Sie eilen hinaus ― und jagen zurück

mit Wehgeschrei und entsetztem Blick.

Die Flucht ist versperrt! Die Treppe loht,

auf allen Seiten flammet der Tod.

Rings um die Wände fliehet ihr Lauf,

da seh’n sie ein Pförtlein ― sie sprengen es auf.

Da führen Stufen, gewunden und eng.

Dorthin nun ballt sich das wirre Gedräng.

Wie freudig drückt sich mit Rufen und Schrein

die wogende Menge im Strudel hinein,

zu retten des Lebens köstlichen Schatz,

kämpft jeder ― und ringt um den ersten Platz.

Und wer da fällt ― fort über ihn ―

rasen die anderen achtlos dahin:

Der Ritter über ein zartes Weib,

der Diener über der Fürstin Leib.

Sie sind durch das Pförtlein ― die Halle ist [leer,

Die Flammen erbrausen mehr und mehr.

Und schauerlich tönt im dumpfem Gemisch

der Fall des Gebälk’s, des Feuers Gezisch.

Von unten aber ― im großen Chor

tönt schrecklicher, zeternder Ruf empor:

„Die Kaiserin fehlt! Wo geriet sie hin?

Wer bringt, wer rettet die Kaiserin?“

Der Ruf verhallt ― und oben im Saal

hält schon das Feuer sein köstliches Mahl.

Es leckt an den Wänden ― die Decke birst.

Hoch lodert’s bis auf des Daches First.

— Da plötzlich, dort, wo am hohen Gerüst

die unersättliche Flamme frißt,

erscheint der Ritter im roten Gewand,

im Fluge sich schwingend von Brand zu Brand.

Er schaut hinab in des Saales Grund

― als wär’ mit den Flammen der Rote im Bund.

So steigt er auf glimmenden Balken herab.

Er ist auf dem Boden, er stürzt umher,

der Saal ist öde ― der Raum ist leer.

Doch ― durch den Qualm ― was schimmert so hell?

Er dringt hinein ― er ist zur Stell’.

Da liegt die Kaiserin! Starr und stumm.

An den Stufen der Treppe ― dort sank sie um.

Er hebt sie empor und trägt sie hinein

in des Saales hell lodernden Schein.

Wohin sich wenden? Hier stickiger Dampf,

dort stürzende Trümmer und Flammenkampf.

Er hüllt in den Schleier der Kaiserin Haupt,

kaum hält er sie mehr ― er keucht und schnaubt,

sein Gebein vertrocknet, sein Arm verdorrt,

inmitten der Flammen stürzt er fort.

Besonnenden Geistes ― mit gewagtem Sprung ―

vertrauend der Glieder geübten Schwung ―

entrinnt er, wohl zehnmal verfallen dem Tod,

mit seiner Beute der gräßlichen Not.

In dunkler Halle, gar fern im Palast,

dort legt er sie hin ― die teure Last.

Erschüttert, erregt vom eiligen Lauf

schlägt plötzlich die Augen die Kaiserin auf.

„Bei Gott! So bin ich entgangen der Wut

des rasenden Feuers ― der sausenden Glut?

Und Ihr seid mein Retter, o sprecht edler Mann,

damit ich gebührend Euch danken kann!

Beim Tanze, beim ersten Anblick sogleich

erkannt’ ich den herrlichsten Ritter in Euch.

Nun nennt mir den Namen ― sagt, wer Ihr seid,

versteckt in dem niederen, häßlichen Kleid.“

Sie ruft’s.  ― Doch der Rote erwidert kalt:

„Ich bin ― was ich scheine in Maskengestalt.

Der Niederen Schreck ― der Großen Hohn ―

Der Schelm vom Berge ― des Henkers Sohn“.

 

               3

Der Kaiser sitzt zu Gericht im Saal,

um ihn die Räte, die Hohen all.

Gefesselt führt man vor ihn hin

den kühnen Ritter der Kaiserin.

Der Kaiser spricht: „Unehrlicher Knecht,

Du hast Dich schändlicher Tat erfrecht.

Du hast mit Deiner unreinen Hand

entweiht der Fürstin geheiligten Stand.

Du hast sie umschlungen! Man traf Dich so.

Dess’ wirst Du im Leben nicht wieder froh.

Sagt Räte, was das Gesetz ihm droht“.

Er ruft’s ― und die Räte erwidern: „Den Tod!“

Da richtet der Jüngling sich kühn empor:

„Ihr Herren ― verleiht mir ein gütiges Ohr.

Nicht will ich das Leben, ich suche den Tod.

Er soll mir ja enden Schmach und die Not.

Doch, daß die Schmach mich spannt in ihr Netz,

wem dank’ ich es sonst als Eurem Gesetz?

Nicht Gottes Gesetz ― denn Gott ist die Huld,

nicht meinem Geschlecht ― noch eigener Schuld.

Sagt an! Warum denn, Ritter vom Reich,

unreiner Hände bedienet Ihr Euch?

Ist’s recht, was Ihr richtet und was Ihr kürt

so ist’s auch die Hand, die es vollführt.

Der Henker nicht tötet ― der Richter tut’s,

nur aus der Ferne und schwächeren Mut’s.

Sprecht keinem den Tod in Eurem Gericht,

so bedürft Ihr des Schwert’s und des Henkers nicht.

‚Unehrlicher Knecht’, so schilt man mich.

Ob ich es bin ― Gott ― frag ich Dich!

Was Menschen reden ― mich ficht's nicht an,

ich weiß ― das Rechte hab ich getan.

Ich weiß, Ihr Herren, mein Blut ist rein,

und mag’s auch etwas bitter sein,

so bin ich doch so ehrlich und gut

wie Eure Ritter mit süßem Blut.

Sagt an ― warum von den Edlen all’

sich keiner gestürzt in des Feuers Schwall?

Warum in der Angst der Ritter und Rat

die Kaiserin unter die Füße trat?

Ich sage das nicht zu meinem Lob.

Ich tat’s, weil die Tat mich selbst erhob.

Ich bin im Christentum nicht lau ―

hätt’s auch getan für die Bauersfrau.

Es ist wahr: Kein and’rer hat es gewagt.

Und hätte auch ich für mein Leben gezagt,

so läge der Kais’rin geheiligter Leib

zu Asche gebrannt wie ein anderes Weib.

Ich tat’s von innerem Drang erfüllt

und ― weil mir solch’ Leben nichts gilt.

Ich sagte genug! Tut, was Euch erlaubt

nach Eurem Gesetz! Hier ist mein Haupt!

Viel lieber leg ich’s zum Tode hin, ―

beim Himmel! als daß ich geboren bin.

Doch, daß nichts fehle zu Eurem Werk,

so sendet hinauf zum ‚Schelm vom Berg’.

Entbietet den Vater ― und begehrt ―

daß er richte den Sohn mit seinem Schwert.“ ―

„Das war zuviel ― Du trotz’ger Gesell!“

Erwidert der Kaiser und Tränen hell

aus seinen Augen fließen herab.

„Das war des bitteren Trotzes zuviel.

Doch wahrlich ― er fehlte nicht sein Ziel.

Knie nieder ― Jüngling, erwarte still

das Urteil, das ich Dir sprechen will!“

Der Jüngling kniet ― der Kaiser spricht:

„Den Tod gefordert hat mein Gericht,

doch, ändern will ich des Richters Schluß,

statt Tod geb’ ich Dir Lebensgenuß.

Ich löse Dich aus der Knechtschaft Bann.

Steh auf ― als Ritter und freier Mann!

Denn, wer so handelt und so denkt,

dem hat der Himmel den Adel geschenkt.“

Beiseite ― verborgen die Kaiserin stand,

sie hielt einen Beutel mit Gold in der Hand.

Doch als sie gehört des Jünglings Wort,

da legte das Geld sie still wieder fort.

Jetzt tritt sie eiligst zu ihm heran,

den Ring vom Finger steckt sie ihm an.

„Dies trage mein Retter! Ja, trag’ es im Glück,

vergiß, versenke Dein früher’ Geschick!“

Der Jüngling taumelt in süßer Lust,

der Kaiser drückt ihn an seine Brust:

„Dein Vater ist frei! Und Dein Geschlecht

erhält eine Burg nach Kaiserrecht.

Und wage es keiner, ― bei meinem Zorn!

den Strom zu mahnen an seinen Born.

Geehrt soll steh’n an des Kaisers Thron

der Schelm vom Berge ― des Henkers Sohn!“

 

Am 16. September 1882 begann meine Schulzeit in der Rudolfschule beim Lehrer Ambros Teubner. Ich hatte mit Schreiben und Zeichnen in den ersten Jahren große Schwierigkeiten. Im Sommer 1885 durfte ich meine Eltern zur Gewerbeausstellung nach Görlitz begleiten. Ich erinnere mich noch heute an die unterirdische Eisenbahn, das Panoptikum mit der Schreckenskammer und die Gondelfahrt zur Schützeninsel.

Schon früher war der Vater einmal an Lungenentzündung erkrankt. Danach wurde er nicht mehr recht gesund. Im Jahre 1886 wurde es wieder schlimmer und wir fuhren mit der Prager Tante Anna, die zu Besuch bei uns war, auf vierzehn Tage nach Bad Liebwerda zur Erholung. Leider trat keine nennenswerte Besserung ein. Auch mein jüngerer Bruder Adolf war seit seiner frühesten Kindheit immer kränklich. Er starb dann am 28. März 1887, in seinem sechsten Lebensjahre, und sein Tod nahm auch meinen Vater sehr mit. Er war dann fast zwei Jahre ununterbrochen ans Krankenbett gefesselt. Die Mutter hatte mit dem großen Geschäfte besonders im Sommer viel Arbeit und Sorgen. So war es kein Wunder, daß auch sie ihre Gesundheit dabei einbüßte.

Im Herbst desselben Jahres (1887) fuhr ich nach Dĕtenitz bei Libáň[2] und kam zum Schaffner Josef Soukal auf den dortigen Maierhof, um die tschechische Sprache zu erlernen. Ich hatte mich bald an meine neue Heimat gewöhnt. In der ersten Zeit hatten wir alles, was die Landwirtschaft erzeugt, im Überflusse. Nach wenigen Wochen jedoch brach unter den Rindern eine Seuche aus, und sie mußten alle geschlachtet werden. Es waren wohl mehr als 60 Kühe. Wir hatten dann die ganze Zeit hindurch keine Butter mehr, kein Fleisch, und nur etwas Ziegenmilch von der Ziege der Großmutter. Ich habe davon aber nichts heimgeschrieben, so daß die Mutter keine Ahnung davon hatte, wie kümmerlich wir lebten. Zu allem Unglück brachen dann im Frühjahre noch die Blattern [Pocken] aus, und die Schule mußte geschlossen werden. Auch mit dem Vater war es in der letzten Zeit immer schlimmer geworden, und so schrieb mir die Mutter, ich sollte auf einige Tage nach Hause kommen. Von bangen Ahnungen erfüllt, kam ich am 24. April wieder in die geliebte Heimat. Das Wiedersehen mit meinem armen Vater werde ich nie vergessen. Die lange Krankheit hatte ihn so verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Er konnte kaum mehr sprechen.

Ich sehe ihn noch in seinem Lehnstuhl sitzen, wie er uns alle gesegnet hat, ich höre noch seine Mahnung, die Mutter zu unterstützen und den Geschwistern zu helfen. Am 1. Mai 1888 hat ihn Gott der Herr zu sich genommen. Er hätte gerne noch einige Jahre gelebt, weil wir vier Kinder noch alle unmündig waren. Versehen mit dem hl. Sterbesakramente, starb er um ½ 11 Uhr abends, in seinem 44. Lebensjahre.

In tiefer Armut aufgewachsen, durch sein langwieriges Augenleiden am Schulbesuche verhindert, hat er sich durch Fleiß und unermüdliche Arbeit durchgerungen zu einem bescheidenen Wohlstande. Es war ein Leben voll Kummer und Sorgen, Leiden und Mühsalen, die er geduldig trug. Sein Grabstein erhielt die Inschrift:

 

Ach, zu früh bist Du geschieden,

Und umsonst war unser Fleh’n.

Ruhe sanft in Gottes Frieden,

Bis wir uns einst wiederseh’n.

 

Wenige Tage später kehrte ich ins Tschechische zurück. Dort hatten inzwischern die Blattern viele Opfer gefordert. Auch der kleine Sohn meines Kostgebers war kurz vorher gestorben. Die Mutter zeigte mir den schrecklich aussehenden kleinen Körper, der über und über mit schwarzen Blattern bedeckt war. Mich überlief dabei ein Schauer, und ich erkrankte wenige Tage darauf selbst an Blattern.

Das Fieber ergriff mich derartig, daß ich zwei Tage fast ununterbrochen schlief. Ich konnte kein Auge öffnen. Dennoch bat ich immer wieder, der Mutter nichts davon zu schreiben, da sie erst kurz zuvor durch den Tod des Vaters so viel Leid erfahren hatte. Ich wollte es allein durchkämpfen, und es ist mir auch gelungen. Was ich damals als zwölfjähriges Kind empfunden habe, allein unter fremden Leuten, fern von der Mutter und der Heimat, durch eine solche Krankheit in Todesgefahr; das läßt sich wohl nicht leicht schildern. Das alte Sprichwort: „Not lehrt beten“, habe ich damals an mir selbst reichlich erproben können.

Durch die aufopfernde Pflege der tschechischen Mutter ist fast nichts zurückgeblieben. Während die Schule wegen der Blatternepidemie geschlossen war, wurde am Maierhofe Raps geackert. Wir Jungen durften uns als Fuhrleute dazu melden. Wir verdienten täglich 20 Kreuzer[3] und fielen abends todmüde ins Bett. Aber ich konnte von dem selbstverdienten Gelde anderen eine kleine Weihnachtsfreude machen: Der Mutter schickte ich einen Hasen und meinen Geschwistern etwas Spielzeug.

Am Ende des Schuljahres holte mich meine Schwester Anna ab. Daheim machte ich mich in den Ferien im Geschäfte ein wenig nützlich. Dadurch verpaßten wir die Anmeldung in die Bürgerschule. So kam ich trotz meines guten Zeugnisses noch einmal in die fünfte Klasse und hatte dadurch zwei Jahre verloren.

Ich hatte übrigens schon zwei Jahre lang Klavierunterricht gehabt; die Musik war aber im Tschechischen vernachlässigt worden. Ostern 1887 ging ich zur ersten hl. Communion und am 22. Juni 1898 wurde ich vom hochwürdigen Herrn Bischof Schöbel gefirmt. Firmpate war mein Cousin Alois und ich erhielt auch dessen Namen.

Schon frühzeitig machte ich mich im Gastbetriebe nützlich, und es war mein Stolz, wenn ich in den Ferien im Schankraum allein war und den Kellnern die verlangten Getränke fertigmachen konnte. Dafür bekam ich alle Tage 20 Kreuzer, die aber regelmäßig in die Sparkasse kamen.

Schon während meiner Volksschulzeit hatte ich wahrgenommen, daß sich mein Augenlicht immer mehr verschlechterte. Erst die schlechten Noten im Schreiben und Zeichnen haben meine Lehrer darauf aufmerksam gemacht, daß ich die Zeile nicht mehr sehe. Wie viel Leid hat mir das gebracht, weil es lange Zeit hindurch als Unaufmerksamkeit ausgelegt und entsprechend eingeordnet wurde! In den letzten Jahren war ich dann vom Schönschreiben und Zeichnen enthoben. Der Augenarzt tröstete mich damit, daß es durch eine spätere Operation besser würde.

Lehr -  und  Wanderjahre  (1890-1901)

 

Mein Wunsch, studieren zu dürfen, wurde durch meine Sehschwäche leider vereitelt. Nach beendigter Schulzeit riet mir Augenarzt Dr. Bayer, ich solle am besten Gärtner werden, weil das Grün der Pflanzen meinen Augen gut tun werde. Da ich inzwischen 14 Jahre alt geworden war, wollte ich keinen Tag länger versäumen, war am 28. Mai 1890 zum letzten Male in der Schule und trat am 1. Juni beim damaligen Schloßgärtner Adolf Töpfer in die Lehre.

Meine Enttäuschung war groß, als ich erfuhr, daß die Arbeitszeit von 5 Uhr früh bis 8 Uhr abends dauert. Der Fronleichnamstag war mein erster Dienst-Tag, und als es um ¾ 8 Uhr abends noch immer keinen Feierabend gab, mischten sich meine Tränen mit dem Gießwasser, das ich den Gehilfen zutragen mußte. Zu Hause habe ich aber mit keinem Worte darüber geklagt, obwohl mir auch die beiden anderen Lehrlinge das Leben reichlich sauer machten. Der damalige Obergärtner Emil Kubach, ein Reichsdeutscher, und die Gehilfen Schönbeck, Schuster und Herbig waren allerdings tüchtige Leute, von denen ich viel gelernt habe.

Wir hatten nur am Sonntagnachmittage frei. Jeden zweiten Sonntag war den ganzen Tag Dienst. Ganz freie Tage gab es nur drei im Jahre an den höheren Feiertagen. Im Frühjahre mußten wir oft auch auf den halben freien Tag verzichten. Ich erinnere mich, daß ich einmal sieben Sonntage hintereinander den ganzen Tag dableiben mußte.

Da war natürlich an kein Lernen zu denken. Fortbildungsschule gab es noch keine, und zu einer theoretischen Weiterbildung war im Betriebe weder Zeit noch Gelegenheit. Ich fiel abends oft wie tot ins Bett, besonders in der ersten Zeit, weil ich so schwere Arbeiten ja nicht gewohnt und zudem körperlich schwach war. Die schweren Wasserkannen konnte ich zuerst kaum heben. Die anderen freuten sich noch darüber, wenn ich mich recht plagen mußte! Der ganze Dünger mußte im Frühjahr und Herbst zu den Mistbeeten getragen werden und dann wieder hinaus, über eine Anzahl Stufen.

Mit der Migräne der Mutter wurde es immer ärger. Sie mußte sich oft an den betriebsamsten Geschäftstagen niederlegen. Wegen schlechten Sommerwetters hatten wir außerdem in den letzten Jahren große Einbußen erlitten. Die Mutter konnte in der Küche und im Garten nicht alles übersehen. Deshalb übergab sie den Betrieb am 1. Jänner 1891 unserem langjährigen Oberkellner Karl Meininger. Er übernahm auch das ganze Geschirr und Mobiliar, und wir zogen in die neuerbaute Villa des Herrn Anton Simon, Kaiser-Josef-Straße 38a, rechts vor dem Eingang in den Stadtpark.

Im August 1891 besuchte ich die Tante in Prag. Bei dieser Gelegenheit war ich auch in der großen Landesausstellung. Ich erinnere mich besonders an das Denkmalmodell meines Großonkels, des Forstmanns Ressel.[4] Ich bewunderte sehr die erste elektrische Bahn, die von der Ausstellung bis auf den Laurenziberg verkehrte.

Zu dieser Zeit war ich in Berzdorf[5] Pate beim Onkel Robert. Der ungewohnte Schnaps in allen Farben, den ich anstandshalber nicht zurückweisen wollte, verursachte mir allerdings am folgenden Tage derartige Leibschmerzen, daß ich mich im vollen Sinne des Wortes im Garten herumwälzte. Diese Taufe werde ich nicht vergessen!

Am 1. Juni 1892 hatte ich meine Lehrzeit beendet und bezog die obere Gärtnerei. Ich war nun ganz selbständig, bekam noch einen Lehrling dazu, und hatte Cyclamen[6], Englische und andere heikle Pflanzen zu betreuen. In der ersten Zeit als Gehilfe bekam ich wöchentlich 3 fl.[7] Lohn, zweimal Kaffee und ein Mittagessen. Dafür mußte ich täglich 14 Stunden arbeiten.

Im November 1892 gründete ich mit einigen Freunden eine Tischgesellschaft. Wir nannten sie „Fidelio“. Sie blühte rasch empor und am 1. März 1893 konnten wir im Vereinsheim „Jägerhorn“ bereits unseren ersten Unterhaltungsabend veranstalten. Als Sangwart und Obmannstellvertreter hatte ich dadurch für die wenigen freien Stunden ein reiches Arbeitsfeld gefunden.

Herr Töpfer verschaffte mir in Hermannstadt in Siebenbürgen einen Herrschaftsposten als zweiter Gehilfe. Ich wollte aber nicht so weit fort, solange es mit meinen Augen nicht besser ging. Es konnte ja nur eine Operation helfen, für die es aber noch zu früh war. Ich bemühte mich daraufhin in Dresden um einen Posten. Ich trat also nach einer kleinen Auseinandersetzung am 15. Dezember 1893 bei Töpfer aus, und konnte am 19. März 1894 bei Robert Weisbach in Dresden-Striesen eintreten.

Wir waren 16 Gehilfen im Betriebe, und ich war der Jüngste. Der Obergärtner Wanatz war ein gemütlicher Sachse. Wir arbeiteten von ½ 6 Uhr früh bis ½ 8 Uhr abends und hatten jeden zweiten Sonntag von 8 Uhr früh an frei. So hatte ich reichlich Zeit, die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besuchen und zu bewundern. Die schönste Erinnerung ist mir die Aufführung des „Freischütz“ in der Hofoper. Ich besuchte auch Schandau, die sächsische und böhmische Schweiz, Edmundsklamm und den Porsberg. In Dresden kam ich zum erstenmal mit dem Katholischen Gesellenverein in Berührung. Ich habe ihm seitdem die Treue bewahrt. Während meiner Wanderjahre habe ich in dieser Gemeinschaft eine zweite Heimat gefunden.

Mein Sehvermögen allerdings verringerte sich immer mehr. In der Gärtnerei wurde ich aus diesem Grunde von den besseren und verantwortlichen Arbeiten immer mehr enthoben, was mich oft recht bitter schmerzte. Schon als ich in die Fremde zog, hatte ich mir einen regelrechten Reiseplan zurechgelegt: Ich wollte ein Jahr in Dresden bleiben, ein Jahr in Bonn bei der Firma Schnurrbusch arbeiten; dann ein Jahr nach Hamburg, um das Meer zu sehen und die dortigen großen Gartenbaubetriebe kennenzulernen. Dann wollte ich noch ein Jahr nach Wien und mich schließlich in Reichenberg selbständig machen. Mit diesem festen Willen hatte ich meine Heimat verlassen. Ich wollte nur recht viel lernen und Kenntnisse sammeln, um sie dann daheim verwerten zu können. Nun mußte ich leider erkennen, daß der beste Wille und ein fester Vorsatz nichts vermögen, wenn die Gesundheit fehlt. Ich habe manchen schweren Kampf durchgemacht, bevor ich mich zu der notwendigen Augenoperation entschließen konnte.

Ich hatte damals 11 Mark Wochenlohn und die Wohnung. Trotzdem ich viele Ausflüge unternommen und viel gesehen habe, hatte ich mir doch noch 60 Mark erspart. Das Mißtrauen, das man mir bei den gärtnerischen Arbeiten entgegenbrachte, kränkte mich jedoch ungemein, und so entschloß ich mich zur notwendigen Augenoperation. Ich fuhr zunächst nach Prag. Dort untersuchte mich Professor Mitwalsky. Er gab mir die Versicherung, daß ich wieder das vollständige Augenlicht erhalten werde.

Am 1. Oktober 1894 kam ich also unfreiwillig wieder in meine Heimat zurück. Die eigentliche Ursache dafür dämpfte allerdings die Freude des Wiedersehens. Am 10. Oktober ließ ich mich, schweren Herzens, doch voller Zuversicht, ins Krankenhaus aufnehmen. Der Erfolg des Eingriffs sollte ja über mein ferneres Leben entscheiden. Zum zweiten Mal in meinem Leben kam mir hier die Erkenntnis, daß der Mensch aus eigener Kraft nichts vermag. Wie innig bat ich daher den lieben Gott um ein volles Gelingen der Operation. Am 11. Oktober operierte Dr. Bayer gegen neun Uhr früh zunächst das rechte Auge. Der sogenannte Schichtstar ist angeboren. Es handelt sich nur um eine Trübung der Linse. Der Star wird gestochen und die milchartige Masse der getrübten Linse soll sich dann auf der Pupille sammeln und reinigen. Nach der Operation wurden mir beide Augen verbunden. Ich verblieb im Bett bis zum nächsten Tage nachmittag. Ich durfte mich nicht bewegen und wurde sogar im Liegen gefüttert.

Nach zwei Tagen kam ich wieder in mein Zimmer zurück. Nun allerdings entzündete sich das Auge und ich mußte volle sechs Wochen einen Eisbeutel daran tragen. Inzwischen hatte ich mich in der Augenklinik eingewöhnt. Zu Kirchweih tanzte ich sogar in der Küche, und als mich der Herr Doktor am 21. November nach Hause schickte, war es mir eigentlich nicht recht. Bei der Nachuntersuchung zeigte sich jedoch, daß die Operation nicht gut ausgefallen war. Es mußte erneut ein Eingriff vorgenommen werden.

Dies geschah am 4. Jänner 1895. Diesmal war es nicht so einfach, und ich mußte drei Tage lang mit verbundenen Augen im Operationszimmer liegenbleiben. Als dann der Verband entfernt wurde, konnte ich schön und hell sehen. Langeweile war mir fremd. Ich versorgte den Schwestern, die im Krankenhaus Dienst taten, die Blumen, besuchte die Operierten und machte mich im Hause nützlich.

Am 20. Feber 1895 wurde dann die Operation des linken Auges vorgenommen, verursachte aber nach wenigen Tagen eine derartige Entzündung, daß ich volle fünf Wochen lang den Eisbeutel am Auge tragen mußte. Die Entzündung wollte einfach nicht weichen. Die Hornhaut war feuerrot und die Pupille ganz weiß. Jede Stunde, Tag und Nacht, tropfte mir die Doktorschwester Udalrika, eine Borromäerin, eine Linderung ins Auge. Diesmal mußte ich sieben Wochen in der Augenheilanstalt zubringen. Am 9. April 1895 übersiedelte ich wieder in die mütterliche Wohnung.

Nie vergessen werde ich den Augenblick, in dem ich zum ersten Male die Augengläser probieren durfte. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß der Mensch überhaupt so hell, so weit und so ungemein scharf zu sehen vermag. Viele Tage lang kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Ich wunderte mich über die leuchtenden Farben der Blumen, das bunte Gefieder der Vögel, aber auch über die vielen Runzeln in den Gesichtern älterer Menschen.

Diese Herrlichkeit dauerte leider nur kurze Zeit. Nach und nach kam mir die Erkenntnis, daß die Sehkraft der Augen wieder nachließ. Dies war ein neuer schwerer Schlag für mich. Sobald es der Zustand meiner Augen zuließ, arbeitete ich aber wieder bei Töpfer. Damals kam ich das erste Mal nach Gabel zu einem dreitägigen Besuche. Im Juni 1895 war ich noch einmal in Prag, diesmal für acht Tage. Hier fand gerade eine slavisch-ethnographische Ausstellung statt. Es gab viel Sehenswertes aus der Vergangenheit des tschechischen Volkes zu bewundern. Man hatte ein ganzes Dorf, sowie Altprag im Kleinen nachgebildet. Trachten und Gerätschaften der slavischen Völker waren ausgestellt.

Auch die „Fidelio“-Freunde ließen mir keine Ruhe. Ich mußte an ihren Veranstaltungen wieder teilnehmen, obwohl die zunehmende Verschlechterung meines Augenlichtes keine rechte Freude aufkommen ließ. Als ich Dr. Bayer mein Leid klagte und ihn frug, ob sich durch eine neuerliche Operation eine Besserung ermöglichen ließe, gab er mir zur Antwort, er könne sich nicht immer mit mir beschäftigen. Soviel ich zu meinem Berufe brauche, werde ich schon sehen. Ich solle nur in Stellung gehen und nach einem Jahre noch einmal anfragen. Das war ein schlechter Trost nach den trüben Erfahrungen in Dresden. Als ich Mitte September 1895 von einer freien Stelle bei Adolf Mühle in Brünn erfuhr und eine Zusage erhielt, bin ich am 19. September dorthin gefahren. Ich konnte kaum mehr lesen und schreiben, und meine Sehkraft war geringer als vor den drei Operationen. Wie bemühte ich mich, meine Arbeit mustergiltig [mustergültig] zu verrichten! Mir war keine Arbeit zu viel oder zu schwer, keine Arbeitszeit zu lang. Wie dankte ich Gott alle Tage, daß ich bleiben durfte und daß ich kein Wort des Tadels oder des Mißtrauens zu hören bekam! Wie wohl mir das tat und wie froh und glücklich ich darüber war, kann wohl niemand ermessen.

Wir hatten zehn Gewächshäuser, die dazu notwendigen Mistbeete, in Altbrünn außerdem einen Weinberg und ausgedehnte Freilandkulturen. Kultiviert wurden Cyclamen, Primeln, Chrysanthemum, Myosotis[8], Palmen, Remontantnelken[9] und Schnittblumen. In der Gärtnerei waren vier Gehilfen. Das Bindegeschäft – das vornehmste der Stadt – beschäftigte drei Binderinnen und zwei Lehrmädchen. Wir hatten drei Sonntage in jedem Monat frei, und so konnte ich wenigstens wieder der Sonntagspflicht nachkommen. Gesellige Stunden verbrachte ich im Gesellenverein, der utraquistisch, also zweisprachig war, und diesen Grundsatz in allem festhielt.

Da es inzwischen mit meinen Augen immer schlechter wurde, fuhr ich am 2. November 1895 nach Prag zur Untersuchung und bekam vom Herrn Professor den Beischeid, daß ich mich jederzeit einer neuerlichen Operation unterziehen könnte.

Schlimm war es mit dem Heizen bestellt. Wir hatten drei unzeitige Gliederkessel zu bedienen. Die Gewächshäuser hatten nur einfaches Glas und wurden nicht gedeckt. Da mußte bei strenger Kälte die ganze Nacht geheizt werden, und wir mußten alle zwei Stunden nachlegen. Wer da eine kalte Woche erwischte – und das Glück hatte gewöhnlich ich –, der kam in der Heizwoche recht wenig ins Bett und war froh, wenn sie zu Ende war. Ich hatte gerade die bitterkalte Weihnachtswoche erwischt und bin die ganze Zeit fast nicht aus den Kleidern gekommen. Außer dem Nachtmahl und einem bescheidenen Christstollen gab es im Betriebe keinerlei Geschenke. Wir sahen keinen Weihnachtsbaum, und so bin ich um Mitternacht, ohne mich umziehen zu können, wenigstens zur Christmette in den Dom gegangen, um doch wenigstens zu wissen, daß Weihnachten ist. Die beiden Feiertage hatte ich dann allein strammen Dienst. Nachher war ich so abgespannt und durch den Zustand meiner Augen so entmutigt, daß ich Herrn Mühle bat, Mitte Jänner zur Operation nach Prag fahren zu dürfen.

Ich bin dann am 15. Jänner 1896 – ich kann wohl sagen, freudigen Herzens nach Prag gefahren. Hatte ich doch wieder Hoffnung, gesund zu werden. Bereits am 17. Jänner wurde das rechte Auge in der Privatklinik des Herrn Professor Mitwalsky operiert. Tagsüber blieb ich dort im Bett, und abends holte mich die Tante mit einem Wagen nach Hause. Darüber war ich sehr erstaunt, da ich in Reichenberg gewöhnlich 48 Stunden auf einer Stelle liegen mußte. Am zweiten Tage wurde beim Arzt der Verband gewechselt, und das Auge war in bester Ordnung. Am nächsten Tage fühlte ich im operierten Auge einen ganz eigentümlichen Schmerz. In der Nacht wurde es noch schlimmer, und als ich am nächsten Tage zum Arzt kam, wollte er die Binde gar nicht wegnehmen. Ich bekam ein richtiges Donnerwetter zu hören, weil ich zu früh gekommen war und das Auge nicht erschüttert werden sollte. Ich ließ mich aber nicht abweisen und bestand darauf, den Verband zu öffnen. Auf meine Verantwortung hin tat er es dann endlich. Da zeigte sich, daß das Auge in der Nacht steinhart geworden und vollständig erblindet war. Der Professor erklärte meiner Tante, daß er sofort zu einer nochmaligen Operation schreiten müsse. Ich erhielt Medikamente und Tropfen, die bei mir allerdings Schwindel, Kopfweh, Erbrechen und einen Schwächeanfall auslösten, so daß ich nicht mehr gehen konnte. Man hat mich dann zum Operationstisch getragen.

Dies war ein sehr schmerzhafter Eingriff. Die einzelnen Teile der zurückgebliebenen leeren Hülle der Augenlinse wurden entfernt. Doch gleich danach ließ der wahnsinnige Schmerz nach und die Sehkraft kehrte wieder zurück. Wegen der ungewöhnlichen Blutwallung, die durch die Medikamente hervorgerufen worden war, hatte der Augennerv seine normale Tätigkeit wiedererlangt.

Wie tot wurde ich zu Bett gebracht und mußte nun vier Tage ganz ruhig liegen, bis ich außer Gefahr war. Dann kam der Herr Professor. Er tanze geradezu vor Freude um meine Bett, daß es so gut gelungen war. Er sagte dann: „Sie müssen einen besonderen Schutzengel haben. Wären Sie 24 Stunden später gekommen, wäre das Auge verloren gewesen!“ Acht Tage später wurde nun das linke Auge operiert. Dies war die sechste Operation, und ich hoffe, daß nun endgiltig [endgültig] Schluß damit ist. Am Faschingsdienstag kam ich dann nach Hause. Nach 14 Tagen durfte ich schon wieder die Brille tragen.

Ich sandte ein Stellengesuch an die Wiener Gartenbörse und erhielt fünf Zuschriften. Ich entschied mich für Gmunden, da sich die dortige Firma als „Die größte Nelken- und Rosenkultur Österreich-Ungarns“ bezeichnete. Am 30. März 1896 fuhr ich dorthin. Welchen Schreck bekam ich aber, als ich ankam! Ich überlegte erst lange Zeit, ob ich überhaupt hineingehen sollte. Zwei halbzerfallene Bretterbuden, nicht aufgedeckt, verfaulte leere Mistbeete ohne Fenster und ein armseliges Wohnhäuschen, das überall reparaturbedürftig war! Dies war eine der größten Enttäuschungen in meinem Leben. Dann aber erinnerte ich mich an das herrliche Salzkammergut, auf das ich mich so unbändig gefreut hatte, und so mußte ich wohl oder übel bleiben. In den ersten 14 Tagen, so lange man draußen nichts beginnen konnte, wußte ich nicht, wie ich die Zeit totschlagen sollte, da in den beiden Häusern außer einigen Überwinterungspflanzen absolut nichts zu kultivieren war. Einen so armseligen Betrieb hatte ich noch gar nicht zu Gesicht bekommen!

Dann bekam ich einen Leidensgefährten aus Ungarn, der ebenfalls der unlauteren Reklame auf den Leim gegangen war. Die weite Reise hatte ihn viel Geld gekostet. Er war ganz sprachlos vor Enttäuschung, als er bei uns einzog. Wir wurden bald unzertrennlich. Theodor Holuscha war ein gebürtiger Troppauer[10], ein tüchtiger und strebsamer Gärtner. Es zeigte sich bald, daß er mehr Erfahrung und Kenntnisse besaß als unser Chef.

Im Sommer war unsere Hauptbeschäftigung das Jäten am Gemüsefelde. Damit die Sache etwas Abwechslung bekam, lernten wir dabei lustige Sachen und komische Vorträge, die ich noch vom „Fidelio“ in Erinnerung hatte. Im Gesellenverein mußte ich die Leitung der Sängerriege übernehmen. Durch mein Klavierspiel und die heiteren Vorträge waren wir schnell beliebt geworden und mußten bei allem mittun.

Das Wichtigste aber waren die Ausflüge: Gondelfahrten über den Traunsee nach Steinhaus, Ebenzweier oder Ebensee, zum Schloß Orth [Ort] im Traunsee, zur Villa des Herzogs von Württenberg und zum Schloß des Königs von Hannover. Wir sahen auch den Traunfall und Traunkirchen. In der Wunderburg gab es alle Sonntage „Ballmusik“ bei einer Ziehharmonika. Wir haben so manchen Ländler „gedraht“ mit den hübschen und auch weniger schönen Salzkammergutdirnderln.

Leider wurden die Verhältnisse in der Gärtnerei immer unhaltbarer. Als uns Herr Hollweck eines Tages zumutete, in der benachbarten Villa einen gewissen Ort zu entleeren, kam es zum Bruche und wir kündigten bei ihm. Ich hatte an Herrn Mühle nach Brünn geschrieben und ihn ersucht, ob wir nicht beide bei ihm unterkommen könnten. Er erwiderte, daß ich zu jeder Zeit bei ihm hochwillkommen sei. Wir müßten nur so lange aushalten, bis Posten für uns frei wären.

Wir machten uns also am 10. August 1896 auf und wanderten zu Fuß los, fuhren aber auch einige Strecken mit der Bahn. Unterwegs übernachteten wir in den Gesellenhäusern. Es war damals ein ganz eigenes Gefühl, wenn man zum ersten Mal in die sangesfrohe und musikliebende Reichshaupt- und Residenzstadt Wien kam. Die alte Kaiserstadt übte auf alle Österreicher einen unwiderstehlichen Zauber aus. Leider hatte ich diesmal nur wenige Stunden Zeit.

Am 17. August 1896 waren wir dann in Brünn. Herr und Frau Mühle begrüßten uns recht freundlich. Meine drei neuen Kollegen aber waren liederliche und leichsinnige Kumpane. Nach 14 Tagen bekam einer von ihnen den Laufpaß, und Freund Theo rückte an seine Stelle. Kurze Zeit danach veränderte sich auch der erste Gehilfe, und nun kam ich an seine Stelle. Der Dritte, ein Ungar, hatte Uhr, Mantel und alles Wertvolle versetzt, besaß kein reines Hemd und war ganz verbummelt. Es kostete Mühe, ehe er zur Vernunft kam und sich unseren Anordnungen fügte.

Im Gesellenverein wurde ein frohes Wiedersehen gefeiert. Im Verein wurde fleißig Theater gespielt, deutsch und tschechisch. Hier sah ich zum erten Mal „Lebende Bilder“, den Vorläufer des heutigen Kinos. Als der christliche Jugendbund „Habsburg“ gegründet wurde, sind alle Gehilfen unseres Betriebes ihm beigetreten. Um diese Zeit nahm die Deutsche Christlich-Soziale Partei auch in Brünn einen großen Aufschwung, und wir besuchten regelmäßig deren Versammlungen. Hier sprachen die damals bekannten Abgeordneten Steiner, Bielohlawek und Prochaska.

Im Winter besuchten wir den ersten Tanzkurs und lernten dabei die Quadrille und den Tanz „Beseda“[11]. Zum Kränzchen des Gesellenvereins mußten wir in schwarzer Kleidung erscheinen und durften mit den Töchtern unserer adligen Schutzmitglieder, Baronessen und Komtessen, dreimal um den Saal tanzen, dann mußten wir die Dame wechseln.

Sonntags besuchte ich einen Kurs für Buchführung und gewerbliches Rechnen. Meine leider recht mangelhafte Schulbildung habe ich durch Selbststudium so gut wie möglich ergänzt. Ich hatte damals monatlich 30 fl. Lohn. Mit Herrn Mühle sprach ich gelegentlich über meine Zukunft. Er empfahl mir Herrn Bernhart in Leitmeritz, der ihm geschrieben hatte, ob er nicht einen tüchtigen ersten Gehilfen für ihn wüßte. Er würde mich zwar nur ungern fortlassen, war aber der Meinung, daß es für meine fernere Laufbahn von Nutzen sein könnte, wenn ich mich um diesen Posten bewerbe.

Als ich mich in Leitmeritz vorstellte, bekam ich weder die Gärtnerei noch die Gesellenwohnung zu Gesicht. Der Abschied vom Gesellenverein in Brünn war bewegend, Freund Theo standen die Tränen in den Augen. Am 16. März 1897 reiste ich ab. Es wurde bereits dunkel, als ich in Leitmeritz meinen Einzug hielt. Das war eine Gehilfenwohnung! Das Mobiliar bestand aus einem kleinen Kleiderschrank, einem Tisch, zwei Bänken, vier zerbrochenen Stühlen, vier Betten, einer Pritsche für fünf Personen, einer zerschlagenen Lampe und einem zerbrochenen Waschbecken. In der Ecke stand ein alter Ofen, aber die tschechischen Gehilfen – sie sprachen kaum deutsch – sagten mir, daß sie ihn nicht heizen dürften. Das Erste, was ich anschaffte, noch bevor ich an einen Bissen Brot dachte, war eine Lampe. Wir mußten oft von ½ 5 Uhr früh bis 9 Uhr abends arbeiten. Es gab weder eine Mittagstunde noch Frühstück- oder Vesperzeit. Der Chef wollte es nicht einmal dulden, daß sich jemand ein Stück Brod [Brot] holte und es bei der Arbeit verzehrte. Er war ein ganz eigener, absonderlicher Mensch, sehr launenhaft, genau und ungemein sparsam.

Alle meine Versuche, die Arbeitsverhältnisse der Gehilfen zu verbessern und den Schlafraum wohnlicher zu gestalten, scheiterten an dem Starrsinn des Besitzers. Seine ständige Erwiderung war: „Es hat keinen Zweck“, oder: „Es wird doch alles ruiniert!“ Daß ich mich unter solchen Verhältnissen nicht wohl fühlen konnte, liegt auf der Hand. Andererseits war es mein erster Posten in einem größeren Betriebe als Obergehilfe, und Herr Bernhart war ein tüchtiger und praktischer Fachmann, von dem ich viel lernen konnte. Deshalb wollte ich doch aushalten, so lange es möglich war. In dieser Zeit mußte ich zur Assentierung[12] nach Turnau[13]. Auf mein Ersuchen hin wurde ich wegen meiner Augen als gänzlich untauglich erklärt.

Als sich die nutzlosen Auseinandersetzungen mit Herrn Bernhart häuften, schrieb ich an die bekannte und geachtete Firma Karl Matznetter in Wien. Auf der Fahrt dorthin hielt ich mich einen Tag in Brünn auf und wurde von zwölf lieben Freunden vom Fidelio schon am Bahnhofe erwartet. Beim Abschiede umhalsten und küßten mich die Schwerenöter[14], daß ich mich ihrer kaum erwehren konnte. So treue, brave und edle Kameraden habe ich nie wieder gefunden!

Am 15. August 1897 trat ich bei Matznetter ein. Die dortigen Kollegen waren lauter ältere und gesetzte Leute, mit denen man recht gut auskommen konnte. Herangezogen wurden Cyclamen, Lilien, Amaryllis[15], Bouwardien, Remontantnelken, Myosotis, Chrysanthemum, Poinsettie[16], Rosentreiberei und besonders viel Schnittgrün. Asparagus[17], Medeola, Adiantum[18] und andere Farne. Wir hatten eine sehr schöne, saubere Wohnung, saubere Betten und eine geregelte Arbeitszeit von 6 Uhr früh bis 7 Uhr abends, mit halbstündiger Frühstücks- und Vesperpause. Ich konnte es anfangs gar nicht fassen, daß so etwas möglich sei in unserem Berufe! Da blieben ja doch abends eine oder gar zwei Stunden Zeit zur Fortbildung, zum Lesen und Schreiben. Ich habe diese Freistunden redlich ausgenutzt.

Aus einer Volksbibliothek wurden Bücher entlehnt, und erst jetzt lernte ich unsere Klassiker und namhaften Schriftsteller kennen und schätzen. Das waren genußreiche Stunden. Ich abonnierte die „Gartenwelt“ und wurde Mitglied im Hietzinger Gärtnerverein. Dort waren zu dieser Zeit der Fürstlich Schwarzenbergische Hofgärtner Bayer, Gartendirektor Umlauf und der jetzige Hofgartendirektor Rottenberger im Vorstande tätig. Das brachte mir beruflich großen Gewinn. Ich setzte mich mit dem damals sehr bekannten Gartendirektor Lange in Verbindung, schilderte ihm meine leidvolle Jugend und die Unmöglichkeit einer gründlichen beruflichen Ausbildung, und bat ihn, mir geeignete Lehrbehelfe zu nennen, um das Versäumte nachholen zu können. Diese Bücher wurden dann angeschafft und ich widmete mich mit Feuereifer dem Studium derselben. Später schrieb ich auch kleine Abhandlungen für die „Gartenwelt“, und auch einen Bericht über die Frühjahrsgartenbauausstellung in Wien, der mir ein ganz hübsches Honorar einbrachte. Im zweiten Jahre befaßte ich mich außerdem noch mit Stenographie und der englischen Sprache, da ich vorhatte, ein Jahr in England zu arbeiten. Der Anfangslohn betrug pro Woche 7 fl. 50 kr. ohne Kost. Dies war ja nicht übermäßig viel, aber es ließ sich damit auskommen.

Ich suchte den Gesellenverein auf, der in der Gumpendorfer Straße ein großes und schön eingerichtetes Vereinshaus besaß. Hier waren alle Nationen der Monarchie zu finden. Auch Zeitungen gab es in allen Sprachen. Während meiner Anwesenheit in Wien habe ich nie etwas von nationalen Zwistigkeiten gehört.

Im Laufe des Winters besuchte ich die meisten Theater. In der Hofoper erlebte ich „Tannhäuser“, „Lohengrin“, „Der Prophet“, „Die Fledermaus“, „Wiener Walzer“ und „Puppenfee“. Im Theater an der Wien „Lumpacius Vagabundus“ mit Hansi Niese und Baronin Biedermann als Handwerksburschen, den italienischen Verwandlungskünstler Fragelli, im Karltheater „Salome“, im Burgtheater „Wallenstein“ und „Die Ahnfrau“, im Raimundtheater „Die Räuber“ mit Lewinski als Karl Moor. Im Sommertheater wurden „Die Landstreicher“ als Neuheit gegeben. Der Wiener Frohsinn kam hier und noch mehr im Praterleben zur vollen Geltung.

Damals gab es noch die alten Wiener Volkssänger mit ihren urwüchsigen Wiener Liedern, echtem Humor, aber auch gemütvollen, ernsten Vorträgen, mit Schrammelmusik, Spiel und Tanz. Die Schlager und der Refrain wurden mitgesungen.

Ein Ereignis erschütterte damals ganz Österreich: Die tote Kaiserin, die in Genf ermordet worden war, hielt in der Nacht ihren Einzug in Wien.[19] In feierlicher, tiefer Stille wurde der Sarg mit der sterblichen Hülle der kaiserlichen Frau und Mutter, die so tiefes Leid erduldet hatte, vom Westbahnhofe abgeholt und durch die mit mächtigen schwarzen Fahnen geschmückte Mariahilfer Straße zur Hofburg gebracht. Nur Militär begleitete den Trauerzug und die Menschenmassen verhielten sich mit ehrfurchtsvollem Schweigen.

Anders der 70. Geburtstag des Kaisers![20] Nie werde ich den Jubel vergessen, der abends bei feenhafter Illumination ganz Wien durchbrauste. Vor dem Tore der Hofburg ein Obelisk der städtischen Gasanstalt mit 40.000 Flammen. Das Rathaus, – alle Konturen des herrlichen Baues waren mit ungezählten elektrischen Lampen umsäumt bis hinauf zur äußersten Spitze des Turmes. Ein riesiger Fesselballon mit der leuchtenden Zahl Siebzig schwebte über der Hofburg. Alle öffentlichen Gebäude, die Paläste der Ringstraße, alles war ein Lichtermeer, wie es Wien wohl noch nie gesehen hatte. Eine festlich gestimmte Menschenmenge wogte bis spät in die Nacht durch die Straßen. Und der Kaiser? Er sah und hörte nichts von dem ganzen Jubel. Er war bei seiner Tochter und seinen Enkeln in Wallsee[21]. Der nationale Hader im Parlamente hatte ihn tief verstimmt. So wollte er nur im engsten Familienkreise still und zurückgezogen diesen Tag verbringen.

Bei einem Ballabend des Katholischen Gesellenvereins in Wien lernte ich meine zukünftige Frau, Johanna Gundacker[22], kennen. In der nächsten Zeit machten wir sonntags gemeinsame Ausflüge. Sie ist dann nach Pern­thon [bei Schönbach] gefahren, weil ihr Vater schwer erkrankt war und später auch gestorben ist.[23] Erst dann kam mir zu Bewußtsein, daß mir etwas fehlte. Im gegenseitigen Briefwechsel wurde der Wunsch geäußert, sie möge doch wieder nach Wien kommen. Dabei schlich sich in mein Herz eine leise Zuneigung ein. Auf ein bescheidenes Anklopfen meinerseits erhielt ich aber nur ausweichende Antworten, bis ich dann auf ein energisches „Entweder – Oder, aber Klarheit und Wahrheit“, doch die erwünschte Zusage bekam, daß es auch auf der anderen Seite nicht ganz „ohne“ sei.

Das genügte mir ja vorläufig, aber ich mußte eine nähere Bekanntschaft doch davon abhängig machen, daß sie noch einmal nach Wien kommt, da wir ja bisher kaum etwas Näheres voneinander wußten. Die ersten Stunden unserer jungen Liebe haben wir in Laxenburg[24] zugebracht. Wir hatten uns ein Boot gemietet, und meine recht eigenartige „Liebeserklärung“, in der ich von den Pflichten des Gärtnerberufes sprach, geschah auf den Fluten des Laxenburger Teiches. Schließlich haben wir uns gefunden. Da brach ein Platzregen über uns herein, der unsere Gemüter abkühlte und uns veranlaßte, ein schützendes Dach aufzusuchen. Ich schrieb bald an die Mutter meiner Auserwählten. Seit dieser Zeit betrachteten wir uns heimlich als Verlobte. In der Folge gab ich meinen Plan auf, in England Stellung anzunehmen, und legte mein englisches Lehrbuch zur Seite. Ich wollte mich nun bemühen, einen Platz ausfindig zu machen, um ein eigenes Geschäft zu gründen.

 

Deutsch-Gabel

 

Herr Baron von Liebieg hatte das Schloß Neufalkenburg bei Deutsch-Gabel gekauft, es innen und außen umgestaltet und den alten, sehr vernachlässigten Park zu einer Sehenswürdigkeit umgestaltet.[25] Mein Freund Theo hatte durch meine Vermittlung bei ihm einen Posten erhalten. Er schrieb mir, daß auch in Gabel endlich einmal neues Leben erwachte. 1901 wurde die Aussig-Teplitzer-Eisenbahn eröffnet. So war Gabel endlich an das Bahnnetz angeschlossen. Elektrisches Licht wurde eingeführt, ein neues Schützenhaus gebaut, das neue Krankenhaus war bereits im Betriebe, dazu Vergrößerung der Fabriken und des Sägewerkes. Theo war der Meinung, daß man hier eine Geschäftsgründung wagen könnte, da der Grundpreis bedeutend niedriger sei als in Reichenberg.

Am 1. April 1901 nahm ich Abschied von Wien. Mein Chef, Herr Matznetter, ließ mich nur ungern weg. Er hatte mir ein recht schönes Zeugnis ausgestellt. Er wußte, daß ich mich selbständig machen wollte und äußerte sich zum Obergärtner Wolf: „Wieder ein Idealist, der mit froher Hoffnung der Zukunft entgegengeht, und der wohl auch wie so viele andere sich vergeblich bemühen wird, auf einen grünen Zweig zu kommen.“

In der Übergangszeit arbeitete ich bei Liebieg in Reichenberg. Sonntags durchstreifte ich die Umgebung, um einen passenden Platz für meine Geschäftsgründung ausfindig zu machen. Ich suchte in Paulsdorf[26], in Harzdorf[27] und Rosenthal[28]. Auch am Kaiserhügel war unterhalb der Tugemannshöhe ein schönes Erbgrundstück zu haben – leider unerschwinglich für mich. Nun fuhr ich nach Gabel. Mein Cousin Alois holte mich vom Bahnhofe ab. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, zeigte auf der linken Seite auf ein umfriedetes Grundstück und sagte beiläufig: „Dieser Grund da drüben wäre vielleicht auch zu haben.“ Mit dem ersten Blicke hatte ich erfaßt, daß dies wohl der schönste und beste Platz wäre für eine Geschäftsgründung in Gabel.

Zufällig kam der Besitzer des Grundstückes vorbei, der Spediteur Wilhelm Demuth. Mein Cousin hielt ihn an und sagte: „Wilhelm, ich hätte einen Käufer für Deinen Grund!“ – „Na, doß sein Sachen“, gab er zur Antwort, „kumm’ Se ock rüber und sahn Se sich die Sache mol o.“ Wir gingen in seine neue Kanzlei gegenüber dem Bahnhofe und dann auf das dazugehörige Grundstück.

Über den Preis und die näheren Kaufbedingungen sollte ich noch mit seinem Vater verhandeln, aber in der Hauptsache waren wir uns in ganz kurzer Zeit einig. So hatte ich in der ersten halben Stunde meines Dortseins meine Geschäftsgründung sichergestellt. Wir einigten uns mit 300 Kr.[29] jährlich bei vorläufiger Pachtung mit Vorkaufsrecht. Auch die freie Zufahrt über seinen eigenen Grund war bereits im Pachtvertrage auch für den Fall eines späteren Kaufes für alle Zeit sichergestellt, ein Umstand, der leider beim Kaufabschlusse dann vom Rechtsanwalt Barton infolge Überhastung verpaßt wurde. Denn der Kauf mußte am gleichen Tage abgeschlossen werden, da der spätere Mitbesitzer des Speditionsgeschäftes Ludwig Holfelder meinen Kauf verhindern wollte. Die Zeit war schon vorgeschritten, ich las den Pachtvertrag deshalb nach der Fertigstellung nicht mehr durch, da er noch am selben Tag vom Gericht beglaubigt werden mußte. Als ich dieses Versäumnis später wahrnahm, war ich sehr ärgerlich darüber und machte den Rechtsanwalt dafür verantwortlich. Es ließ sich an der Sache aber nichts mehr ändern, da Herr Holfelder zu keinerlei Zugeständnissen zu bewegen war.

Aufbau in Gabel (1901-1913)

 

Schon Anfang August 1901 wurde der Pachtvertrag notariell abgeschlossen und Anfang Oktober das erste von mir entworfene hölzerne Gewächshaus vom damaligen Zimmermeister Voit erbaut. Obwohl mein Pachtvertrag erst am 1. Jänner 1902 begann, hatte ich bis dahin nicht nur mein Gewächshaus mit einer vorzüglichen Kanalheizung, sondern auch zwei Mistbeete mit 36 Fenstern und allen dazu notwendigen Deckbrettern fertig.

Am 15. Feber 1902 bin ich dann mit meiner Schwester Emma und unseren wenigen Habseligkeiten nach Gabel übergesiedelt. Zunächst wohnten wir im neu errichteten Hotel Stern beim Herrn Jahn. Zum 1. April meldete ich dann das Gewerbe an. Am 13. Mai kaufte ich vom Maurermeister Posselt eine Baustelle an der Bahnhofstraße, die sich oben an unser Grundstück anschloß.

Ich hatte im Frühjahre zwar zwei Arbeitskräfte eingestellt, doch da die Arbeit nicht bewältigt werden konnte, riet mir meine Mutter: „So heirate doch!“ Da Emma einverstanden war, mußte ich an meine Braut schreiben und sie von dem plötzlichen Entschlusse benachrichtigen. Sie war damals wieder in Wien, und die Sache kam ihr und ihrer Herrschaft ziemlich unerwartet. Sie wollte sich aber ganz unserem Beschlusse einordnen, und so trafen wir alle notwendigen Vorbereitungen zu unserer Hochzeit.

Und nun unser Hochzeitstag![30] In strahlend weißem Kleide hatte ich meine Braut aus ihrem Elternhause abgeholt, nachdem wir von ihrer Mutter den elterlichen Segen empfangen hatten. Ich sehe das schöne, altehrwürdige Gotteshaus mit dem prachtvollen Flügelaltar noch vor mir und gedenke der schlichten, doch so erhebenden Feier. Die Mahnworte des Geistlichen haben sich mir tief eingeprägt. Das Hochzeitsmahl war bei Hofbauer in Schönbach. Er war auch unser Trauzeuge. Bereits um vier Uhr nachmittags brachte uns ein Wagen nach Zwettl zur Bahn. Wie sehr bedauerte man es, daß ich meine Frau so weit fortholte in ein ihnen fremdes Land! Unsere Hochzeitsreise war eine Nachtfahrt von Zwettl über Prag nach Deutsch-Gabel. Zur Ehre des Tages hatte ich Fahrkarten 2. Klasse genommen. So hatten wir ein Abteil für uns allein.

Wir waren mittlerweile zu Herrn Demuth übergesiedelt. Er hatte uns auf seinem Stallgebäude eine Wohnung aufgebaut. Emma hatte uns diese Wohnung sehr hübsch und freundlich eingerichtet. Dort haben wir unsere Flitterwochen verlebt. Bereits am nächsten Morgen nach unserer Ankunft in Gabel standen wir um 6 Uhr früh alle beide im Garten und begannen mit Gottes Hilfe unsere gemeinsame Arbeit.

Binderei[31] gab es damals noch recht wenig. Die Bewohner der Stadt mußten sich ja erst daran gewöhnen, daß solche Sachen jetzt hier zu haben waren. Meine Frau hatte sich schnell eingewöhnt und zeigte viel Geschick und Lust zur Binderei. Im Jahre 1902 hatten wir für 700 Kr. Binderei, bis 1921 erreichte sie mit 53.700 Kr. ihren Höhepunkt und sank dann bis 1934 auf 22.460 Kr.

Bereits im Juli ließ ich von der Firma Höntsch ein Kalthaus aufstellen. Damit war ich aber auch mit meinem Kleingeld zu Ende. Von der Mutter hatte ich 2.000 Kr. erhalten unter der Verpflichtung, für sie und im Notfalle auch für die Geschwister zu sorgen. Von der Prager Tante ebenfalls 2.000 Kr. Etwas über 1.000 Kr. hatte ich aus eigenen Ersparnissen. Bis Mitte August des ersten Betriebsjahres war aber alles verausgabt und schon im September mußte ich mir von der Mutter Geld ausborgen.

Am 22. März 1903 wurde meine Frau von einem strammen Stammhalter entbunden. Darüber war großer Jubel und die Taufe war ein schönes Familienfest. Er sollte Geschäftsnachfolger werden und wurde deshalb Hermann getauft. Die Großmutter und Tante Anna strahlten in ihrer neuen Würde. Sie nahmen ja an allem Anteil, was mit Gabel zusammenhing.

Der Teilhaber Holfelder sollte im September 1903 das ganze Speditionsgeschäft von Herrn Demuth übernehmen. Da er nicht gut auf uns zu sprechen war, mußten wir bezüglich des Vorkaufrechtes auf große Schwierigkeiten gefaßt sein. So hatten wir uns also binnen weniger Tage zum Kauf zu entschließen. Der Grund hatte ein Ausmaß von 4.359 Quadratmetern. Dies hätte eine Kaufsumme von 9.696 Kr. erfordert. In Wirklichkeit habe ich dann beim Kaufabschluß am 21. September 1903 nur 8.500 Kr. dafür bezahlen müssen. Meine drei Geschwister und die Mutter waren sofort bereit, uns Geld zu leihen, das ja am Grunde sichergestellt war. Zu Ende des Jahres 1903 hatten wir nun 12.000 Kr. Schulden, die verzinst werden mußten.

Mitte März 1904 wurde mit der Kellerausgrabung unseres neuen Wohnhauses begonnen, das wir beim Kreuz an der Bahnhofstraße errichten wollten. Am 26. April war schon der Hebeschmaus[32] und am 14. Juli 1904 sind wir ins neue Wohnhaus eingezogen. Zu Ende des Jahres 1904 hatten wir bereits 21.000 Kr. Schulden.

Vorher war aber erst noch einmal der Storch bei uns eingekehrt. Er hatte uns einen Jungen gebracht, und zwar am 26. Mai 1904. Er sollte Otto heißen. Mitte Dezember stellten sich bei Otto die Fraisen[33] ein, zweimal täglich und häufiger. Bis Weihnachten hatte er schon 19 Anfälle überwunden.

Am 27. Juni wurde Herr Demuth begraben. Der Alkohol und seine Gutmütigkeit hatten ihn körperlich und finanziell ruiniert. Im Sommer wurden die ersten beiden Betonbassins gebaut. Mitte August wurde in Reichenberg die Gärtnergenossenschaft gegründet. Ich wurde in den Ausschuß berufen.

In den Frühjahrsmonaten 1905 bekam Otto immer häufiger seine Fraisenanfälle, und wir hatten wenig Hoffnung, ihn am Leben zu erhalten. Am 13. Oktober bekam die Schwester Emma zum ersten Male nach langer Zeit wieder ihre Blutkrämpfe. Sie lebte ja in ständiger Angst, auch das noch verbliebene gesunde Auge zu verlieren, daher hatten sich bereits damals diese Krämpfe bei ihr eingestellt.

Zu Allerheiligen hatten wir 30 Kilo Lorbeerblätter aus Triest verbraucht und bis Ende Dezember noch 15 Kilo. Wie mühselig und zeitraubend war es, einen Kranz zu binden, der schon für 2 Kr. zu haben war! Von Jänner bis April 1906 haben wir an Töpfer 44.000 Veilchenblumen und im Herbst 33.000 Veilchen weggeschickt. Im Dezember wurde die neue Wasserleitung ins Haus gelegt und Weihnachten konnten wir schon das erste Wasser entnehmen.

Am 12. Feber 1907 hatten wir im Schützenhause die schönste Saaldekoration, die wir jemals gemacht haben. Es war zu einem Kostümball. Die vier Saalwände waren als die Vier Jahreszeiten dekoriert. An einer Galerieseite der Frühling mit blühenden Obstbäumen und tausenden zartrosa Apfelblüten. Auf der Bühne der Sommer mit einer Unmenge künstlicher Rosenranken in allen Farben und einem ebenso berankten Sommerhause. An der anderen Galerieseite der Herbst mit fruchtbeladenen Bäumen und Weinranken. An der Eingangsseite der Winter mit Schnee und Eis, Rauhreif, Tannen, Felsen und Jagdtieren. Wir haben wohl vierzehn Tage daran gearbeitet, aber es war auch ein großer Erfolg.

Anfang April 1907 bestellte ich bei Höntsch ein Vermehrungshaus und eine Warmwasserheizung. Im August wurde das neue Gewächshaus aufgestellt, ein geräumiges Verbindungshaus gebaut und die Warmwasserheizung mit einem Zwerg-Hötsch-Kessel einmontiert. Der Kessel ist noch heute tadellos in Ordnung, obwohl wir das doppelte Rohrnetz angehängt haben. Ende September war die Vermehrung aufgestellt. Nach der Fertigstellung haben wir die Gärtnerei photographiert. Postkarten von damals sind noch vorhanden.

 

Gärtnerei in Deutsch-Gabel

 

Am Donnerstag, 16. Jänner 1908, kam nachmittags um ½ 3 Uhr Mariechen zur Welt. Zur Taufe am 26. Jänner waren viele Gäste anwesend: Holuscha[34] mit seiner Frau und Schwägerin, Frau und Frl. Prade[35] mit der Elsa, Mutter, Anna, Emma, Herr und Frau Stieber[36], Kaluscha[37] und Frl. Emilie. Das war eine große Freude um das erste Mädchen und noch keine Taufe war so festlich begangen worden.

Im Winter 1908 war bei einem heftigen Sturme der Abstelldraht für die Windfahne gerissen, und der Sturm tobte wie besessen mit dem Windrade. Ich dachte, jeden Augenblick kann der ganze Motor herunterkommen und das Dach des Kalthauses durchschlagen. Ohne daß meine Angehörigen etwas davon wußten, bin ich in der finsteren Nacht ohne Licht auf die Säule gestiegen und habe die Windfahne mit einem Stricke an das Rad gebunden. Ich hatte ziemliches Herzklopfen dabei und war tausendfroh, als ich mit heiler Haut wieder unten war.

Am 31. Mai 1908 wurde die Seligsprechung unserer Schutzheiligen Zdislava in großartiger Weise gefeiert. Am 30. März wurden die Gebeine der Seligen der Gruft entnommen und in einem Reliquiar auf ihrem Altare aufgestellt. Die dreitägige Feier schloß mit einer großen Prozession um den Marktplatz, wobei ihre Reliquien im Zuge getragen wurden.

Am 26.11.1908 hatte Herr Eckert Hochzeit. Oft waren wir zusammen oder meine Frau mit den Kindern in Niemes. Und sie kamen oft herüber. Es hatte sich eine recht herzliche Freundschaft herausgebildet. Dieser gegenseitige Verkehr war unsere einzige Zerstreuung und Unterhaltung.

Im Sommer 1909 haben wir angrenzend an Eckerts Schupfen[38] einen großen Holzschupfen aufgebaut, ein neues Tor und eine Aschengrube. Der Grund vor den Fenstern unseres Wohnhauses gehörte dem Grützner Bäcker. Der wollte dort bauen. Dies war für uns nicht sehr verlockend. Denn dann hätten wir möglicherweise die Abortanlage oder zum mindesten den Schupfen vor die Wohnhausfenster bekommen. Dies war keine schöne Aussicht für die Zukunft. So machte ich mich also am Fronleichnamstage nachmittag auf den Weg zum Grütznerbecker, steckte mir einen Bogen Papier und etwas Geld ein, um mit ihm zu verhandeln. Es war keine leichte und angenehme Sache und er war nicht sehr bescheiden in seinen Forderungen. Nach langen, vergeblichen Bemühungen wurden wir uns dann aber doch einig. Ich holte mein Papier hervor und schrieb darauf, daß mir der Unterzeichnete am heutigen Tage den Grund an der Bahnhofstraße um 5.100 Kr. verkauft und als Anzahlung 200 Kr. bar erhalten hat. Mir war nun ein großer Stein vom Herzen.

Meine Frau wußte gar nicht, warum ich nicht heimkam. Und als Dank mußte ich noch Vorwürfe hören, weil wir nachmittags einen Spaziergang machen wollten. Da war ich aber sehr ärgerlich. Das hatte ich wirklich nicht verdient! Am nächsten Tage kam der Verkäufer des Grundes zu mir, brachte meine Anzahlung zurück und sagte, er wolle den Kauf wieder rückgängig machen. Sein Bruder, der Stadtrat war, hatte ihm schwere Vorwürfe gemacht, weil nun auf diesen Platz kein Haus mehr hinkommen wird. Ich lachte ihn aber aus und sagte, ich habe sein Wort und seine Unterschrift, er habe meine Anzahlung, und an der Sache werde nichts mehr geändert. Meine Nachfolger können dies gar nicht genug schätzen; denn sonst wäre unser Wohnhaus für immerwährende Zeiten verbaut und versteckt gewesen und ohne direkten Zugang.

Am 1. Juli 1909 ist Emil Oppelt aus Deutsch-Gabel neu eingetreten. Damals hätte niemand gedacht, daß er in unserem Betriebe sein 25jähriges Dienstjubiläum feiern wird!

Am Schlusse des Jahres 1909 hatte ich den höchsten Schuldenstand: 21.211 Kr. Nun hieß es wieder fleißig arbeiten und sparen, damit uns der Zinsendienst nicht erwürgt. Allerdings hatte ich jetzt mein Grundstück abgerundet! Ich staune heute selber manchmal, wie dies alles möglich war. Freilich kannte ich nichts als meine Pflicht und meine Arbeit. Ich kam in kein Wirtshaus, in keinen Verein, in keine Unterhaltungen, war sonntags und wochentags in der Gärtnerei und hätte es gar nicht fertig gebracht, meine Leute allein Dienst halten zu lassen. Früh war ich der Erste auf den Beinen und abends der Letzte, der zu Bett ging.

Anfang Mai 1910 war unser Lehrling Adolf Schmidt erkrankt. Er hatte hitziges Fieber, und wir fürchteten, es könnte eine Infektionskrankheit daraus werden. Wir holten Dr. Tumbach, der aber bei dem kranken Jungen nur herumpolterte und schimpfte, warum er nicht in seine Ordination komme; er könne nicht wegen jeder Kleinigkeit in die Häuser laufen; es fehle dem Jungen weiter nichts, es handle sich nur um eine Ausnutzung der Krankenkasse. Da bin ich aber böse geworden. Wir haben seine Eltern verständigt, sie möchten ihn lieber heimholen. In einem Wagen, gut verpackt, brachten wir ihn nach Hennersdorf. Wenige Tage später hatte der Junge Scharlach. Jetzt wollte Dr. Tumbach mir die Verantwortung aufbürden. Na, – dem habe ich aber heimgeleuchtet! Ich habe damals bei der Krankenkasse durchgesetzt, daß die freie Ärztewahl eingeführt wurde.

Am 17. April 1910 hatte die Selma ihre Hochzeit. Am 5. Juni wurde Rudolf geboren. Am 17. war die Taufe. Zu Gaste waren die Schwester Anna und Onkel Rudolf als Pate mit seiner Braut Frl. Moureaud. Seit dem 2. August ist meine Schwester Emma in der Dechantei. Ihr Scheiden aus unserem Garten und Familienkreise konnte ich lange nicht verwinden. Als Ursache wurde angeführt, daß sie bei uns für ihre Nerven zu wenig Ruhe hätte, weil die Kinder zu lebhaft seien. Außerdem sei sie der vielen Arbeit nicht mehr gewachsen.

Anfang September 1910 hatten uns Frau und Frl. Moureaud in Gabel besucht. Frl. Moureaud ist ein seelengutes Mädchen. Die ganze Familie hält zueinander in seltener Liebe und Rücksichtnahme. Ich war überzeugt, daß Onkel Rudolf keine bessere und edlere Frau finden kann. Wir waren bei ihrer Hochzeitsfeier zugegen. Am 6. Dezember 1910 starb die Schwiegermutter in Pernthon. Es war eine recht liebe, stille Frau, die nur für ihre Familie, ihre nimmermüde Arbeit und ihren Herrgott gelebt hat. Die Nachricht erreichte uns zu spät; so konnten wir nur bei einer Seelenmesse ihrer gedenken.

Hermann geht nun in die Schule. Auch Otto hat sich herausgemausert, als nach einem Jahre die Fraisen aufhörten. Die Mutter hat aber mit dem Jungen viel mitgemacht. Was hat er zusammengeweint in seiner Krankheit, wie viele Nächte mußten geopfert werden, und bei Tag jagte eine Arbeit die andere!

Mitte September 1911 war meine Frau mit Otto in Phillipsdorf[39]. Die vielen Fraisen-Anfälle hatten das Kind ungemein geschwächt, und es hatte sich mit der Zeit ein Asthmaleiden herausgebildet, das dem armen Jungen viel zu schaffen machte. Er durfte sich nicht verkühlen, keine nassen Füße haben, nicht springen und jagen wie andere Kinder, sonst machten ihm die Anfälle, die sich von Zeit zu Zeit einstellten, viel Herzeleid. Dafür war er geistig ungemein regsam und in der Schule immer einer der Besten aus der ganzen Klasse. Er hatte für alles ungemein großes Interesse, ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und führte das Wort, wenn die Kinder zusammen spielten. Fuhr ein Zug im Bahnhof ein, sprang er zuweilen aus dem Bett, nur um die Maschine zu sehen, die Waggons zu zählen und die Waggonnummern zu studieren. Er wußte und kannte alles, mit dem er in Berührung kam.

Hermann war nicht so talentiert, er war mehr für’s Praktische, bastelte und baute gern, aber am Lernen hatte er in den ersten Jahren keine besonders große Freude. Die Lehrer beklagten sich zuweilen, daß er mehr leisten könnte, wenn er wollte. Dies war dann oft Ursache zu häuslichen Unstimmigkeiten, weil ihm meine Frau den Daumen hielt, wenn ich ihn strafen wollte.

1912 bauten wir zwei neue Gewächshäuser. Das Cyclamenhaus hat eine größere Glasfläche auf der Vorderseite, damit die Vermehrung nicht zu sehr beschattet wird. Das Erdhaus hat abnehmbare Fenster mit Reformschuhen. Es ist für Chrysanthemen, Cinerarien[40], Calceolarien[41] und ähnlichen Topfpflanzen mit großem Luftbedürfnis vorzüglich geeignet. Beide sind 20 m lang. 12.000 Ziegel haben wir dabei verwendet. Beide Häuser sind noch heute im besten Bauzustande und haben sich gut bewährt.

Am 14. Juni 1913, früh um ½ 6 Uhr, wurde Hannchen geboren. Taufpatin war Frau Simon aus Johannesthal[42]. Es war eine stille Familienfeier.

Ende Jänner 1914 machten wir eine unserer schönsten Winterpartien. Herr und Frau Simon, der alte Schuhmann, und der Michelgärtner aus Kamnitz sind dabeigewesen. Wir fuhren früh mit dem ersten Zuge nach Reichstadt.[43] In Niemes sind die Familien Prade, Tille und der Komiker Rösler mit seiner Frau und seiner Laute zugestiegen. In Reichstadt haben wir den dortigen Gärtner Wünsch mit seiner Frau mitgenommen. Schon früh um 8 Uhr kam der ganze Trupp nach Schwoika. Dort wurde Kollege Vodička überfallen und Frühstücksstation gemacht. Auch Vodička und der Schloßgärtner Bednař von Bürgstein wurden mitgenommen. Nun ging es nach Kottowitz zum Kollegen Runge, der kurz vorher ein Schwein geschlachtet hatte. Dort wurde Mittag gemacht, und fraget nicht, was die Bande dort in ihrem Übermute aufgeführt hat! Er mußte uns noch von seinem Wurstvorrate mitgeben, und jetzt war Haida[44] das nächste Ziel.

Unterwegs hatten wir Herrn Kaufmann getroffen und Freund Prade sagte zu ihm: „Herr Kaufmann, zählen sie unsere Gesellschaft! Wir kommen alle zu Ihnen zum Nachtmahle. Daß Sie ja etwas Ordentliches vorrichten, sonst geht es Ihnen schlecht! Sie dürfen dann dafür mitessen!“ Richtig hatten sie in Haida eine große Tafel aufgestellt, aber wir hatten ja kaum Platz in dem großen Zimmer; denn wir waren 16 Personen ohne den Haidaern. Zwei mächtige Schüsseln Aufschnitt zierten den festlich gedeckten Tisch. So viel ist wohl selten einmal gelacht worden, wie damals!

Frau Kaufmann war als sehr „sparsam“ bekannt, und es wird ihr nicht leicht gefallen sein, einen derartigen Besuch satt zu füttern. Nachher ersuchte der alte Schuhmann um ein großes, weißes Papier. Alles war gespannt, was nun vorgehen sollte. Er legte alles, was noch von der Herrlichkeit der beiden Schüsseln übriggeblieben war, bedächtig und feierlich zusammen, wickelte es zusammen und tat so, als ob er damit verschwinden wollte. Das Gesicht der Frau Kaufmann war köstlich. Sie war über diese Frechheit wie zu einer Salzsäule erstarrt, und diese Augen – es war zum Totlachen! Dann klopfte Herr Schuhmann ihr gemütlich auf die Schultern, drückte ihr die schmählichen Überreste in die Hand und meinte, sie solle alles gut verstecken, sonst – frißt die unverschämte Bande auch das noch auf. Na, den Hallo werde ich nicht vergessen. Es war einfach zum Schrei’n.

 

Laurentiuskirche Deutsch-Gabel

 

Im Sommer 1914 wurde das Kuppeldach der Kirche mit Kupferblech neu eingedeckt, Kreuz und Knopf neu vergoldet, und auch das Innere der Kirche ganz renoviert. Das freistehende Innengerüst reichte in dreifacher Lage aufeinander bis 50 m hoch in die Kuppeldecke. 700 m2 Kupferblech wurden verbraucht, 0,6 mm stark und zusammen 3.360 kg schwer. Unsere Kirche ist über 50 m lang, 31,5 m breit, innen 45 und außen 55 m hoch. Kuppeldurchmesser außen 20 m. Zur gleichen Zeit hatten wir mit dem Bau der Bindestube, der Gehilfenwohnung und Waschküche begonnen. Wir schafften auch ein Klavier für Mariechen an.

Der I. Weltkrieg

 

Am 28. Juni 1914 hatten wir mit Prades eine Partie in die Edmundsklamm[45] unternommen. Auf der Heimfahrt im Zuge hörten wir von der Schreckenstat in Sarajewo und von der darauf erfolgten Kriegserklärung. Am 26. Juli wurde die Mobilisierung proklamiert. Am nächsten Tage mußten die Reservisten bis zu 37 Jahren einrücken. Erst hatte es sich um acht Armeekorps gehandelt, aber schon am 31. Juli wurde die allgemeine Mobilisierung angeordnet. Am 1. August ist unser Gehilfe Franz Reinhardt nach Schlesien eingerückt und bereits am 31. August in Galizien gefallen. Er war ein lieber, braver Mensch, und ich konnte seinen schnellen Tod lange nicht überwinden. Er hat seine Frau und ein Mädchen hinterlassen, die in Gabel geblieben sind. Die Nachricht von seinem Tode ist erst am 12. Oktober eingetroffen.

Schon am 6. August hatten Rußland, Frankreich und England den Krieg gegen Deutschland erklärt, und von da an überstürzten sich die kriegerischen Ereignisse. Die Prager Tante war Anfang August zu uns gekommen, ebenso Schwester Anna. Mit 11 gegen 9 Stimmen wurde in der Gemeindevertretung die Unterbringung eines Kriegsgefangenenlagers beschlossen. Im November trafen abends gegen 11 Uhr bei kaltem, regnerischen Wetter 140 galizische Flüchtlinge hier ein und wurden mit Leiterwagen in die umliegenden Dörfer einquartiert. Es war ein schrecklicher Anblick. Die armen Leute hatten all’ ihr Hab und Gut im Stiche lassen müssen, und in Hocken, Körben und Paketen hatten sie ihre ganzen Sachen verstaut. Die Kinder schrien vor Kälte und Hunger, aber die Frauen waren ganz starr und teilnahmslos. Es war eine Episode, die ich nicht vergessen werde!

Bis zum Ende das Jahres wurden 4.000 Gefangene und in einem zweiten Lager im Schützenhausgarten 40 Offiziere untergebracht. Die Bewachungsmannschaft zählte 500 Mann. Bereits am 2. Weihnachtsfeiertage war das erste Begräbnis aus diesem Lager. Es wurde nach griechisch-katholischem Ritus gefeiert. Der Gesang war ganz erhebend.

Am 25. Oktober 1914 veranstalteten wir die erste Blumenschau zugunsten des Roten Kreuzes. Wir zeichneten außerdem 4.000 Kr. Kriegsanleihe. Am 11. Feber 1915 war Landsturmassentierung. Ich gab im Auftrage des Gartenbauvereins ein Merkblatt für Kriegsgemüsebau heraus, das in allen Gemeinde des Bezirkes verteilt wurde. Im April besuchten wir mit den Kindern die Verwundeten im Lämberger Schloß.

 

Schloß Lämberg

 

Schloß Lämberg, 1241 mit Burgkapelle erbaut. Wohnort der hl. Zdislava († 1252)

 

Von Pernthon erhielten wir über 200 Kilo Kartoffeln. Am 8. Juli 1915 sind 16 russische Offiziere aus dem Lager durchgebrannt. Sie hatten von der Baracke aus einen Gang gegraben, unter dem Wege hindurch bis in ein Kornfeld. Wir pflanzten im Russenlager zweimal Koniferen an. Für das Offizierslager haben wir ziemlich viel geliefert. Zum Fest der Wasserweihe am Dreikönigstage 1916 hattenn wir ins russische Offizierslager viel blühende Topfpflanzen geliefert.

Am 2. Juli 1916 hatte Herr Dechant Rössel sein goldenes Priesterjubiläum. Bereits 1915 hatte Hermann sich zum Studium im Seminar in Mariaschein entschlossen; aber ich fürchtete, sein Entschluß würde nicht von Bestand sein. Er war damals in der Bürgerschule, und ich hatte ihm den Vorschlag gemacht, er solle noch die zweite Klasse besuchen und nebenbei beim Herrn Katecheten Trompeter Lateinstunden nehmen. Er sollte dadurch seine Ausdauer beweisen. So wurde es auch durchgeführt. Es war eine harte Schule für ihn, und der Herr Katechet hat ihn nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt. Latein hat ihm in der ersten Zeit viel Schwierigkeiten gemacht. Seiner Begabung nach hätte er eigentlich Techniker werden sollen. Er hat es aber doch überwunden und die Aufnahmeprüfung in Mariaschein gut bestanden. So konnte er gleich in die zweite Klasse eintreten. Am 17. September 1916 war ich dann mit meiner Frau und den Kindern zu Besuch in Mariaschein.

Am 30. Oktober 1916 wurde bis zwei Uhr früh gearbeitet, am 31. Oktober die Nacht ganz durch. Am Allerheiligentage waren wir erst um 5 Uhr abends mit der Binderei fertig. Tante Emma hat früher bei den Allerheiligentagen fleißig mitgeholfen; sonst hätten wir die Arbeit gar nicht bewältigt. Wir hatten dieses Jahr 200 Bestellungen.

Am 30. November 1916 wurde unser alter Kaiser begraben. Infolge der Kriegsverhältnisse waren die Beisetzungsfeierlichkeiten schlicht und einfach. Wir haben 3.200 Kr. Kriegsanleihe gezeichnet. In diesem Jahre wurden die Kirchenglocken requiriert. Die große Glocke wog 993 Kilo.

1917 war wohl für die Bevölkerung in Bezug auf die Ernährungsschwierigkeiten das schlimmste Kriegsjahr. Brot, Mehl, Fleisch, Fett, Zucker, Milch und Tabak gab es nur gegen Karten. Vor allem fehlte Brot. Alle Tage früh und abends gab es geschrotene Kornsuppe und einen Topf Kartoffeln. Mittags holten wir Suppe aus der Kriegsküche, um Fett zu sparen, das nur in sehr kleiner Menge vorhanden war. Für jeden mußte ein kleines Brot wöchentlich ausreichend sein. Das Brot wurde zudem immer schlechter. Mich hat manch liebes Mal der Geruch der Seefische vom Mittagstische vertrieben.

Schon im Sommer 1915 hatten wir 12.000 Kriegsgefangene im Lager; und die armen Soldaten holten sich alle Abfälle aus dem Garten, faule Kartoffeln, Zwiebeln, rohes Gemüse, unreifes Obst. Alles wurde mit Heißhunger verschlungen, weil die Beköstigung nicht ausreichend war.

Es gab keine Kohlen. Die Schule mußte deshalb gesperrt werden. Auch die Fabriken mußten feiern. Wir konnten nur mit Mühe und Not unseren Betrieb aufrechterhalten. Das Brennmaterial wurde uns durch die Handelskammer angewiesen. Wenn wir in Not waren, haben wir uns von der Gemeinde etwas Kohlen ausgeliehen.

Nun erklärt auch Amerika den Krieg. Deutschland beginnt den Unterseebootkrieg. Tausende Tonnen Lebensmittel werden versenkt. Das ist der Anfang vom unglückseligen Ende. Der Luftkrieg wird immer erbitterter. Die erreichbaren Städte werden mit Bomben belegt, und tausende Frauen und Kinder gehen mit zugrunde. Unmenschlich und unverantwortlich sind die Methoden, die angewendet werden, um Menschen und Sachwerte zu vernichten. Immer neue und wirkungsvollere Gas- und Brandbomben, Sprengmittel und Geschosse werden erdacht und konstruiert. Immer grausamer wird der Krieg geführt.

Hunderttausende sind an der russischen Front verblutet. Nun setzt in Rußland die Revolution ein. Die kaiserliche Familie wird ermordet, und der Bolschewismus gelangt zur Macht. Unsägliche Leiden kommen über das russische Volk; und die Intelligenz wird in Rußland systematisch vernichtet.

Ein Friedensangebot des Papstes wird abgelehnt. Nur sein Vorschlag auf Austausch der Kriegsgefangenen wird von den kriegsführenden Mächten angenommen und teilweise durchgeführt.

Im Garten haben wir uns in der Hauptsache mit Kriegsgemüsebau befaßt. Gemüsesamen war nur mit amtlichen Beglaubigungen in ganz beschränkter Menge zu haben, und da hat mir Freund Theo in Troppau dankenswerterweise öfters ausgeholfen. Wegen der kalten Witterung mußte ich mich am 17. März 1917 den ganzen Tag lang bemühen, Kohlen aufzutreiben. Schließlich ließ ich von der in Görsdorf gegrabenen Braunkohle eine Fuhre holen. Wenn mir dann die Stadt nicht zweimal ausgeholfen hätte, wären die Häuser bei uns eingefroren. Es war eine sorgenvolle und arbeitsreiche Zeit. Zu den russischen Osterfeiertagen wurden über 100 Topfpflanzen und 200 Stück Kopfsalat ins Offizierslager geschafft.

Am 10. April 1918 ist mein Cousin Alois gestorben. Als er, schon schwer krank, von einem Besucher ermahnt wurde, sein ihm vom Herrgott auferlegtes Kreuz geduldig zu tragen, sagte er in seiner trockenen Art: „Ihr hott gut reden. Aber tut ock die Nose hie recken, dou word Euch andersch zu Mute sein!“ Auch unsere liebe, gute Schwester Anna ist nach langen Leiden verschieden, und zwar am 2. August 1918. Immer wieder hat sie noch, soweit es irgend ging, an der Nähmaschine gearbeitet. Wir hätten nicht gedacht, daß unsere erst kürzlich gekaufte Familiengruft so bald gebraucht wird!

Die russischen Gefangenen trieben einen schwunghaften Handel mit gebrauchtem Schuhwerk, das sie reparierten. Unsere Burschen trugen damals alle Russenschuhe, weil man sonst keine vernünftigen Ledersohlen bekam. Es gab meist nur Holzsohlen. Otto war 1918 bei uns regelrecht als Lehrling eingeschrieben.[46] Er hat auch die Fortbildungsstätte besucht.

Am 27. April 1918 wurden in Gabel vier Wagen Kartoffeln gewaltsam requiriert und verteilt. In Rumberg brach ein Militäraufstand los: 400 Soldaten revoltierten, 14 von ihnen wurden erschossen. Die Marneschlacht mit ihren ungeheuren Opfern war am 16. Juli 1918 die letzte deutsche Offensive. Am 5. Oktober erfolgte ein Friedensangebot von Wilson.

Nach dem I. Weltkriege

 

Mitte Oktober wurde von Kaiser Karl ein Manifest veröffentlicht, in dem er allen Völkern der Monarchie Selbstverwaltung versprach. Es kam aber zu spät. Am 28. Oktober 1918 erklärte Österreich, sich allen Friedensbedingungen zu unterwerfen. Am gleichen Tage wurde die Tschechische Republik ausgerufen.

Deutschböhmen erklärte sich als eigene Provinz. Lodzmann wurde deutscher Landeshauptmann. Sitz der deutschen Landesregierung sollte Reichenberg werden. Am 11. November 1918 wurden alle österreichischen Hoheitszeichen entfernt. In Deutsch-Gabel wurde eine 120 Mann starke Bürgerwehr aufgestellt. Ein Nationalrat wurde gebildet mit Vinzenz Kraus als Obmann.

Ende Dezember 1918 wurden Nationalrat und Bürgerwehr von den Tschechen aufgehoben. Deutschböhmen wurde den Tschechen zugesprochen. Am 15. Dezember 1918 rückten 200 tschechische Soldaten hier ein und nahmen von den Ämtern Besitz. Die deutschböhmische Landesregierung, die sich noch in Wien befand, protestierte erfolglos dagegen. Die Folgen des Zusammenbruches waren: Überstempelung der bisherigen Banknoten, Arbeitslosigkeit, Nichteinlösung der Kriegsanleihe, Auflösung des Vereinswesens.

Am 6. Juli 1919 erhielten die bürgerlichen Parteien, die für die Gemeindewahl eine Einheitsliste aufgestellt hatten, zusammen 731 Stimmen, die Sozialdemokraten 628. 16 bürgerliche und 14 sozialdemokratische Stadtvertreter wurden gewählt. Kraus wurde Bürgermeister, Moidl zweiter, Wihl erster Stellvertreter. Ich war der 2. Kandidat auf der Liste, und wurde in den Stadtrat berufen, dem ich ununterbrochen bis zum 15. März 1938, dem Tage meiner Resignation, angehört habe, also 19 Jahre hindurch.

Am 21. Juni 1919 habe ich bei Veselí um 1.000 Kč.[47] Obstbäume gekauft. Es ist eine der größten und besten Baumschulen der früheren Monarchie. Anfang Juli ist meine Frau mit Otto nach Kunnersdorf gefahren ins Moorbad, weil es mit ihrem Rheumatismus nicht mehr gehen wollte. Auch beim Otto erhofften wir uns Besserung seines Asthmaleidens. Otto mußte leider nach 14 Tagen wieder heimkommen. Sein Zustand hatte sich nur verschlimmert. Die Mutter haben wir Ende Juli mit dem Wagen abgeholt. Viel Erleichterung hat es ihr aber nicht gebracht.

Da es Otto gesundheitlich dann doch besser erging, mußten wir ihm seinen Herzenswunsch erfüllen. Seit Anfang September 1919 besuchte er die Handelsakademie in Reichenberg. Er war bei Frau Swoboda in Kost und Wohnung.

In der Stadt nahmen Diebstähle überhand, und deshalb wurde eine Bürgerwache gebildet. Jeden Abend mußten 25 Personen, auch Frauen, den Wachdienst besorgen. Bei der Reichsratswahl am 18. April 1920 hatte die Nationalpartei 531 Stimmen, die Sozialdemokraten 506, die Christlichsozialen 272, die Tschechen 172, der Bund der Landwirte 68 und die Freiheitspartei 19 Stimmen erhalten. Im Juli 1920 wurde in unserem Bezirke ein Hungerstreik proklamiert. Keinerlei Arbeiten wurden geduldet. Kein Wagen durfte fahren. Wir mußten wegen der notwendigsten Arbeiten um Bewilligung ersuchen. Arbeiterpatrouillen durchzogen die Stadt, und der Kommunismus war damals am Gipfel seiner Macht.

Am 10. Oktober 1920 wurde um 4 Uhr nachmittags Hedwig geboren, und am 17. Oktober getauft. Die Prager Tante und Tante Rosa waren Paten. Als Patengeschenk hatte sie einen Dukaten und Silberlöffel erhalten.

Am 1. Jänner 1921 war Volkszählung, Deutsch-Gabel hatte 2.426 Einwohner. Am 1. Juni 1921 ist Herr Dechant Tschörch gestorben. Er hatte sein ganzes Privatvermögen für die Renovierung der Kirche verwendet. Schon Jahre vorher konnte meine Schwester Emma, die bei ihm Haushälterin war, nichts Neues mehr anschaffen. Sie mußte die alte Wäsche immer wieder zusammenflicken. Als Pensionist hatte er nur ein ganz bescheidenes Einkommen, und Emma hatte schon lange keinen Lohn mehr erhalten. Er ist wegen seiner Raschheit[48] von der Bevölkerung sehr verkannt worden. Er war aber ein sehr edler Priester, der nur seinem hl. Berufe lebte.

Nun kam der Marksturz[49] in Deutschland. Massenhaft wanderten die Bewohner der Stadt nach Zittau und kauften zusammen, was nur möglich war. Es war schamlos, wie die deutsche Inflation von vielen ausgenutzt wurde.

Herrn Schuster habe ich 20.000 Kč. zum Ankauf eines Wohnhauses geliehen. Im Jahre 1938 hat er mir dann 10.000 Kč. durch Einlösung einer Lebensversicherung zurückgezahlt; das übrige habe ich ihm erlassen. Er hatte ja doch nicht die Möglichkeit, es in seinen mißlichen Verhältnissen aufzubringen. Auch die Zinsen konnte er schon seit einigen Jahren nicht mehr zahlen. Zum Namenstage gab ich der Mutter 1.000 Kč. Zuschuß zum Haushalte und 3.000 Kč. für ihre eigenen Bedürfnisse. Rudi lernte bei Valentin Geige, und Mariechen bei Frl. Müller Klavier. 1921 war wohl eines der arbeitsreichsten Jahre meines ganzen Lebens. Zugleich war dieses Jahr das beste Jahr seit dem Bestande der Gärtnerei. Dies wird wohl nie mehr erreicht werden!

Im Feber 1922 erkrankte ich schwer an Gelenkrheumatismus. Schon nach kurzer Zeit konnte ich kein Glied mehr bewegen und mußte Tag und Nacht immer von Bett in den Lehnstuhl und nach kurzer Zeit wieder vom Lehnstuhl ins Bett getragen werden. An Schlaf war wochenlang nicht zu denken. Es war nur ein Dahindämmern in halber Bewußtlosigkeit. Das dauerte fast acht Wochen. Dann war es soweit, daß ich den Kopf wieder bewegen und auf die Uhr schauen konnte. Das war schon ein großer Fortschritt. Nun wurde es zusehends besser; und Ende Mai war ich wieder außer Bett.

Ich hatte aber in den Händen und Füßen keine Kraft. Jeder Schritt war schmerzhaft. Die Türen mußte ich mit dem Ellbogen aufmachen, weil die Hände vollständig kraftlos waren. Onkel Rudolf lud mich ein, nach Salzhausen[50] zu kommen. Er versprach sich davon eine Heilung meines Leidens. Mitte Juni 1922 bin ich hingefahren. Ich konnte kein Gepäck tragen und nicht richtig mit den Füßen auftreten.

Nach dem ersten Solbade konnte ich mich nicht mehr allein anziehen, so hatte es mich angegriffen. Ich sollte nur fünf Minuten im Bade bleiben; wollte es aber gut machen, und blieb eine halbe Stunde. Danach war mir so elend, daß ich alle Hoffnung verlieren wollte. Der Arzt war aber ganz zufrieden und sagte: „Es muß zuerst angreifen, umso besser wird dann die Wirkung sein!“ Und wirklich, – nach 16 Bädern, die ich jeden zweiten Tag nahm, war ich vollständig wiederhergestellt. Als mich meine Frau zur Heimreise abholte, war sie ganz sprachlos. Sie konnte sich das Wunder meiner schnellen und gründlichen Heilung gar nicht erklären.

Ich war jetzt besser zu Fuß als sie und machte gleich mit ihr eine Reise an den Rhein. In Koblenz trafen wir französische Marokkaner, die noch die ganze Rheingegend besetzt hatten. Schon bei der Heimfahrt war die Mark ins Uferlose gesunken. Mit unseren tschechischen Kronen hätten wir noch lange Zeit in Saus und Braus leben können, aber ich mochte aus der Not Deutschlands und seiner Bewohner keinen Nutzen ziehen.

Ende Juni 1922 hatten Hermann und Otto die Matura mit Auszeichnung bestanden.[51] Als Belohnung hatte ich ihnen eine Deutschlandreise versprochen. Mit je 500 Kč. machten sie sich auf den Weg. Sie besuchten Dresden, Leipzig und Berlin. Sie haben mit jedem Heller geknausert, weil sie möglichst viele Briefmarken kaufen wollten. Beide hatten schon damals recht wertvolle Sammlungen.

In diesem Jahr wurde das alte Warmhaus abgetragen. An dieser Stelle wurde ein großer Packschupfen mit oberem Bodenraum errichtet. Wir haben 1.000 Kč. für die Glocken gespendet. Am 28. Juli 1922 war dann Glockenweihe. Die Summe für die drei Glocken war aus freiwilligen Spenden zusammengekommen.

1923 wurde das Ruhrgebiet besetzt. Es herrschte große Not im Deutschen Reiche. Am 20. November erhielt man für 6 Kč. eine Billion Mark. Am 16. September 1923 waren Gemeindewahlen. Die Nationalpartei hatte drei Listen aufgestellt und erhielt 595, die Christlichsoziale 280, die Sozialdemokraten 278, Gewerbe und Landwirte zusammen 149, die Kommunisten 102 Stimmen. Ich wurde zweiter Bürgermeisterstellvertreter.

 

Reise nach Italien

 

Mitte Juli 1923 hatte ich mit Herrn Katecheten Tietze[52] eine Volksbundreise[53] nach Italien mitgemacht. Die Erinnerungen schrieb ich nach unserer Rückkehr in ein  Notizbuch und sie sind für mich so werrtvoll, daß ich sie vollinhaltlich hier wiedergeben will; denn diese Aufzeichnungen sind ja in erster Linie für mich bestimmt.

Im Theatergarten in Prag war der Treffpunkt der Teilnehmer. Dort wurden die Pässe ausgehändigt und die Abzeichen verteilt. Nach dem Mittagessen in deutschem Hause erfolgte vom Wilsonbahnhof [Hauptbahnhof] die Abfahrt gegen Budweis – Linz. Die Teilnehmerzahl betrug 280 und die ganze Reise erfolgte mittels Sonderzug. Unterwegs sahen wir Schloß Konopischt, das dem ehemaligen Thronfolger Franz Ferdinand gehörte. Es besitzt herrliche ausgedehnte Wald- und Gartenanlagen. Wir sahen die deutschen Berge des Böhmerwaldes bei Prachatitz und kurz vor Budweis das dem Fürsten Schwarzenberg gehörige Schloß Frauenberg, dessen Einrichtung uns als die Schönste am Kontinent bezeichnet wurde.

Auf der Grenzstation Oberhaid wurde auf den österreichischen Sonderzug umgestiegen und dort gab es auch einen unfreiwilligen Aufenthalt. Unsere tschechischen Landesbrüder wollten der Reiseleitung das Geld wegnehmen. Doch wer schmert, der fährt! So war es auch in diesem Falle. Nun ging es weiter, über Linz, Attnang nach Salzburg. Ein Gewitter und ausgiebiger Regen brachten angenehme Kühlung und so versuchte zu schlafen, wer schlafen konnte. Ich stand mit Herrn Professor Dr. Weber aus Aussig, unserem jetzigen Bischof, heraußen am Gangfenster und wir erbauten uns an der Schönheit der Gewitternacht. Gegen zwei Uhr morgens waren wir in Salzburg. Leider war von dem herrlichen Panorama, das Alexander von Humbold als eines der schönsten der Welt bezeichnet, nichts zu sehen als undurchdringlicher Nebel. Auf der nächsten Haltestelle wurde um drei Uhr früh Toilette gemachtr. Mit Handtuch und Seife ging es im Eilschritt zur Wasserleitung und es waren recht interessante Bilder, die man da zu sehen bekam. Nach vier Uhr teilte sich der Nebel und zu unserer größten Freude sahen wir bald die erhabenen Riesen der Alpenwelt. Die Tauernbahn ist unstreitig eine der schönsten Alpenbahnen. Die herrlichen Ausblicke in die Tiefen der Alpentäler und auf die schneebedeckten, in der Morgensonne glitzernden, Gipfel der Hohen Tauern werden uns unvergeßlich bleiben. Der Tauerntunnel ist acht km lang und die Fahrtdauer beträgt 20 Minuten, acht Signalstationen dienen zur Sicherung des Verkehrs. Auf besonderen Spezialwagen wurden im Tunnel bei Karbidbeleuchtung die Gewölbe ausgebessert. Die ganze Trasse ist zweigleisig. Nun kommen wir nach Hofgastein Dorf und Bad Gastein, wo Bismarck und der alte Kaiser Wilhelm regelmäßig zur Kur weilten. In schwindelnder Höhe führt die Bahntrasse. Im Tal vornehme Villen und erstklassige Hotels. Schäumende Wildwasser stürzen zu Tale und im Hintergrunde die schneebedeckten Gipfel im Sonnenglanze. Diese Ausblicke gehörten zu den schönsten der ganzen Reise. In Villach wurde um sieben Uhr früh am Perron das Frühstück verabreicht. Dann folgte in Arnoldstein Gepäck- und Paßrevision. Die nächste Station Tarvis ist schon italienisch.

Dort stand wieder unser Extrazug bereit und wir wurden recht angenehm enttäuscht. Die Waggons waren bequem und sauber. Namentlich die Wagen 2. Klasse sind unseren besten Garnituren gleichwertig. Wir hatten Glück und eroberten zwei Eckplätze, die wir dann während der ganzen Fahrt belegt hatten. Hier holten sich durstige Seelen gleich den ersten italienischen Wein, die Flasche zu drei und fünf Lire. Ein ganz erhabenes Bild bieten die italienischen Alpen. Ungeheure Gesteinsmassen türmen sich zu schwindelnder Höhe und diese Bergriesen bilden ungezählte schroffe Gebirgsketten ohne jeden Pflanzenwuchs und doch von ungeahnter Schönheit und Größe.

Wir kamen nun durch das italienische Kampfgebiet, doch ist von den Zerstörungen des Krieges fast nichts mehr zu sehen. Die demolierten Häuser sind alle wieder aufgebaut, die Granattrichter meist wieder aufgefüllt und mit Gras bewachsen, die Drahtverhaue umzäunen friedliche Gärten und Felder. Wie viele tapfere Söhne unserer Heimat schlummern hier in blutgetränkter Erde und wir alle, die wir diese denkwürdigen Stätten durcheilen, gedenken ihrer in Liebe und Ehrfurcht. In Udine war kurzer Aufenthalt. Da die Hitze fast unerträglich war, wurde die Erfrischungshalle am Bahnhof förmlich gestürmt. Der ungemein breite Tagliamento war fast ohne Wasser. Der Zug fuhr noch auf der von unseren Truppen erbauten Notbrücke. Noch zwei andere Brücken überspannen den Fluß. Ich zählte bei einer Brücke 35 Bogen. Im Flußbett lagen noch die Sandsäcke, eigentlich sind sie aus Drahtgeflecht und mit Steinen gefüllt. Dort haben unsere Soldaten den Übergang bewerkstelligt. Auch die Piave und der Po, beides gewaltige Flüsse, sind beinahe ohne Wasser. Die Poebene ist äußerst fruchtbar. Obst- und Weinbau sind vorherrschend. Die Weinreben werden spalierartig an Maulbeerbäumen gezogen. Getreide wird wenig angebaut. Die Hauptsache ist Mais.

Die oberitalienischen Dörfer haben einen ganz eigenen Baustil. Die roten Ziegeldächer sind nur wenig geneigt, oft ist gar kein Kamin zu sehen und die Fenster sind bei Tage wegen der großen Hitze mit Laden verschlossen. Die Glockentürme oder Campanile sind bei allen Kirchen ganz gleich. Industriebetriebe fehlen fast völlig.

Um fünf Uhr nachmittags kamen wir nach Venedig. Die Stadt ist durch eine 3.600 m lange Brücke mit dem Festland verbunden. Dieses Riesenbauwerk mit 222 Bogen von 10 m Spannweite ruht auf 80.000 in den Grund gerammten Lärchenstämmen. Die Stadt ist auf einem Komplex von 118 kleinen Inseln erbaut, welche durch 452 Brücken verbunden sind. Sie hat 20.000 auf Pfahlroste erbaute Häuser und ungefähr 180.000 Einwohner. Der 40 bis 60 m breite Kanal Grande scheidet die beiden Hauptstadtteile. Venedig liegt inmitten der Lagunen, das ist ein seichtes Wattenmeer, welches durch vier Wasserstraßen mit dem Meere verbunden ist. Die Schiffahrtskanäle sind durch eingerammte Pfähle gekennzeichnet. Die Stadt wurde 811 gegründet. Im Jahre 829 wurden aus Alexandrien die Reliquien des heiligen Markus nach Venedig gebracht. Zur Zeit der Kreuzzüge war die Machtfülle Venedigs am größten. Sie war damals die Beherrscherin der Adria. Istrien, Dalmatien und Kroatien gehörten dazu und ein großer Kolonialbesitz im Orient. Zahllose Kriege wurden geführt. 1204 wurde Konstantinopel erobert, die Ionischen Inseln, die albanische Küste, Cypern u.s.w. Mit Genua hat die Stadt 130 Jahre Krieg geführt, bis 1381. Unter Napoleon legte der letzte Doge seine Würde nieder. Tizian war der berühmteste Maler Venedigs.

Am Bahnhof wurden wir in Gruppen eingeteilt und fuhren dann mit dem Dampfer auf dem Kanal Grande mit seinen herrlichen Marmorpalästen in unser Absteigequartier Hotel Bella Venezuela. Nach gründlicher Reinigung ging es zur Tafel. Da gab es gleich eine Überraschung. Als Vorspeise wurde Griesbrei oder, wie es bei uns heißt, „Griespappe“ serviert. Dann gab es dunklen Braten mit Salat, Mehlspeise und Früchte. Die Speisen werden alle mit Olivenöl zubereitet und haben deshalb einen eigenartigen Beigeschmack, an den man sich erst gewöhnen muß.

Abends war Treffpunkt am Markusplatz. Mit seinem Marmorpflaster, seinen herrlichen Palästen und seiner feenhaften Beleuchtung gleicht er abends einem gewaltigen Festsaale. Man glaubt sich in ein Märchen versetzt. Die unvergleichlich schöne, mit Mosaiken geschmückte Fassade der Markuskirche mit anschließendem Dogenpalast, die neuen und alten Prokuratien [ehemals Verwaltungsgebäude] mit prunkvollen Geschäften und im Lichterglanz erstrahlenden Schaufenstern, die beim  Konzert promenierende, festlich gekleidete Menschenmenge bieten ein Bild wie aus Tausend und einer Nacht. Eine Gondelfahrt auf dem Kanal Grande beschloß den Abend. Die Gondeln waren mit Lampions geschmückt, überall ertönte Musik und Gesang. Diese herrlichen Stunden werden uns unvergeßlich bleiben.

 

Venedig Markusdom

 

 

Am nächsten Morgen war wieder Treffpunkt am Markusplatz, wo wir uns an der Taubenfütterung ergötzten. Schlag neun Uhr kamen ganze Schwärme herangeflogen zur Fütterung. Sie kennen genau den Glockenschlag; denn zu keiner anderen Stunde kommen sie in dieser Menge. Die Tiere fressen aus der Hand und sitzen oft doppelt und dreifach aufeinander, um ein Körnchen zu erhaschen. Viele Fremde lassen sich mit den Tauben auf den Händen und Armen photographieren, um so eine bleibende Erinnerung zu haben an dieses eigenartige Schauspiel. Unter italienischer Fremdenführung besuchten wir dann den Markusdom und den Dogenpalast.

Der Markusdom wurde 676 bis 1094 erbaut. An der inneren Ausschmückung wurde über 600 Jahre gearbeitet. Über 500 Säulen schmücken das Innere. 100 verschiedene Marmorarten wurden dazu verwendet. Fünf prachtvolle Portale führen in die Kirche, über ihnen sind ungemein wertvolle Mosaikgemälde angebracht. Oberhalb der Eingangshalle befinden sich vier vergoldete Bronzepferde, die ursprünglich für einen Triumphbogen Neros angefertigt wurden. Sie kamen dann nach Konstantinopel und im Jahre 1204 nach Venedig. Über 4.000 Quadratmeter Mosaikgemälde auf echtem Goldgrunde befinden sich im Inneren der Kirche. Die schönsten sind von Tizian entworfen, die wertvollsten schmücken die Sakristei. An den Schranktüren ist in Holzmosaik das Leben des heiligen Markus dargestellt. Dies wurde 1523 hergestellt und gehört zu den kostbarsten Schaustücken der Kirche. Wundervoll ist der Hochaltar. Den Hintergrund bildet eine Schmelzarbeit aus Gold und Silber, mit 2.000 Edelsteinen besetzt. Die vier Alabastersäulen sollen aus dem Tempel Salomons stammen. Auch die übrigen Altäre, die Doppelkanzel, die Taufkapelle und besonders die Schatzkammer enthalten Kunstschätze von unermeßlichem Wert. Der Altarstein soll der Granitblock sein, auf dem Jesus Christus bei der Bergpredigt saß [Mt 5,1]. Auch der Stein wurde gezeigt, auf welchem der heilige Johannes enthauptet wurde.

Der Campanile war bekanntlich im Jahre 1902 eingestürzt. Er wurde im gleichen Stile wiederaufgebaut. Er ist 98 m hoch. Die äußeren Mauern sind zwei Meter stark, die inneren 2,10 m. Zwischen beiden Mauern führt eine Rampe ohne Stufen bis zur Spitze des Turmes, der von einem Riesenengel gekrönt wird. Das Geläut umfaßt vier große Glocken. Die drei Flaggenmasten am Markusplatze sind aus Zedernholz und tragen die Fahnen der eroberten Königreiche Zypern, Kandia [Kreta] und Morea [Peloponnes].

Der Dogenpalast ist am Molo [Anlegestelle am Südflügel] 71 m und an der Piazetta [Kleiner Platz, anschließend an den Markusplatz] 75 m lang. Das Erdgeschoß wird von einer einzigartigen Spitzbogenhalle umschlossen. Oberhalb derselben befindet sich eine offene Galerie mit 71 schlanken Marmorsäulen. Die neunte und zehnte ist von rotem Marmor. Zwischen denselben wurden die Todesurteile verkündet. Besonders reich verziert ist das Eingangstor. Der prachtvolle Hof findet nicht seinesgleichen. Die herrliche Fassade mit der Riesentreppe und zwei aus Erz gegossenen Brunnen mit reichem Fuguralschmuck wirken ganz überwältigend. Auf der Treppe wurden die Dogen gekrönt. Im ersten Stockwerk befinden sich die Prunkzimmer und Säle aus der Blütezeit Venedigs. Der Saal des Großen Rates ist 52 m lang und 26 m breit. Es ist der größte existierende Prunksaal aus früherer Zeit. Die Stirnseite schmückt das Riesengemälde von Tintoretto „Das Paradies“. Mit 22 m Länge und 8 m Höhe ist es das größte Ölgemälde der Welt. Auf dem Fries oben sind alle 72 Dogen abgebildet. Ein Feld ist leer. Der dort hin gehörte, war seines hohen Amtes unwürdig geworden. Vom Rat der Zehn führt eine Treppe in die Bleikammern der berüchtigten Kerker. Hier waren die Staatsgefängnisse für politische Verbrecher. Sie wurden über die Seufzerbrücke in die Verliese geführt. Nur wenige von ihnen kamen wieder frei. Die hier enthauptet wurden, warf man durch einen Kanal direkt ins Meer. Die Gemächer der Dogen sind jetzt Museum. Im Dogenpalast befinden sich 5.000 Quadratmeter Goldmosaik. Es sind Gemälde von ungeheurem Wert. An einzelnen Bildern wurde 40 Jahre lang gearbeitet.

Am Vormittage wurde noch eine Mosaikfabrik besucht. Dort waren pächtige Arbeiten und herrliche venezianische Glaswaren ausgestellt. Am Nachmittag fuhren wir mit dem Dampfer zum Lido, einer Insel, die den beliebtesten Ausflugsort der Venezianer bildet. Der Hauptanziehungspunkt ist das riesige Strandbad mit seinen 900 Kabinen, großer Restauration, Sportplätzen und vermietbaren Strandhäuschen. Tausende Menschen erfrischten sich dort im Seebade und auch ich habe die Gelegenheit nicht versäumt. Das Wasser war aber so warm, daß man nach dem Bade keinerlei Erfrischung verspürte. Abends wollten wir noch eine Gondelfahrt unternehmen; es war aber ein Gewitter im Anzuge und da waren die Gondoliere nicht zu bewegen, hinauszufahren. Dem liegt wohl ein Aberglaube zugrunde. Wir besuchten deshalb noch eine Ausstellung herrlicher Skulpturen aus karrarischem Marmor und venezianischen Glaswaren eines deutschen Landsmannes und beschlossen den Abend in einer Pilsner Bierstube, um den in Italien immerwährenden Durst wenigstens einigermaßen zu stillen. Am nächsten Morgen ging es zur Bahn und schweren Herzens sind wir wohl alle von dieser Stadt geschieden, die nicht ihresgleichen findet in der Welt.

Unser nächstes Reiseziel war Padua, das wir nach zweistündiger Bahnfahrt ererichten. Wir mußten einen Großteil der Stadt durchwandern, ehe wir die Kathedrale des heiligen Antonius erreichten. Dort, am Grabe des großen Wundertäters, wurde vom Herrn Weihbischof Dr. Glosauer eine heilige Messe zelebriert und eine tief empfundene Ansprache gehalten. Viele Priester aus unseren Reiseteilnehmern feierten hier ebenfalls das Heilige Opfer. Die Kirche ist ein gewaltiger, vieltürmiger Bau, doch im Innern einfach und schmucklos. Nur der Altar mit dem Grabe des Heiligen bildet eine Ausnahme. Er ist reich verziert und beherrscht mit seinem hohen Aufbau die ganze Kirche. Im Hauptschiff hat jede Nation ihre eigene Kapelle. Die Schatzkammer birgt viele seltene Reliquien und Kostbarkeiten.

Von der Kirche ging es direkt wieder zur Bahn. Das Mittagessen wurde unterwegs in die Wagen gereicht. Es bestand aus mit Fleisch, Wurst oder Käse belegten Brötchen sowie aus Obst. Auch eine Flasche Wein fehlte nicht. In Bologna war kurzer Aufenthalt, dann erklomm die Bahn in vielen Windungen die Höhen des Apennin. Diese Gebirgsbahn ist eine der interessantesten ganz Italiens. In 46 großen und kleinen Tunnels durchbricht sie den gewaltigen Gebirgskamm. Hohe Viadukte überspannen Täler und Schluchten. Nachdem der höchste Punkt überschritten ist, bietet sich dem Auge eine wunderbare Fernsicht über die mit Villen und Landhäusern übersäte toskanische Ebene mit ihren Obsthainen, silbern schimmernden Ölbäumen, dunklen Steineichen und ungezählten Weinpflanzungen. Nadelhölzer, schlanke Cypressen und hochstämmige Pinien beherrschen das Bild und geben der Landschaft das charakteristische italienische Gepräge.

Bald wird in weiter Ferne in tiefer Ebene Florenz sichtbar, mit seinem Häusermeer, seinen Türmen und Kuppeln. Wir passieren Fiesole, eine alte Stadt, von den Etruskern gegründet mit historischem Dom und berühmten Ausgrabungen der Römerzeit. Von der höchsten Erhebung der Stadt grüßt das berühmte Franziskanerkloster San Francesco und gibt dem Landschaftsbild einen besonderen Reiz. Gegen sechs Uhr abends waren wir in Florenz.

Unser Gepäck wurde von den Hotels abhgeholt und wir gingen zu Fuß in unsere Quartiere. Wir waren dem Hotel „Weißer Stern“ zugeteilt, einem Hotel ersten Ranges, und zwar umfaßte unsere Gruppe 80 Personen. Der Speisesaal war ein prächtiger, palmengeschmückter Raum. Elekrtische Ventilatoren sorgten für kühlende Lufterneuerung. Kellner in tadellosem Salonanzug servierten, auch die Speisen schmeckten vorzüglich. Natürlich waren die Preise dementsprechend. Wir bezahlten für eine Flasche Bier sechs Lire oder neun Kronen, für Mineralwasser fünf Lire und für guten Tischwein ebenfalls sechs Lire. Bei allen Mahlzeiten wurde in Schüsseln Kristalleis herumgereicht und alle Getränke wurden erst mit Eis gekühlt, um doch einigermaßen zu erfrischen. Dieser Tag war einer der heißesten und noch die halbe Nacht haben wir uns auf unseren Lagern herumgewälzt, da wir vor Hitze nicht schlafen konnten. Das Wasser in der Leitung war so warm, daß uns auch Waschungen keine Abkühlung brachten.

Am nächsten Tag feierte Herr Katechet Tietze iIm Dom zu Florenz feierte er sein zehnjähriges Priesterjubiläum. Ich habe ihm im Namen unserer einheimischen Bevölkerung die herzlichsten Segenswünsche übermittelt und ihm gedankt für seine unermüdliche Arbeit, besonders für seine Bemühungen um unsere Jugend. Diese Feierstunde werde ich nie vergessen. Weil kein Meßdiener da war, wollten die beiden geistlichen Herren, Herr Katechet und Herr Dr. Weber einander aushelfen. Der Jubilar mußte beginnen und ich als einziger Andächtiger habe mich erbaut an der Demut und tiefen Frömmigkeit, mit welcher Herr Professor Dr. Weber, unser jetziger hochwürdiger Herr Bischof, seinem um vieles jüngeren Mitbruder am Altare diente.

Die erste Besichtigung galt dem Dom. Er ist 169 m lang und 104 m breit, also eine der größten Kirchen Italiens. Die Kuppel ist 107 m hoch und hat einen Durchmesser von 46 m. Die ganze äußere Fassade des riesigen Baus ist mit vierfarbigen Marmorplatten bekleidet und bietet einen herrlichen Anblick. Im gleichen Stile erhebt sich neben der Kirche der 84 m hohe Campanile in toskanischer Gotik. Er gilt als der schönste Turm Italiens. Drei Bronzetüren führen in das Innere des Domes. So prächtig das Äußere des Domes ist, so einfach und schmucklos das Innere. Unter der Kuppel befindet sich in der Mitte des Domes der gewaltige Chor, von Marmorschranken umgeben.

Noch berühmter sind die Bronzetüren am gegenüberliegenden Baptisterium der Taufkirche, welche Szenen aus dem Alten Testament enthalten. Der nächste Weg führt uns in die alte Servitenkirche Santissima Anunziata, die eine äußerst kostbare Kapelle mit einem wundertätigen Marienbild enthält, das nur selten gezeigt wird. Dieses Bild, auf kostbarem Stoff gemalt, hat einen ungemein hohen Wert und ist mit doppelten eisernen Rollos verschlossen. Auch der Altar enthält Schmuck aus gediegenem Silber. Eine kurze, aber tief empfundene Andacht mit anschließendem Marienlied vereinigte alle Teilnehmer in dem kleinen Heiligtum.

Nun galt es, die weltberühmten Kunstsammlungen zu besichtigen! Zuerst wurde der historische Palazzo Vecchio mit seinem imposanten, 94 m hohen Turm, einst Regierungsgebäude, jetzt städtisches Rathaus, besucht. Erbaut wurde es 1298 in der Form eines Kastells. Riesige Marmorstatuen flankieren den Eingang und schmücken Höfe und Innenräume. Die Säle enthalten Gemälde aus der Vergangenheit der Stadt und der Familie Medici, herrliche alte Skulpturen, andere Kunstgegenstände und Sammlungen. Westlich davon befindet sich in einer prächtigen Bogenhalle die berühmte Loggia dei Lanzi mit antiken Statuen bekannter Meister. Die wertvollste und größte Gemäldegalerie der Welt ist wohl außer dem Vatikan jene in den Uffizien in Florenz. Herrliche Bilder von Raffael, Michelangelo, Tizian, Rubens, Dürer, Botticelli, Tintoretto, Van Dyk, Holbein, Leonardo da Vinci und alter berühmter italienischer Meister sind hier vereinigt. Hier wird es auch den Laien verständlich, daß Italien das Reiseziel und die Sehnsucht aller bildenden Künstler bedeutet.

Ein 600 m langer Verbindungsgang, der ebenfalls eine Unzahl von Gemälden enthält, verbindet die Uffizien mit dem Palazzo Pitti. Diese Galerie enthält ebenfalls über 500 Gemälde berühmter Meister und außerdem die königlichen Gemächer, die wir aber wegen Zeitmangels nicht besuchen konnten. Nachmittags wurde die Kirche und das Dominikanerkloster San Marco besucht, erbaut von Michelangelo. Hier lebte auch Savonarola und in seiner Zelle sind noch seine Kleider, Andachtsbücher und sein Kreuz aufbewahrt.

Der heilige Antonin wurde aus einer dieser Zellen auf den erzbischöflichen Stuhl berufen. Der Giardino Boboli, der königliche Garten aus dem 16. Jahrhundert, wird als einer der schönsten der Welt bezeichnet. Wir wanderten dann über den Ponte Vecchio mit seinen Goldschmiedeläden, die wie Schwalbennester an der Brücke kleben, den Arno entlang zur Terrasse von San Miniato. Hier genießt man einen herrlichen Ausblick über die Stadt bis zu den Höhen des Apennin. Oben am Berge liegt ein typisch italienischer Friedhof. Gräber in unserem Sinne gibt es nicht, sondern eine Steinplatte reiht sich an die andere, eine waagerechte Fläche bildend und ohne jeden Pflanzenschmuck. Zum Teil sind es senkrechte Mauern. Die Särge werden in Grabnischen eingeschoben. Ich war ungemein enttäuscht von diesem monotonen Steinhaufen. Die hohen Cypressen am Hauptwege bildeten den einzigen Schmuck der ganzen Anlage. Von dieser Stelle aus hat Michelangelo im Jahre 1530 seine Vaterstadt verteidigt. Der heilige Minias erlitt hier den Martertod. Die Benediktiner haben ihm zu Ehren eine prächtige Basilika erbaut mit vielen kostbaren Gemälden.

Nach dem Abendessen erfolgte die Abreise nach Rom. Dort kamen wir am 22. Juli 1923 gegen sechs Uhr früh an. Schon Stunden vorher führte uns der Zug durch die endlosen Gegenden der Campagna. Dort bilden mageres Getreide und dürftiger Graswuchs die Hauptvegetation. Die Bahndämme sind bewachsen. Überall erinnern Ruinen an vergangene Zeiten. Vor der Hauptfront des Bahnhofs in Rom erhebt sich ein Obelisk, der aus der Zeit Ramses II. 1400 vor Christus stammt., wie aus der Inschrift ersichtlich ist. Mit Kraftwagen fuhren wir durch die Stadt in das Hospiz Sankt Martha. Es ist eine ganz eigene Empfindung, wenn man zum ersten Male den Sankt Petersplatz betritt, den großartigen Vorhof der schönsten und größten Kirche der Welt. Riesige vierteilige Kolonnaden umschließen den Platz, in dessen Mitte der 25,5 m hohe Obelisk steht, den Sixtus V. 1586 hier aufstellen ließ. Kolossale prächtige Springbrunnen befinden sich zu beiden Seiten. Im Hintergrund der Petersdom mit seiner Riesenkuppel und anschließend der Vatikan. Fürwahr ein Bild, wie man es sich großartiger nicht denken kann. Auf jeden Besucher macht es einen gewaltigen Eindruck. Im Campo Santo Teutonico, dem deutschen Friedhof mit der deutschen Nationalkirche, der unmittelbart neben der Peterskirche liegt, fand durch den Rektor der deutschen Anima die feierliche Begrüßung statt. Nach dem Frühstück war natürlich unser erster Weg nach Sankt Peter. Wie der Petersplatz macht auch der Petersdom einen überwältigenden Eindruck auf den Besucher. Staunend bewunderten wir die Riesenmaße dieses Bauwerks, die uns erst allmählich zum Bewußtsein kamen. Die innere Länge beträgt 188 m, das Querschiff ist 137 m lang. Die Kuppel ist innen 123 m hoch und hat einen Durchmasser von 42,5 m. Die äußere Höhe bis zur Spitze des Kreuzes beträgt 132,5 m. Der Flächeninhalt der Kirche beträgt über 15.000 Quadratmeter. Die Statuen auf der Balustrade der Vorderfront sind 5,7 m hoch. Ebenso hoch sind die Figuren in den Nischen der Kuppelpfeiler. Im linken Seitenschiff ist neben der Taufkapelle der Aufgang zur Kuppel. Ein spiralförmiger Gang führt bis auf das Dach der Kirche. Von dort ist die Riesenkuppel noch 94 m hoch. Zwischen den doppelten Wänden führen Treppen bis zur Laterne. Von dort genießt man eine herrliche Aussicht über die Ewige Stadt und die Campagna.. Im Bronzekopf, den man auf senkrechten Eisenleitern ersteigen kann, haben noch 15 Personen Platz. Ich war auch drin, doch ist der Aufenthalt in derselben infolge der fast unerträglichen Hitze nicht angenehm. Auf dem Dach des Petersdoms befinden sich eine ganze Menge Häuser, die von 200 Personen, den Bediensteten der Kirche, bewohnt werden.

Nun etwas über das Innere! Die herrlichen Altäre, die kostbaren Mosaikbilder und die von den größten Künstlern aller Zeiten entworfenen und ausgeführten Grabdenkmäler der Päpste näher zu schildern, dazu gehören berufene Personen mit reichem Kunstverständnis. Aber auch der Laie wird sich dessen bewußt, daß so viel Schönes, Erhabenes und Großartiges kein anderes Gotteshaus bietet auf der ganzen Welt. Im Mittelpunkt der Kirche ist das Grabmal des Apostelfürsten mit dem Hochaltar, an welchem nur der Papst die Heilige Messe feiert. Vor denselben die sogenannte Konfessio mit 95 immer brennenden Lampen. Eine Doppeltreppe führt hinab zum Apostelgrab. Die Krypta ist groß und geräumig. Zahlreiche Päpste sind hier beigesetzt und an den Altären wird täglich zelebriert. Auch Herr Katechet hat hier am Apostelgrab die Heilige Messe gelesen. Mir werden diese Eindrücke unvergeßlich bleiben. Die Säulen, welche den Baldachin über dem Apostelgrab tragen, sind 29 m hoch. Vor der Sakramentskapelle befindet sich am Mittelpfeiler eine Bronzestatue Sankt Peters, welche ganz besonders verehrt wird, auch von Seiten des Papstes. Die Hauptorgel ist unweit des Hochaltares auf den Loggien untergebracht. Eine herrliche Orgel enthält auch die Chorkapelle, in welcher meist die kirchlichen Feiern und Gottesdienste abgehalten werden. Wenn hier gesungen und Orgel gespielt wird, hört man im anderen Seitenschiff der Kirche nur einen leisen Widerhall wie aus weiter Ferne; so gewaltig ist die Größe des Raumes. Eine dritte Orgel ist fahrbar und wird hingeschafft, wo gerade Gottesdienst gehalten wird. Das Herrlichste aber ist die unbeschreiblich schöne Kuppel, die innen bis hinauf zur Laterne mit Mosaikbildern geschmückt ist. Ihr Schöpfer ist Michelangelo und nach seinen Plänen wurde sie auch vollendet. Auf zwei Rundgängen kann man in schwindelnder Höhe die herrlichen Mosaiken bewundern und die Riesengröße der Kuppel kommt einem erst dort recht zu Bewußtsein. Ganz sicher ist sie eines der großartigsten Bauwerke der Welt. Sämtliche Gemälde des Petersdomes, mit Ausnahme eines einzigen, das auf Schiefer gemalt ist, sind Mosaik und lange Zeit wurde an denselben gearbeitet. Sie sind von unvergleichlicher Schönheit. Von Michelangelo befindet sich noch ein zweites Meisterwerk im Petersdom, seine weltberühmte Pietà, die schmerzhafte Mutter Gottes, eines der besten Werke der Bildhauerkunst. Auf dem Fußboden sind die Maße der größten Kirchen der Welt angegeben und zwar in Metern. Herrlich sind auch die zwei riesigen Weihwasserbecken an den Eingangspfeilern, die von Engeln in gigantischer Größe gehalten werden. Wir konnten ja bei unserem flüchtigen Rundgang nur das Schönste und Sehenswerteste näher betrachten. Unser Führer, ein junger Professor aus dem Dominikanerorden, behauptete, wir müßten wenigstens vier Wochen in Rom bleiben, wenn wir alles Wichtige besichtigen wollten.

Im Hospiz, das von französischen Schwestern geleitet wurde, hatten wir volle Verpflegung. Die Mahlzeiten wurden im gemeinsamen Speisesaal eingenommen. Das Essen war gut und reichlich. Mittags und abends gab es zu jedem Gedeck eine Flasche Wein. Leute aus allen Ständen, Professoren und Arbeiter, saßen nebeneinander. Auch dem Herrn Bischof wurde das Gleiche serviert. Nach Tisch war eine Ruhepause bis drei Uhr.

Wir besuchten dann die Basilika San Giovanni im Lateran, die Haupt- und Mutterkirche. Sie wurde von unserem Führer als die vornehmste Kirche der Christenheit bezeichnet. Die Größenverhältnisse sind ebenfalls ganz gewaltig. Die innere Höhe wird der von Sankt Peter nur wenig nachstehen. Auch die riesige Hauptfassade mit 15 Hauptfiguren erinnert an Sankt Peter. Das Innere ist mit auserlesener Pracht ausgestattet. Herrliche Altäre von seltenstem Marmor, wundervolle Mosaiken und prächtige Grabmäler früherer Päpste an vielen Stellen. Namentlich Leo XIII. hat dieser Kirche seine besondere Fürsoge gewidmet und wollte auch hier beigesetzt sein. Sein schönes Grabmal wurde fertiggestellt, doch die Überführung noch nicht vollzogen. Der gotische Hochaltar birgt viele Reliquien, darunter die Köpfe der Apostelfürsten Petrus und Paulus. Der Sakramentsaltar hat vergoldete Erzsäulen, die aus dem kapitolischen Zeustempel stammen. Auch die reich vergoldete Orgel ist ein Meisterwerk. Zahlreiche kostbare antike Säulen schmücken das Innere. Vor der Kirche steht der größte der römischen Obelisken, 47 m hoch, der von Heliopolis nach Rom gebracht und im Zirkus Maximus aufgestellt wurde. 1587 kam er auf seine jetzige Stelle. An die Basilika schließt sich der Lateranpalast, der vor dem Bau des Vatikans die Residenz der Päpste bildete. Der jetzige Bau ist nur der vierte Teil des Gebäudekomplexes und dient als Museum, das wir aber wegen Zeitmangels nicht besuchen konnten. Daneben steht das Baptisterium, die älteste Taufkapelle Roms, in der auch Konstantin der Große die Taufe empfangen haben soll. Auch jetzt werden dort noch Erwachsene getauft. Das grüne Taufbecken füllt die Mitte der Kapelle vollständig aus. Herrliche Porphyr- und Alabastersäulen schmücken das Innere. Interessant ist eine antike Bronzetür, deren Flügel beim Öffnen und Schließen Töne von wunderbarer Klarheit, vom feinsten Pianissimo bis zu kraftvoller Stärke hervorbringen. Auch die Sancta Scala, die Heilige Stiege, ist ganz in der Nähe. Es ist eine von der heiligen Helena nach Rom gebrachte Treppe vom Haus des Pilatus. Eine Nachbildung davon ist auch im Rumburger Kloster.

Unser nächstes Ziel war die schönste und größte Marienkirche Santa Maria Maggiore. Sie wurde schon 352 gegründet. Vierzig weiße Marmorsäulen tragen das Mittelschiff. Gleich der Peterskirche befindet sich auch hier eine vermauerte Heilige Pforte, die Porta Santa, die nur alle 25 Jahre am jeweiligen 24. Dezember unter großer Feierlichkeit geöffnet wird. Hier befinden sich Mosaiken aus dem 5. Jahrhundert. Auf dem Hochaltare ruhen die Gebeine des Apostels Matthias. Auch die Reste der heiligen Krippe werden hier aufbewahrt. Eine herrliche Arbeit ist die kostbare Decke, zu deren Ausschmückung das erste von Amerika herübergekommene Gold verwendet wurde. Die wertvollsten Kapellen sind die Sixtinische mit dem prächtigen Sakramentsaltar und den Grabmälern zweier Päpste [Pius V. und Sixtus V.] sowie die Borghesische oder Paolinische mit dem wundertätigen Madonnabilde „Heil des Römischen Volkes“, das vom heiligen Lukas stammen soll. Auch hier haben zwei Päpste [Clemens VIII. und Paul V.]  ihre letzte Ruhestatt gefunden. Am 5. August wird das Fest des wunderbaren Schneefalls gefeiert, der die Basilika ihre Entstehung verdankt.

In der Nähe befinden sich die ältesten Kirche Roms, die der heiligen Pudentiana und der heiligen Praxedis geweiht sind. Beide waren Schwestern. In den unterirdischen Gebäuden von Santa Pudenziana soll der heilige Petrus, der hier beim Senator Pudens wohnte, Andachten gefeiert haben. In der Kirche der heiligen Praxedis wurde gerade die jährliche Gedächtnisfeier abgehalten. Auch hier befanden sich viele kostbare Reliquien, darunter Splitter vom Kreuze Christi und ein Stumpf der Säule, an welcher der Heiland gegeißelt wurde. Im Mittelschiff sieht man die Einfassung eines Brunnens, in welchem die heilige Praxedis die Leiber der Märtyrer verbarg. In der Konfessio ruhen außer den beiden Schwestern die Gebeine von 2.300 Märtyrern.

In Rom wird der heilige Laurentius, welcher der Patron unserer Kirche in Deutsch-Gabel ist, besonders verehrt. Er fand auf einem glühenden Rost den Martertod. Seine Reliquien befinden sich in San Lorenzo, eine der sieben Pilgerkirchen Roms.

Vor Durst klebte die Zunge am Gaumen. Unser Hospiz wurde um zehn Uhr abends zugesperrt. Doch einige Reisegefährten ließen sich durchs Gittertor den edlen Gerstensaft reichen, um den tagsüber vergossenen Schweiß wenigstens einigermaßen zu ersetzen.

Der nächste Vormittag war den vatikanischen Sammlungen gewidmet. Eine fast ununterbrochene Reihe von Kraftwagen zeigte uns den Weg. Man konnte dort viele Sprachen vernehmen. Diese Museen bergen Kunstschätze von so unermesslichem Wert und in solcher Fülle, wie keine andere Sammlung der Welt. Die schönsten Werke der Bildhauerkunst sind hier in Originalen vertreten; ebenso ist es mit den Gemälden. Die kostbaren Stanzen und Fresken Raffaels sind die vollendesten Schöpfungen seines Lebens. Die Sixtinische Kapelle ist die Hauskapelle des Papstes. Die Deckenbilder Michelangelos sind ohnegleichen. Sie stellen die berühmten Sibyllen und Propheten sowie in neun Feldern Szenen von der Erschaffung der Welt und anderer Bilder aus dem Alten Testamente dar. Das Kolossalgemälde über dem Hochaltare, das Jüngste Gericht darstellend, ist 20 m hoch und 14 m breit. Einer der gestürzten Engel trägt die Gesichtszüge eines hohen Kirchenfürsten, der Michelangelo nicht wohlgesonnen war. Er beschwerte sich mit bitteren Worten beim Papst über diese Ungeheuerlichkeit und verlangte die Entfernung des Bildes. Der Papst soll den Kopf geschüttelt und ihm gesagt haben: „Ja, wenn Sie im Fegefeuer wären, ließe sich wohl noch darüber reden, aber bis zur Hölle reicht die Macht des Papstes nicht!“ Das Bild blieb, wie es gemalt war. Die Wandgemälde der Kapelle sind von florentinischen und umbrischen Meistern und enthalten Bilder aus dem Leben Moses’ und Christi.

Die Vatikanische Bibliothek ist mit 34.000 Handschriften und etwa 300.000 Bänden eine der bedeutendsten der Welt. Kaum eine kommt ihr an kostbaren und seltenen Handschriften gleich. Sie enthält auch viele Geschenke hoher Fürstlichkeiten und Regenten. Die prachtvollen Räume sind mit Gemälden und Skulpturen reich geschmückt. Der große Saal ist 70 m lang, 14 breit und 9 m hoch.

Unser nächster Besuch galt den Vatikanischen Gärten. Die landschaftliche Anlage, das vertiefte Blumenparterre, der Eichenhain mit seinen über Felsgestein stürzenden Wassermassen, die blühenden Oleander und blau schimmernden Eukalyptusbäume, Lorbeerhecken und Dattelpalmen waren auch für den Fachmann interessant, doch seltene Pflanzenarten nur wenig vorhanden.

Unter Führung des Herrn Professor Weber, der in Rom studiert hatte, besuchten wir am Nachmittag den Monte Pincio, die bedeutendste Gartenanlage Roms. Die Pflege dieser Anlage ließ viel zu wünschen übrig. Blumenschmuck fehlte fast völlig. Von der Terrasse genießt man eine wunderschöne Aussicht über die Stadt und ihre Umgebung. An den Hauptwegen sind Büsten berühmter Männer aufgestellt. Ein gewaltiges Denkmal zeigt einen Soldaten, der mit geradezu fanatischem Gesichtsausdruck eine Handgranate schleudert. Er war bereits tödlich verwundet und verhinderte durch diesen Granatenwurf seine Gefangennahme.

Vor der Terrasse befindet sich die Piazza del Popolo mit einem Obelisken aus dem 12. Jahrhundert vor Christus. Hier steht die Kirche Santa Maria del Popolo. Sie enthält viele hervorragende Kunstwerke und Gemälde berühmter Maler. Im angrenzenden Augustinerkloster hat Luther in den Jahren 1510 bis 1511 gewohnt. In Rom gibt es auch das Bohemikum, das Seminar für böhmische Theologiestudenten.

Der Quirinalpalast, die Residenz des Königs, ist ein einfacher, langgestreckter Bau ohne architektonischen Schmuck. Schräg gegenüber befindet sich ein Kloster mit dem Sterbezimmer und der Grabstätte des heiligen Stanislaus Kostka. Unter dem Quirinal führt ein 320 m langer und 20 m breiter Straßentunnel zur Via Nazionale, der schönsten Straße Roms, mit vielen historischen Palästen und anderen Prachtbauten. Am Ende derselben, an der Piazza Venezia, steht am Nordabhang des Kapitolinischen Hügels das gewaltige Nationaldenkmal für König Viktor Emanuel II., das größte Monument Italiens. Die großartige Treppenanlage führt zunächst zu einer Plattform mit dem sogenannten Altar des Vaterlandes. Auf der Terrasse befindet sich das 12 m hohe Bronzestandbild des Königs, das von 14 weiblichen Figuren, die größten Städte Italiens darstellend, umgeben ist. Den Hintergrund bildet die mächtige Säulenhalle, die von 16 Riesenstatuen gekrönt wird. Sie versinnbildlichen die Provinzen des Königreiches. Im Bauwerk zeigen sich bereits Risse, die Reparaturen notwendig machen. Bei der Überprüfung der Baurechnungen ergab sich, daß der Staat um 40 Millionen Lire beschwindelt wurde.

Das nächste Ziel war das Collegio Romano, mit der Universität Gregoriana, dem Gymnasium und der berühmten Sternwarte der Jesuiten. Mittags wird dort das Zeichen für den zu lösenden Böllerschuß gegeben. In der vom Kolleg eingeschlossenen Barockkirche Sant’ Ignazio liegt auch der heilige Aloisius begraben. Wir verweilten an seiner Ruhestätte in weihevoller Ergriffenheit. Die Kirchenbesucher allerdings sitzen in allen möglichen und unmöglichen Stellungen nichts weniger als andächtig auf ihren Plätzen, indem sie oft zwei oder gar drei Stühle benutzen, um es sich recht bequem zu machen. Auch vom Falten der Hände beim Gebet war keine Rede. Man hatte mehr den Eindruck, daß wir in einem Kaffeehaus wären als in einer Kirche.

Danach besuchten wir die Kirche San Pietro in Vincoli, in der die Ketten Petri aufbewahrt werden. Hier befindet sich die berühmte Mosesstatue von Michelangelo. Am nächsten Tage traf ich im Kaffeehaus zwei Herren aus Hohenelbe, die mir erzählten, daß sie an dieser Stelle bei hellem Tageslichte von Straßenräubern überfallen und ausgeraubt wurden. Sie mußten infolgedessen die Heimreise antreten. Ich wollte an diesem Abend noch allein die Engelsburg besuchen. Nach dieser Mitteilung habe ich es allerdings unterlassen. Beim Nachtmahl wurde uns mitgeteilt, daß wir uns am nächsten Morgen um sieben Uhr zum gemeinsamen Gang in die vatikanischen Gemächer zur Papstmesse versammeln sollten. Den Damen wurde die Pflicht auferlegt, in geschlossenen Kleidern und mit schwarzer Kopfbedeckung zu erscheinen.

 Der nächste Morgen war nun der Höhepunkt unserer Pilgerfahrt. Uns allen, die wir das Glück hatten, der Papstmesse beizuwohnen und den Leib des Herrn aus der Hand des heiligen Vaters zu empfangen, wird diese erhebende, tief zu Herzen gehende Feier unvergeßlich bleiben. Um 6 Uhr eilten wir in die Krypta zu Sankt Peter. Dort feierte der Herr Katechet das Heilige Opfer am Grabe des Apostelfürsten. Dann ging es in geschlossenem Zuge durch zahlreiche Gänge und Höfe in die vatikanischen Gemächer. Die Schweizer Garde in ihren malerischen Trachten, mit Hellebarden bewaffnet, bewachten die Eingänge. Nobelgardisten oblagen im Inneren ihrem Dienst. Der Vatikan mit seinen ungefähr tausend Zimmern, Sälen und anderen Räumen ist bekanntlich eines der größten Gebäude der Welt. Die Säle und Gänge, die wir durchschritten, enthielten herrliche Wand- und Deckengemälde sowie reichen architektonischen Schmuck.

Ein kleiner Saal war zur Kapelle umgewandelt und mit dunkelrotem Tuche drapiert worden. Der Altar enthielt außer dem vergoldeten Kreuze und ebensolchen Leuchtern keinerlei Schmuck. Gerade diese Einfachheit, die durch kein Bild und keine Statue gestört wurde, wirkte so erhebend und feierlich. Auf schmalen, mit Stoff belegten Bänken nahmen wir Platz. Feierliche Stille herrschte in dem Raume, als der Heilige Vater unter Vorantritt seines engeren Gefolges und zweier Nobelgardisten die Kapelle betrat. Nach den vorgeschriebenen Gebeten und der Bekleidung mit Meßgewändern begann die heilige Handlung. Weihevolle Andacht erfüllte unsere Herzen. Im Geiste weilten wir wohl alle bei unseren Lieben in der Heimat und schlossen sie ein in unser Gebet. Als wir dann zur Kommunionbank schritten und aus den Händen des Stellvertreters Jesu Christi den Heiland in unser Herz aufnehmen konnten, wie war da unsere Seele erfüllt von heiliger Freude und vergessen waren alle Mühen der weiten Reise. Unauslöschlich ist diese Weihestunde eingegraben in unser Gedächtnis, ebenso die liebevollen Worte, die der Vater der Christenheit in unserer Muttersprache an uns richtete. Als wir dann kniend für uns und unsere Lieben daheim seinen heiligen Segen empfingen, waren wir alle tief ergriffen. Im Damaskushofe versammelten sich die Teilnehmer zu einer Lichtbildaufnahme und in gehobener, freudiger Stimmung ging es dann zum Frühstück.

Der Nachmittag des Tages war dem antiken Rom gewidmet. Mit der Straßenbahn fuhren wir zum Kolosseum, dem großen Amphitheater, das unter Flavius im Jahre 80 nach Christus vollendet wurde und 50.000 Zuschauer fassen konnte. Seine Längsachse beträgt 188 m. Der Petersdom hat eine entsprechende Längsachse. Die Breite beträgt 156 m, die Höhe der vier Stockwerke ist 48 m. Erdbeben brachten einige Mauern zum Einsturz, darüber hinaus wurde der gewaltige Bau als Steinbruch benutzt. Die Riesenquadern dienten dem Bau von Kirchen und Palästen. Bekannt ist, daß unter Kaiser Nero hier Christen von wilden Tieren zerrissen wurden. Als wir oben standen und sich der ungeheure Raum vor unseren Blicken weitete, gedachten wir der heldenmütigen Bekennerschar in Ehrfurcht und Bewunderung. Für ihre christliche Überzeugung erduldeten sie Leid und opferten ihr Leben. Beim Eucharistischen Weltkongreß im Jahre 1922 haben an dieser geweihten Stätte viele Kinder Roms gemeinsam das Himmelsbrot empfangen.

Neben dem Kolosseum steht der Konstantinsbogen, den das Volk im Jahre 316 dem Kaiser nach seinem Sieg über Maxentius errichten ließ. Duch den Titusbogen, der unter Domitius 81 nach Christus vollendet wurde, betraten wir nun das Forum Romanum, das Zentrum des Alten Roms. Rechts sind die gewaltigen Ruinen des Venustempels sichtbar, den Hadrian im Jahre 134 nach eigenen Entwürfen erbaien ließ. In seine Ruinen wurde im 7. Jahrhundert eine Kirche eingebaut. Wir durchschreiten die Via Sacra, die heilige Straße der Triumphzüge und erblicken rechts zunächst die Konstantinsbasilika, von Kaiser Maxentius erbaut. Das Riesenbauwerk ist nur unvollständig erhalten. Säulenstümpfe aus rotem Porphyr zeugen von der einstigen Pracht. In dem Rundtempel, den Maxentius im Jahre 307 errichtete, ist ebenfalls eine Kirche eingebaut. An einer Begräbnisstätte aus dem 7. und 8. Jahrhundert vor Christus vorübergehend, gelangen wir zum Faustinatempel. Die Vorhalle mit zehn prächtigen, 17 m hohen Säulen aus weißem Marmor sind zum Teil noch erhalten. Die Basilika Aemilia wurde wiederholt umgebaut und diente verschiedenen Zwecken. Es folgen Überreste antiker Tempel, Denkmäler, Säulen, Basiliken und anderen öffentlichen Gebäuden. Über 2000 Jahre alte Kanalanlagen sind erhalten und werden zum Teil noch zur Entwässerung benutzt. Gut erhalten ist auch der Severusbogen, der diesem Kaiser nach seinem Sieg über die Parther im Jahre 203 errichtet wurde.

Links der Straße steht der Tempel des Divus Julius, an dessen Westseite im Jahre 44 vor Christus die Leiche Cäsars verbrannt wurde. Interessant sind auch die Überreste des Atrium Vestae, dem 70 m langen Wohnhaus der Priesterinnen der Göttin Vesta. In ihrem Tempel brannte das Heilige Feuer, das von den Vestalischen Jungfrauen gehütet wurde. Sie holten auch Wasser aus der Heiligen Quelle der Nymphe Egeria, das für die Tempelreinigung benötigt wurde. Im Hofraum stehen Bildsäulen der Priesterinnen. Imposant sind auch die Ruinen der 105 m langen Basilika Julia, von Julius Caesar 46 vor Christus vollendet. Dort fanden Gerichts- und Volksversammlungen statt. Die Kirche Santa Maria Antiqua ist in ein antikes Gebäude hineingebaut. Sie enthält Fresken aus dem 8. Jahrhundert nach Christus.

Nun gelangen wir zu einer großen Rampe, die in vierfachen Windungen zur Höhe des Palatins hinaufführt. Hier findet gerade eine Volksversammlung statt. Ein Agitator hält eine politische Rede, um Anhänger zu gewinnen. Unbekümmert sitzt dort ein junges Weib aus dem Volk und nährt ihren Säugling. Am Palatinischen Hügel erbauten sich die Kaiser Augustus, Tiberius, Domitian, Hadrianus und Septimus Severus großartige Paläste und statteten sie mit kostbaren Gesteinen und Edelmetallen in verschwenderischer Pracht aus. Von  all dieser Herrlichkeit ist nur ein Teil der Mauern erhalten. Zahlreiche Tempel, interessante Badeanlagen und uralte Zisternen befinden sich hier in bunter Reihenfolge. Zu erwähnen ist das Haus der Livia, der Mutter des Tiberius und späteren Gemahlin des Augustus, von dem drei Wohnräume und einige Wandgemälde erhalten sind. Auch die Überreste einer antiken Zentralheizung sind vorhanden. Schöne Gartenanlagen schmücken den Palatinischen Hügel. Uralte Steineichen bezeugen, daß dieselben bereits seit Jahrhunderten ihr schützendes Laubdach entfalten. Die herrlichen Palmen, Kakteen, Myrthen und Lorbeerbäume wurden freilich erst vor wenigen Jahrzehnten angepflanzt. Am Fuße des Palatins befindet sich das Lupercal, die Höhle der Wölfin, in der nach der Sage die Zwillinge Romulus und Remus gefunden wurden, sowie die Hütte des Romulus.

Die größte Anlage ist der Zirkus Maximus, dessen Sitzreihen 200.000 Zuschauer fassen konnten. Von der Höhe des Berges kann man den ganzen Riesenbau überblicken, von dem aber nur die Grundmauern vorhanden sind. Die beiden großen Obelisken beim Lateran und auf der Piazza del Popolo befanden sich einstmals in diesem Zirkus, der mit erlesener Pracht ausgestattet war.

Das Kapitol ist der kleinste der Sieben Hügel des antiken Roms. Hier befand sich der wichtigste Tempel Roms, der Juppiter, Juno und Minerva geweiht war. Der Kapitolsplatz mit der Reiterstatue Mark Aurels wurde von Michelangelo entworfen. In den Kapitolinischen Museen sind Werke wie der Dornauszieher und die Kapitolinische Wölfin mit den Knaben Romulus und Remus zu sehen.

Das Forum Boarium ist der Marktplatz des antiken Roms, das vor allem als Viehmarkt diente. Das Velabrum ist das antike Handels- und Gewerbequartier mit uralten Heiligtümern sowie der Cloaca Maxima. Beimm Velabrum war ein Sumpf, in dem der Hirte Faustulus die Knaben Romulus und Remus gefunden haben soll.

Wir waren im Gefängnis des heiligen Petrus, ein in Felsen gehauenes Verlies, in dem die wunderbare Quelle fließt, welche nach dem Verlangen des Apostels entsprang, um seinem Kerkermeister die Heilige Taufe spenden zu können.

Müde und abgespannt sind wir dann heimgekehrt nach Sankt Martha. Nach dem Abendessen versammelten sich die durstigen Reiseteilnehmer in der kleinen Osteria nebenan. Wohl zum ersten Male nach den langen Kriegsjahren ertönten hier im Zentrum der Ewigen Stadt deutsche Volkslieder bei frohem Becherklang in die sternenklare Nacht hinaus.

Der letzte Tag war den Katakomben und der Basilika des heiligen Petrus gewidmet. In 54 Automobilen wurden wir abgeholt. In rasender Fahrt ging es durch die ganze Stadt bis zum Reiterstandbild Garibaldis, das inmitten schöner Parkanlagen auf einer Anhöhe thront. Bald kamen wir in die uralte, mit historischen Bauwerken und Ruinen reich ausgestatteten Römerstraße, die Via Appia. Die Kirche Domine quo vadis bezeichnet den Ort, an dem der Legende nach der aus dem Gefängnis entflohene Apostel Petrus dem Herrn begegnet sein soll, der auf die Frage: Herr, wohin gehst Du?, antwortete: Ich gehe, um mich ein zweites Mal kreuzigen zu lassen.

Nach römischem Gesetz sind keine Beisetzungen innerhalb der Stadt erlaubt. Vor den Toren Roms fand man mehr als 50 Begräbnisstätten (Katakomben), in einer Gesamtlänge von 40 km. Eine der größten ist die des heiligen Calixtus. Die sich kreuzenden Gänge liegen in drei bis fünf Stockwerken untereinander und sind durch Treppen miteinander verbunden. Waagerechte Stollen wurden in den Tuffboden getrieben und an den Seitenwänden Nischen in Körperlänge ausgehöhlt, oft drei- und vierfach übereinander. Nach der Bestattung wurden diese Nischen mit Platten verschlossen, welche die Namen der Toten enthielten. Es gab eigene Familiengrabgewölbe. In den Zeiten der Christenverfolgungen entstanden hier auch größere Räume für Gottesdienste. Mit dem Ende des 4. Jahrhunderts hörte die Bestattung der Toten in den Katakomben auf, dagegen erhielten sie nun als Ruhestätte von Märtyrern hohe Bedeutung. Sie wurden deshalb mit Bildern und Inschriften reich ausgestattet. In den Stürmen der Völkerwanderung wurden sie ausgeraubt. Die heiligen Gebeine wurden als wertlose Beute fortgeschafft, bis die Päpste selbst die Gräber öffnen ließ und die Reliquien der Märtyrer in den Kirchen in Sicherheit brachten.

Von einem Trappisten geführt, gelangten wir über 35 Stufen in ein Grabgewölbe hinab, in welchem zwölf Bischöfe aus dem 2. Jahrhundert beigesetzt sind. Eine Inschrift besagt, daß Sixtus II. im Jahre 258 den Martertod erlitten hat. Die Grabplatte dient als Altar, auf welchem das Heilige Opfer dargebracht wird. Links neben der Papstgruft befindet sich die Grabkammer der heiligen Cäcilia. Rührend schön ist die Marmorstatue der sterbenden Heiligen. Die nächsten Grabkammern werden als Sakramentskapellen bezeichnet und dienen dem Gottesdienst. Hier wurde Katechumenen Glaubenslehre vermittelt. In den folgenden Kammern sind die Päpste Eusebius († 311) und Cornelius († 253) sowie auch die heilige Lucia beigesetzt.

Keine zweite Stätte bietet eine derartige Fülle von heiligen Erinnerungen und denkwürdigen Begebenheiten aus den ersten christlichen Jahrhunderten. Weitere bedeutende Katakomben sind die des Sebastian, des Pretextatus, der Domitilla, der Comodilla und der Priscilla.

Auf dem Weg zur Via Appia kamen wir an den Thermen des Caracalla vorüber. Das ist die größte und prächtigste Badeanlage im alten Rom, die gleichzeitig 16.000 Badenden Raum bot und mit Rennbahn, Sportanlagen, Dampf-, Schwitz-, Schwimm- und Wannenbädern sowie mir Gesellschaftsräumen reich ausgestattet war. Jeder erdenkliche Luxus war hier vorhanden.

Unsere Autos fuhren uns nun zur Basilika des heiligen Paulus, eine der vier Patriarchalbasiliken. Die älteste Kirche wurde von Kaiser Konstantin über dem Apostelgrab errichtet. Sie wurde im Jahre 398 durch einen gewaltigen Neubau ersetzt. Die dabei verwendeten prächtigen Säulen wurden der Basilika Aemilia im Forum Romanum entnommen. Diese einzige noch intakte Großkirche Roms wurde durch ein fünfstündiges Feuer in der Nacht vom 15. zum 16. Juli 1823 stark beschädigt. Das Feuer war durch die Unachtsamkeit eines Zinngießers ausgebrochen, der vergessen hatte, die Flamme, die er bei seiner Arbeit auf dem Dache benötigte, zu löschen.

Betreten wir durch das Hauptportal, das innen von Alabastersäulen getragen wird, die 120 m lange und 60 m breite Basilika, so bietet der Wald von 80 riesenhaften Säulen, die sich in dem glatten Marmorfußboden spiegeln, einen überwältigenden Anblick. Über den Säulen befinden sich in Mosaik die Bilder sämtlicher Päpste. In der Mitte der Kirche ist der Schrein mit den Gebeinen des heiligen Paulus. Am Ende des Mittelschiffes sind die Kolossalstatuen der beiden Apostelfürsten aufgestellt. Auf dem Hochaltar befindet sich ein prächtiges gotisches Sakramentshaus aus dem Jahre 1285. Daneben steht ein ganz eigenartiger Osterleuchter aus dem 12. Jahrhundert. Wir standen auch vor dem Mosaikbild der Mutter Gottes, vor welchem der heilige Ignatius von Loyola und seine Gefährten im Jahre 1541 die Gelübde ablegten. Es gibt auch Mosaiken aus dem 5. Jahrhundert. Neben der Basilika befindet sich ein wundervoller Kreuzgang mit archäologischen Sammlungen. Ein prächtiger Vorhof mit vier Reihen monolithischer Granitsäulen ist der Kirche vorgelagert.

In Trefontane ist der Apostel enthauptet worden. Das zur Erde rollende Haupt schlug dreimal auf; dort entsprangen drei Quellen. Im Garten des dortigen Trappistenklosters stehen drei Kirchen. In der mittleren befinden sich die drei Brunnen. Die Kirchen stammen aus den ersten christlichen Jahrhunderten und sind reich an historischen Denkwürdigkeiten. Hier haben unter Kaiser Diokletian 22.000 christliche Soldaten den Martertod erlitten.

Dann ging es heimwärts und um neun Uhr abends erfolgte die Abfahrt nach Neapel. In rasendem Tempo eilte unser Zug in die dunkle Nacht hinaus. Ich hatte meinen Platz einer jungen Frau überlassen und wanderte im Gang hin und her, ohne zu schlafen. Der Zug hielt nur selten, um Wasser zu tanken oder die Maschine zu wechseln. Sonst ging es unaufhaltsam weiter, bis wir fünf Uhr morgens Neapel erreichten. Kurz vor der Stadt verriet eine Rauchwolke den heimtückischen Vesuv, der schon soviel blühendes Leben vernichtet hat. Neapel ist bekanntlich die größte Stadt Italiens. Das Straßenpflaster ist aufgerissen. In einem großen Kaffeehaus am Bahnhof wurde das Frühstück eingenommen.

Wir machten hier gleich mit einigen echten Volkstypen Bekanntschaft. Da sind zunächst die Stiefelputzer. Ein ganzer Schwarm davon umlagert die Reisegesellschaft. Durch unermüdliches Klopfen auf die Putzkästen machen sie sich bemerkbar. Ist dieser Appell erfolglos, rücken sie mit ihrem Kasten dem erkorenen Fremden auf den Leib. Wenn sie dann einen Fuß erhaschen, ist jeder Widerstand vergeblich. Mit beiden Händen bearbeitet der Schuhputzer das Schuhwerk mit einer Schnelligkeit, die man bewundern muß. An jeder Straßenkreuzung steht solch ein Original. Zuweilen haben sie für den Kunden einen regelrechten Thronsessel mit schwellendem Kissen und phantastisch geschmückter Lehne.

Ein anderer Typ sind die Betteljungen. Es tut einem weh, wenn man sich diese Jugend näher betrachtet. Ohne Hemd! Nur mit Bruchteilen einer Hose bekleidet, ungewaschen und ungekämmt, drängen sie sich zwischen die Fremden. Gibt man ihnen etwas, hat man gleich ein ganzes Rudel solcher Gesellen um sich, die man sobald nicht wieder los wird. Sie leben vom Betteln, von dem, was sie auf der Straße finden, suchen in den Rinnsteinen Zigaretten und rauchen  sie mit Wohlbehagen. Zwei solcher zehnjäjhriger Taugenichtse saßen auf der Straße mit einem Verkaufsstand, rauchten Zigarettenstummel und spielten Karten. Und das um sechs Uhr früh! Sie sehen weder Elternhaus noch Schule und schlafen auf den Steinen der Straße.

In der Raststunde besuchte ich einige kleine Nebengassen. Was bekommt man da alles zu Gesicht! Eine Menge Ziegen in jeder Gasse und ganze Haufen von Obst- und Gemüseresten, in dem die Ziegen genüßlich herumwühlen. Der kleine Handwerker hat seine Werkstatt auf der Gasse, daneben wäscht die Hausfrau ihre Wäsche und betreut die Kinder. Die gegenüberliegenden Häuser sind durch Wäscheleinen miteinander verbunden. An ihnen flattern in bunter Abwechslung Leibwäsche, Windeln und Kleider im Morgenwinde. Ein strenger Geruch erfüllt die Luft; verwahrloste Kinder balgen sich herum, Weiber schwatzen und streiten und die Ziegen meckern dazu. Ich war froh, als ich mit heiler Haut wieder heraus war und hatte keine Sehnsucht mehr nach einer Extratour.

Bald hieß es auch: Aufbruch zum Hafen und nach Capri! Unterwegs sahen wir noch manches ungewohnte Bild. Eine Gruppe Kinder liegt am Gehsteig, eng umschlungen, in tiefem Schlafe. Niemand stört sie. Kühe und Ziegen werden durch die Straßen getrieben, an Ort und Stelle gleich in die Gefäße der Kunden gemolken und diese an einer Schnur in die oberen Stockwerke gezogen. An den Wagen der Straßenbahn sind die rückwärtigen Puffer von der Straßenjugend besetzt, die offensichtlich auf diese Plätze abonniert ist. Lastwagen mit zwei mannshohen Rädern und drei Pferden bespannt, Obst- und Gemüsekarren, von Eseln gezogen, dazwischen elegante Wagen und Fiaker (Pferdedroschken), den Wagen gegen die Sonnenglut mit einem Leinwandschirm überspannt, beleben das Straßenbild.

Diese Straßenhändler! Ein Stand neben dem anderen, alle möglichen Bedarfsartikel und Eßwaren werden feilgeboten. Der Zeitungsverkäufer hat seine Blätter einfach am Gehsteig ausgebreitet und mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht wegtreibt. Obwohl der Straßenverkehr durch die Verkaufsstände sehr gehemmt wird, regt sich niemand darüber auf. An den Straßenecken stehen die Muschelverkäufer, neben ihnen ein dampfender Kessel. Eine rote Tunke bildet die Beigabe zu den Muscheln, deren Schalen aufgeklappt werden und deren Fleisch gegessen wird.

Es dauerte fast anderthalb Stunden, ehe wir den Hafen erreichten. Die Hitze war kaum erträglich. Es war kein Wunder, daß unsere, mit vielem Gepäck belastete Frauenwelt den Kopf hängen ließ und ihre Koffer dorthin wünschte, wohin der Pfeffer wächst. Endlich ist auch dieses Ziel erreicht. Nun bietet sich uns ein prächtiger Anblick. Vor uns der herrliche Golf von Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund, begrenzt von den undeutlichen Umrissen Capris. Im Hafen herrscht buntes Treiben. Zahllose Schiffe, Barken und Boote schaukeln auf den Wellen. Ein Ruderclub hat ein schönes Heim, an dem wir rasten. Auch deutsche Zeitungen werden hier feilgeboten.

Da ertönt die Sirene des Dampfers. Die Reisegesellschaft wird mit Booten zum Schiff befördert. Sobald das Boot von einer Woge hochgetrieben wurde, faßten kräftige Arme zaghafte Passagiere und beförderten sie auf das Fallreep. An Bord des Dampfers standen alle an der Reeling und schauten diesem ergötzlichen Treiben zu. Die Beschwerden des Weges waren bald vergessen. Punkt neun Uhr wurde der Anker gelichtet und hinaus ging es ins blaue Meer, neuen Wundern und ungeahnten Schönheiten entgegen. Schon der Rückblick auf die Stadt und den Hafen mit den palmengeschmückten Höhen im Hintergrund bot ein bezauberndes Bild. Diese herrliche Meerfahrt werde ich nie vergessen. Im Rücken verschwand allmählich die Stadt im Dunst und Sonnenglast. Vor uns zeigen sich immer deutlicher die zerklüfteten, wild romantischen Gestade von Sorrent.[54]

Auf senkrechter, kahler Felswand thront in schwindelnder Höhe die Feste Barbarossa in Anacapri. Vornehme Landhäuser, prächtige Villen und Hotels mit ihren flachen, weißen Dächern grüßen aus den Palmen- und Lorbeerhainen, umgeben von Weingärten, Orangen und Zitronen. Darüber der ewig blaue Himmel Italiens und das tief blaue Meer unter uns, soweit das Auge reicht. Fürwahr, ein Bild so bezaubernd schön, daß man dafür keine Worte findet. Sobald wir uns der Küste nähern, kommen uns Boote entgegen mit den Tafeln der nahen Hotels, aber nur wenige steigen aus.

Nun geht es Capri entgegen. Die felsige, wildromantische Küste bietet immer neue Wunder an Naturschönheiten. Bei jeder Biegung und neuen Bucht zeigen sich immer wieder andere Bilder. Nach fast zweistündiger Fahrt haben wir Capri erreicht und fahren um die Insel herum, bis der Dampfer vor der Felsenküste anhält und ankert. Schon kommen uns Boote entgegen, die bei dem hohen Seegang bedenklich schaukeln. Sie begrüßen uns mit einem stürmischen Nazdar,[55] da sie erfahren  haben, woher wir kommen. Wie wohl taten uns die lang entbehrten heimatlichen Laute! Wir konnten feststellen, daß auch unsere „Weltsprache“ hier geschäftlich ausgebeutet wird.

Recht zaghaft besteigen unsere Damen die schwankenden Boote, aber die Blaue Grotte wollen doch alle sehen. So fahren sie zum Teil mit geschlossenen Augen, um nicht seekrank zu werden. Jedes Boot nimmt nur drei Passagiere auf. In langer Reihe streben sie der Insel zu. Erst kurz vor dem Ziel sieht man die niedrige Einfahrt zur Grotte. Die Besucher müssen sich im Boot niederlegen, um nicht mit dem Kopf an den Felsen zu stoßen. Die Einfahrt ist nur so breit, um mit knapper Not ein Boot durchzulassen, das auf den brandenden Wogen immer näherkommt und schließlich mit einer Kette hineingezogen wird. Welch ein Anblick drinnen! Im schönsten Azurblau des Himmels glänzen die Felswände und die Flut, die unser Boot durchschneidet. Sobald jemand seine Hand ins Wasser taucht, schimmert sie wie leuchtendes Silber. In kurzer Rundfahrt gleitet das Boot durch den wunderbaren Raum, dessen unvergleichliche Lichtspiegelung durch den Widerschein des Meeres verursacht wird. Im Hintergurnd springt plötzlich ein Knabe in die blaue Flut, um ein hineingeworfenes Geldstück heraufzuholen. Sein Taucheranzug leuchtet wie pures Silber. Doch schnell sind die wenigen Minuten vorüber. Noch ein letzter Blick auf die magische Farbenpracht dieses wunderbaren Felsendomes, dann heißt es, sich wieder niederlegen, bis die Ausfahrt passiert ist.

Nun geht es an die Bucht von Capri. Am Strand befinden sich nur wenige Geschäfte und einige Fischerhäuser. Die Stadt liegt hoch oben auf dem Berge und bietet mit ihren Bauten, Hotels, Pensionen und ihrer unvergleichlichen Vegetation schon vom Meere aus einen bezaubernden Anblick. Perlen- und Korallenhändlerinnen kommen und bieten ihre Waren an.

Mit der Drahtseilbahn erklimmen wir die Höhe des Berges. Weinreben in noch nie gesehener Fülle und Üppigkeit zu beiden Seiten der Trasse. Dazwischen Orangen- und Citronenbäume, aus deren Kronen goldgelbe Früchte schimmern. Zwischen dem Felsgestein wuchern mannshohe, wilde Pelargonien[56] in allen Farbtönen, Palmenlilien, Agaven und Feigenbäume in bunter Folge. Höher und höher geht die Fahrt, und immer herrlicher wird der Ausblick. Vor uns das unendliche blaue Meer, rechts der Vesuv mit seiner drohenden Rauchwolke, und in weiter Ferne das weiße Häusermeer von Neapel mit dem trotzigen Kastell und der lieblichen Höhe des Vomero.

Ich habe schon so manch schönes Fleckchen Erde gesehen in Italien und Tirol, Salzburg und Kärnten, im Salzkammergut und am Semmering, an Rhein und Elbe, im Riesen- und Isergebirge, in der Böhmischen und Mährischen Schweiz, in Deutschland, Holland und Belgien, aber so mächtig ergriffen war ich noch nie wie hier auf diesem paradiesischen Felseneilande. Der unvergleichliche Anblick des Golfs von Neapel hat mich derartig übermannt, daß ich lange Zeit keines Wortes mächtig war.

Das Städtchen Capri mit seinem winzigen Kirchlein auf dem Miniaturmarktplatz, seinen engen Gäßchen, seinen freundlichen Bewohnern, seinen herrlichen Palmen und Fruchtbäumen und seinen historischen Kastellen erscheint märchenhaft. Unter Orangen- und Zitronen-, Feigen- und Eukalyptusbäumen nehmen wir unser Mittagsmahl ein, trinken perlenden Capriwein und Münchener Exportbier zu zehn  Lire die Flasche.

Beim Einbooten erklingen frohe Heimatlieder als Abschiedsgruß zu den Gestaden des lieblichen Felenseinlandes. Im eleganten Speisesalon des Schiffes wird Kaffee getrunken. Das Personal spricht auch deutsch. Um sieben Uhr sind wir in Neapel. Die Straßenbahn fährt nicht. Also müssen wir den Weg zum Hotel Jolanda zu Fuß suchen. Das ist besonders für die Frauen mit dem großen Reisegepäck eine schlimme Sache. Anhand einer Karte finde ich aber leicht den Weg. Unsere Schlafstube hat kein Fenster, eine Zimmertür ist nicht verschließbar und alles macht einen ungepflegten Eindruck. Herr Katechet wird in der Nacht von Wanzen überfallen. Beim Morgengrauen weckt uns das Schreien der Händler auf den Straßen.

Heute statten wir Pompeji einen Besuch ab. Die Bahn fährt am Golf entlang. Zahlreiche Gemüsefelder sind mit Tomaten und Melonen bepflanzt. Uralte Schöpfwerke mit Göpelbetrieb[57] sorgen für Wasser. In dem zerklüfteten Gestein gedeihen Palmenlilien, Schraubenpalmen, Feigen und Sukkulenten, während riesige Feigenkakteen die alten Mauern überwuchern. Nach halbstündiger Fahrt sind wir am Ziel und stehen bald am Eingange der Ruinenstadt, die unter staatlicher Verwaltung steht. Ein schöner Park ist vorgelagert. An die blühenden und duftenden Oleander schließen sich die Ruinen unmittelbar an. Beim Eingange befindet sich ein Museum mit ausgegrabenen Haus- und Küchengeräten, Werkzeugen, Gebrauchsgegenständen und Nahrungsmitteln. Sogar gut erhaltenes Brot wurde vorgefunden, nachdem es fast 18 Jahrhunderte unter der Lavamasse begraben war.

Pompeji wurde im Jahre 79 nach Christus bei einem gewaltigen Ausbruche des Vesuvs durch Bimsstein und Ascheregen vollständig begraben. Viele Jahrhunderte schlummerte die Stadt unter der Lava. Ab dem Jahr 1592 beginnt die Erforschung dieser Stadt, zunächst allerdings planlos.

Die Straßen haben eine geschlossene Bauweise, erin Haus reiht sich an das andere. Die Wege sind mit großen Lavasteinen gepflastert und von Gehsteigen eingefaßt. Die Räder der Wagen haben in den Steinen tiefe Furchen hinterlassen. Die Häuser der Vornehmen schließen einen Garten mit Wasserbecken ein. Ringsum sind die Wohnräume. Zuerst kommen die Empfangs- und Gesellschaftszimmer, dann die eigentlichen Familienräume, die von Fremden nicht betreten wurden. Nach außen ist das Haus vollständig abgeschlossen. Kein Fenster unterbricht die eintönige Fassade. Umso reicher ist es im Inneren ausgestattet. Die wertvollen Malereien sind zum Teil erhalten. Die unteren sind durch Verglasung vor Zerstörung geschützt.

Großartige Badeanlagen, prachtvolle Tempel, ein Forum mit Gerichtshalle und Rednerbühne, zwei Amphitheater, Lasterhöhlen mit eindeutigen Bildern sowie Inschriften wechseln mit einfachen Wohnungen und Verkaufsläden der Händler und Handwerker.

Schillernde Eidechsen tummeln sich auf den Steinen dieser Ruinenstadt, sonst brütet überall das düstere Schweigen des Todes. Die südländische Sonne brennt unbarmherzig auf die Köpfe und wir sind herzlich froh, als wir im Hotelgarten einen gedeckten Tisch im schattigen Laubengang finden. Nun wollen alle den berühmten Wein Lacrima Christi (Träne Christi) kosten, der an den Hängen des Vesuvs gezogen wird. Da keiner zu haben ist, begnügen wir uns mit Capriwein, den wir als gute Christen mit Eiswasser taufen. In der Nähe des Hotels sehe ich einen Johannisbrotbaum.

Um drei Uhr nachmittags fahren wir nach Neapel zurück, während einige Reiseteilnehmer mit der Straßenbahn fahren und dann in eine Kutsche umsteigen, um den Vesuv zu besteigen. Es sind aber zu wenig Tragtiere vorhanden, sodaß ein Kampf um die Pferde entbrennt. Wer keines bekommt, muß zu Fuß wandern. Das ist bei der Hitze und dem beschwerlichen Wege keine Kleinigkeit. Der Durst ist schrecklich. Gäbe es unterwegs keine Labestation mit Erfrischungen, so würde man es nicht aushalten. Ellenhoch liegt die Lava auf dem Kegel, zu Staub zertreten. So ist ein Fortkommen mühsam.

Der Berg ist 1281 Meter hoch. Der Krater hat 700 Meter Durchmesser und ist 200 Meter tief. Der Vulkan ist im Jahre 1906 zuletzt aktiv gewesen. Atembeklemmende Schwefeldämpfe entsteigen ihm, oft ist der ganze Kegel in Rauch und Dampf gehüllt. Am tiefblauen Golf liegt die schon vierzehnmal zerstörte und immer wieder aufgebaute Ortschaft Torre del Greco, das malerisch an der Buch gelegene Castellamare, das vielbesungene Sorrento und das scharf gezackte Vorgebirge San Angelo bis zum einzig schönen Eiland Capri. Neapel steigt über dem Meer wie ein Amphithetaer auf, überragt von den bewaldeten Höhen Camaldolis.

In Neapel angekommen, machten wir noch einen Spaziergang zum Vomero. Eine Drahtseilbahn führt auf die liebliche Anhöhe. Dort befinden sich prächtige Villen mit herrlichen Gartenanlagen und das 1325 begonnene Kartäuser-Kloster San Martino. Fächer-, Kokos- und Dattelpalmen in bisher nie gesehener Größe und Vollkommenheit sind hier zu finden. Auf einer Kaffeeterrasse ließen wir uns nieder. Der unvergleichliche Anblick von Stadt und Golf von Neapel hat mich derartig überrascht, daß ich lange Zeit keines Wortes fähig war. Alle anderen hatten schon für ihr leibliches Wohl gesorgt. Ich stand noch immer weltvergessen an der Brüstung und konnte mich an dem herrlichen Bild nicht satt sehen. Dieses Panorama gehört unstreitig zu den schönsten der Welt. Im Elternhaus haben wir einen Kupferstich davon. Doch was ist ein Bild im Vergleich zur Wirklichkeit! „Neapel sehen und dann sterben“, kam mir in den Sinn.[58]

Abends lernten wir ein neapolitanisches Volksfest kennen. In der Via Romana steht die Kirche Santa Anna. Das Kirchenfest wird hier acht Tage und acht Nächte mit lärmender Festlichkeit gefeiert. Schon von weitem sehen wir die leuchtenden Bogen, mit elektrischen Lampen dicht besetzt, welche die Straße überspannen. Neben der Kirche steht eine haushohe Triumphpforte, deren Konturen wie das Gotteshaus mit unzähligen Lichtern und Girlanden geschmückt ist. Die farbigen Lampen gehen bis zum Turmkopf. Es ist ein Meer von Lichtern, soweit das Auge reicht. In der Feststraße ist jeglicher Verkehr eingestellt. Das Volk drängt sich zu Tausenden. Die Wirte haben Tische und Stühle auf die Straße gestellt und schenken Wein und Bier aus. Hunderte Straßenhändler haben an den Seiten ihre Stände aufgeschlagen. Obst, Melonen, Erfrischungen, Getränke, Zuckerwerk und Spielzeug, Scherz- und Gebrauchsartikel werden hier verkauft.

Fleisch und Fisch werden an der Straße gebraten. Konzert, Tanz und Ballonfahren wechseln sich ab. Bei dem tosenden Lärm ist nicht viel von der Musik zu vernehmen. Mit großer Mühe arbeiten wir uns eine kurze Strecke durch die Volksmenge, dann kehren wir um; denn das Gedränge wird geradezu lebensgefährlich. Den Höhepunkt bildet ein großes Feuerwerk, das um elf Uhr nachts abgebrannt wird. Der Besuch des Festes ist unentgeltlich. Die Mittel werden durch freiwillige Spenden aufgebracht. Allein die Beleuchtung und das Feuerwerk erfordern tausende Lire.

Am nächsten Morgen fahren wir nach Rom zurück. Unterwegs sehen wir das Mutterkloster der Benediktiner, Monte Cassino, das hoch oben am Berge thront und wie eine trotzige Festung ins Tal herunterschaut. Wieviel Segen und wieviel Kultur gingen von diesem Kloster aus! Der Zug rast durch die eintönige Landschaft. Als wir uns Rom nähern, erblicken wir die gewaltigen Überreste der römischen Wasserleitung.

Um zwei Uhr nachmittags waren wir wieder in Rom. Nach kurzer Rast mußten wir an die Heimreise denken. Um fünf Uhr vereinigte eine gemeinsame Andacht in Sankt Peter alle Teilnehmer. Dann nahmen wir Abschied vom Grabe des Apostelfürsten und dem herrlichen Gotteshause, das als Heimat der Christenheit bezeichnet wird. Voll tiefer Ergriffenheit durchschritten wir die Riesenhallen des Petersdomes. Nachdem unser Te Deum verklungen war, trennten wir uns mit dem Bewußtsein, daß nur recht wenige von uns diese heilige Stätte wieder sehen werden.

Dann begann die Heimfahrt. Der Apennin wurde bei Nacht überwunden. Dann ging es durch die Poebene weiter. Abends kamen wir zwar müde, aber wohlbehalten nach Bozen. Die Südtiroler veranstalteten uns zu Ehren einen Festabend. Bei Musik und frohem Liederklang waren die geselligen Stunden bald vorüber. Wir sehnten uns alle nach Ruhe und Schlaf.

Bozen-Gries ist nicht nur ein beliebter Kurort, sondern infolge seiner zentralen Lage im Mittelpunkt der südtiroler Alpen, seiner unvergleichlich schönen, romantischen Umgebung und seiner vorzüglichen Verkehrsmittel ein Eldorado für Touristen und Ausflügler. Kühn gebaute Gebirgsstraßen und schattige Promenadenwege mit herrlichen Fernblicken führen den Wanderer aufwärts bis ins Reich der schneebedeckten Dolomiten. Letztere mit dem berühmten Rosengarten und den wuchtigen Schlernmassiv, von 2.600 bis über 3000 Meter Höhe, gehören unstreitig zu den schönsten und meistbesuchten Bergen der Tiroler Alpen.

Vor sechs Uhr früh fuhren wir mit der Bahn nach Oberbozen, einer Sommerfrische in 1.200 Meter Höhe. Mit beängstigender Steigung führte uns eine Drahtseilbahn durch die Bozen umschließenden Weinberge und Wälder. Zu unseren Füßen lag die noch schlummernde Stadt im Glanze der Morgensonne. Immer gewaltiger wurde die Fernsicht, je höher wir stiegen. Auf einem Felsvorsprunge blickte in großer Höhe eine kleine Kapelle ins Tal herunter. Vom Talgrund schimmerte das blausilberne Band des Eisack zu uns herauf. Von den Berglehnen grüßten schmucke Dörfer, einsame Gehöfte, trotzige Burgen und freundliche Kirchlein zu uns herüber.

In Oberbolzen stiegen wir aus und frühstückten im gleichnamigen Hotel. Der Torwart im Galaanzug führte uns durch die eleganten Räume des erstklassigen Hotels, das von valutastarken Engländern und Amerikanern besucht wurde. Das Essen war etwas kostspielig, aber ausreichend. Dann wanderten wir durch blumenreiche Wiesen, Wälder und Auen nach Klobenstein, einem prächtigen Luftkurort in gleicher Höhenlage. Wie schön war dieser Spaziergang und wie freuten wir uns über das satte Grün der Wiesen und den Duft und Schatten des Hochwaldes! Trotz der unvergeßlichen Eindrücke wird der übrige Teil Italiens unseren Herzen nie so nahestehen wie diese Berge, Fluren und Wälder. Wie wohl tat der Lunge die kräftige, reine Höhenluft nach den Strapazen der Reise und der Sonnenglut der letzten vierzehn Tage! Unser Ziel waren die berühmten Erdpyramiden, eine Spezialität des Ritten, welche sonst nirgends vorkommen, hier aber in vielen Gruppen vorhanden sind.

Bei der Rückfahrt ergötzten wir uns nochmals am wechselvollen Panorama des Rosengartens mit dem Seekogel und der Teufelswand sowie des Schlern mit der Santnerspitze. Tief unter uns sahen wir eine kleine Kapelle. Dann kam wieder das liebliche Eisacktal in Sicht mit seinen wechselvollen Bildern und zuletzt Bozen mit seinen schlanken Türmen und spitzen Giebeln, vom Kranze der Weinberge umschlossen.

Zu Mittag fanden wir uns zum letzten gemeinsamen Essen im Hotel ein. Nachmittags durchwanderten wir die Stadt. Ein Schmuckkästlein ist der kleine Stadtpark mit seinen subtropischen Gehölzen und farbenfreudigen Blumengruppen. Hier ist wohl der nördlichste Punkt, an dem Palmen im Freien ohne Winterschutz aushalten. Die alten Gassen enthalten viele heimelige Winkel. Die alten Lauben der inneren Stadt bilden mit den neuen Geschäften und Auslagen einen sonderbaren Kontrast. Wir sahen das Denkmal Walthers von der Vogelweide, traute Klosterkirchen, alte Bürgerhäuser, reizvolle Anlagen, aber auch breite Straßen mit erstklassigen Hotels. In Bozen verweilten bekannte Gelehrte und Künstler. Gemälde, Widmungen und Erinnerungsstücke sind zu finden.

Über das Batzenhäuslein[59] gibt es eine ganze Literatur. Wie die Turmstübchen einer alten Ritterburg muten uns die trauten Räume an mit ihren blinkenden Butzenscheiben, ihren Kannen und Zinkgeschirren sowie ihren Simsen, Decken und Möbeln. Vergangener Zeiten gedenkend, trank ich meinen Wein und wehmütige Erinnerungen durchzogen meine Seele. Hier, im herrlichsten Tal der Südtiroler Alpen, in dem durch Jahrhunderte deutscher Geist und deutsche Kultur ihre Heimstatt hatten, in dem deutscher Handel und deutsches Gewerbe in hoher Blüte standen und der deutsche Bauer köstliches Obst und edlen Wein der steinigen Erde abgerungen hat, dort werden Deutsche jetzt drangsaliert. In dieser Stadt, in der Wal­ther von der Vogelweide geboren wurde, gibt es an jedem Hause welsche[60] Aufschriften. Es gibt welsches Geld und welsche Verwaltung. Die Perle Südtirols, die früher alle Jahre von über 100.000 Gästen besucht wurde, ist jetzt fremdes Land. Heimatliche Sprache und Sitte werden immer mehr verdrängt. Fremde Elemente werden angesiedelt, deutsche Beamte und Angestellte durch „staatstreue“ Personen ersetzt. So verlieren wir unseren uralten deutschen Besitz. Heute dürfen unsere Landsleute dort das Wort „Tirol“ gar nicht mehr öffentlich aussprechen. Fürwahr, es ist weit mit uns gekommen!

Doch nun schlug die Abschiedsstunde. Um vier Uhr nachmittags waren wir reisefertig. Bald darauf dampfte unser Extrazug durch das schöne Eisacktal der Heimat zu. Von hoher Felsenwand schaute noch die alte Franzensfeste zu uns herunter und erinnerte an das alte gemeinsame Vaterland. Dann ging es östwärts ins Kärntnerland und über Villach, Leoben, Bruck und den Semmering nach Wien. Die Erinnerung an diese schöne Reise bleibt unauslöschlich in unserem Gedächtnis und in unseren Herzen.

 

Auch im Winter 1924 wurden wieder Ausflüge mit den Kindern unternommen, nach Haida, Bürgstein, Leipa, Gablonz, Oybin, Johnsdorf und Reichenberg. Sie können wirklich nicht sagen, daß sie in ihrer Jugend nirgends hin gekommen sind!

 

Herrliche Osternacht! Bei der Statue brannten 500 kleine Öllämpchen, die von der Stadt beigestellt wurden. Zum Osterfeste war wieder das Osterreiten eingeführt worden. Am 1. Juli 1924 ist Rudi in die Lehre eingetreten. Otto war in Gablonz in Stellung bei einem Glasexportgeschäfte.[61] Für den Haushalt hatte ich meiner Frau eine Nähmaschine gekauft.

 

Mitte August 1925 bin ich mit Freund Prade im Auftrage der Einkaufsgenossenschaft nach Holland und Belgien gefahren. Diese prachtvollen Kulturen! Noch nirgends habe ich Koniferen, immergrüne Gehölze, Schlinggewächse und Stauden in solcher Vollkommenheit und Schönheit gesehen wie hier. Und diese Sortenauswahl!

 

Am 2. Jänner 1926 ist Otto mit Tante Emma nach Italien gefahren. Das rauhe Klima in Gablonz war für sein Asthmaleiden Gift, und der Arzt hatte ihm empfohlen, sich in Sizilien eine Stellung zu suchen. Er hatte auch bei einer großen Exportfirma in Palermo einen Posten angenommen, und Emma war so besorgt um ihn, daß sie daheim alles im Stiche ließ und mitgefahren ist, um bei ihm Mutterstelle zu vertreten.[62]

Mariechen war damals in Reichstadt und hat im dortigen Kloster genäht und Handarbeiten gemacht. Ende September 1926 ist Rudi nach Olmütz gefahren. Dort trat er in der Großgärtnerei Gulde seinen ersten Gehilfenposten an.

Am 26. März 1926 ist Bürgermeister Kraus plötzlich gestorben. Sogar vom Parlament in Prag kamen Kränze! Was er geschaffen hat, wird Jahrhunderte überdauern! Am 7. Mai wurde Wilhelm Moidl zum Bürgermeister gewählt. Die Sozialdemokraten und Kommunisten hatten leere Stimmzettel abgegeben.

Vom 7. bis 12. August 1926 wurde die Tausendjahrfeier der Stadt Deutsch-Gabel festlich begangen. Die Zahl der Besucher betrug gegen 30.000. Der historische Festzug war einzig in seiner Art. Schulrat Tobsch aus Leipa war der Schöpfer desselben. Hier die Abfolge:

Die Bojer verlassen ihr Land; die Markomannen besiedeln es.

Karl der Große besiegt die Awaren.

Durch Ludmilla wird das Christentum eingeführt.

Markwart von Ralsko, der erste Herr von Gabel.

Gallus gründet Lämberg, und seine Gemahlin Zdislava das Dominikanerkloster.

Heinrich von Berka gibt Gabel das Rechtsbuch.

Die Schwedennot.

Die Errichtung der Laurenzikirche.

Die „Alte Post“.

Der Stadtbrand im Jahre 1788.

Unser Hannchen reichte zum Bildnis des verewigten Bürgermeisters Kraus den Lorbeerkranz hinauf und sprach am Festplatze den Prolog dazu. Da ich Stadt und Festplatz durch Guirlanden und Triumphpforten ausschmücken mußte, bin ich die letzten Wochen nur zum Essen heimgekommen.

 

Von 1926 bis 1929 hatten wir die höchsten Umsätze, aber auch die meiste Arbeit. Dabei hatten wir immer das gleiche Personal: zwei Gehilfen und zwei Lehrlinge. Die Kinder mußten aber wacker mithelfen, sonst wäre es nicht möglich gewesen, alles zu bestreiten. Um 45.000 Kč. Binderei will gemacht sein, und um 190.000 Kč. Ware will erst herangezogen und verkaufsfertig sein. Ich wundere mich heute selber, wie wir das schaffen konnten. Freilich gab es im Frühjahre keine freie Minute; zu Mittag mußte man das Essen schnell hinunterschlucken, weil die Leute draußen warteten. Vormittag, mit einem Bissen Brot in der Hand, bin ich herumgerannt. Wer hätte da an ein Niedersetzen denken können! Und wenn abends endlich Schluß war, dann hieß es nach dem Nachtmahl die Post erledigen und die geschäftlichen Aufzeichnungen durchführen. Vor 10 Uhr war da kein Fertigwerden.

 

Am 2. Juni 1927 hatten wir Silberhochzeit.  Am Vorabende brachte uns die Stadtkapelle ein Ständchen. Eine Unmenge Glückwünsche sind eingelaufen.

Mitte September 1927 fand in Wien der achte internationale Gartenbaukongreß statt. Mariechen hatte sich die ganzen Jahre im Geschäfte redlich geplagt und uns mehr genützt als ein Gehilfe. Sie war besonders tüchtig im Umgange mit der Kundschaft. Da wollte ich ihr eine Freude machen, und sie fuhr mit nach Wien. Trotz der einseitigen Steuerpolitik der roten Stadtverwaltung hat Wien nichts eingebüßt von seinem verkehrsreichen Großstadtleben und dem frohen Sinne seiner bodenständigen Bevölkerung. Kein Fremder, der im Frühjahre nach Wien kommt, sollte es versäumen, der vorbildlichen Pflegestätte des deutschen Gartenbaus, im Besitz von Nathanael Rothschild, zu besuchen! Entzückend ist ein Gewächshaus mit japanischem Miniaturgarten, die Orchideenhäuser (ein ganzes Haus entstammt einer einzigen Fruchtkapsel), das Kakteenhaus, die Ananashäuser, die Weintreibereien; insgesamt 90 Gewächshäuser.

Die Reise wurde in Grinzing abgeschlossen. In einer stimmungsvollen Heurigenschenke war unter einer großen Weinpresse ein Tisch für uns reserviert. Man verzehrt hier beim Weine das mitgebrachte Nachtmahl. Unser Führer, Herr Feichtinger, bestellte eine Sorte, „wo die Katze drauf sitzt“, und alle Hochachtung, es war eine gute Marke! Sicheren Schrittes habe ich dann unser gastliches Heim wiedergefunden. Wie das möglich war, ist mir selber ein Rätsel.

In Brünn suchten wir meinen früheren Chef auf, bei dem ich vor 30 Jahren in Stellung war. Wie hat sich die Stadt in dieser Zeit verändert! Damals war es noch eine deutsche Stadt; jetzt sieht man kaum noch eine deutsche Aufschrift. Herr Mühle freute sich sehr über mein Kommen. Er hatte unterdessen seine Frau verloren, und sein einziger Sohn ist im Kriege geblieben. So oft ich aufbrechen wollte, sagte mein freundlicher Gastgeber: „Trinken wir noch eine Flasche; es ist das letzte Mal, daß wir beisammen sind!“ Und er hatte recht. Kurze Zeit darauf bekam ich die Nachricht, daß er gestorben war. In Prag besuchten wir Rudi, der damals bei der Firma Soukup in Radotin in Stellung war.

Im November 1927 war Gemeindewahl. Moidl wurde wieder Bürgermeister, ich erster und Pelikan zweiter Stellvertreter.

Unsere gute Mutter war schon über ein Jahr lang kränklich. Sie starb dann am 3. April 1928. Emma kam zwar aus Sizilien zurück, traf allerdings erst einige Stunden nach dem Tod der Mutter hier ein. Ihren Schmerzensausbruch werde ich nicht vergessen.

Lebenswege der Kinder

Am 2. Juli 1928 empfing Hermann im Dome zu Leitmeritz die Priesterweihe. Am darauffolgenden Tage feierte er in seiner Heimatkirche sein erstes hl. Meßopfer. Unvergeßlich die Predigt seines Katecheten, des Herrn Pfarrer Trompeter, sowie der Empfang unseres Heilandes aus der Hand des Sohnes!

 

Hermann Junior

 

Hannchen war bis zu den Ferien in Sloupnitz im Kloster und Mariechen in Reichstadt, aber nur über den Winter. Am 1. August 1928 fuhr meine Frau nach Landeck; Hedi begleitete sie. Es wollte mit ihrem Rheumatismus gar nicht mehr gehen. Sie hat sich wohl in der Bindestube auf dem Betonfußboden ihre Krankheit geholt.

Zu Beginn des Schuljahres übersiedelte Hermann als junger Kaplan nach Wiese bei Tschernhausen.[63] Dort fand er in Hochw. Herrn Pfarrer Hatscher einen verständnisvollen Vorgesetzten. Trotz der vielen Arbeit fühlte er sich recht wohl. Ich wollte Rudolf gern nach Pillnitz in die dortige Gartenbauschule geben. Ende September 1928 bin ich hingefahren. Es ist eine bekannte Versuchsgärtnerei. Herr Gartenbauinspektor Binder ist ein Fachmann. Rudolf kam Ende September von Prag zurück und ist Anfang Oktober in Pillnitz eingetreten.

Am 8. Dezember 1928 gab es eine schöne Theateraufführung „s’Burschliesl“. Es war die Zeit, in der Mariechen auf dem Höhepunkte ihrer „Bühnenlaufbahn“ stand. Kurz vorher hatte der Jugendbund das Lustspiel „Der Meisterboxer“ zur Aufführung gebracht. Dies war wohl eines der schönsten Erfolge. Über das gelungene Zusammenspiel gab es lobende Anerkennungen. Herr Herrmann hatte die Hauptrolle inne. Noch heute kommen wir darauf zurück, wenn wir mit Familie Herrmann beisammen sind.

Noch ein Wort zu Theater- und Opernaufführungen in Deutsch-Gabel und Reichenberg: Ich erlebte in den folgenden Jahren u.a. „Das Apostelspiel“ von Max Mell, „Wilhem Tell“ von Friedrich Schiller, „Der Evangelimann“ von Wilhelm Kienzl, „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber und auch die „Götterdämmerung“ von Richard Wagner.

Mitte Dezember 1928 hatte ich an einem Tage 18 Briefe und Aufrufe geschrieben für den schwerkranken Kollegen Siegmund in Kleinherrndorf. Es hatte einen ungeahnten Erfolg. Von allen deutschen Genossenschaften bis Troppau sind mehrere tausend Kronen eingelaufen.

Anfang Dezember 1928 kam Mariechen zu Frl. Hofmann in Reichenberg, um sich in der Binderei auszubilden. Mit der Binderei hatten wir heuer[64] den Höhepunkt erreicht, der Bindereiumsatz betrug 46.777 Kč. Von nun an ist er ständig zurückgegangen bis auf 22.460 im Jahre 1934. Er war aber früher noch höher, und zwar in den Jahren 1921 und 1922, wo er 53.700 und 49.670 Kč. ausmachte.

Ende Feber 1929 kam Rudi von Pillnitz heim. Am 18. März trat er bei Nitsche in Reichenberg ein. Otto Telscher ist ausgetreten und Otto Patzer aus Roßbach kam an seine Stelle.

Am 16. April 1929 fuhren Mutter[65] und Tante Emma mit dem Volksbunde nach Italien. Von Rom aus sind sie dann allein nach Sizilien gereist. Von Palermo aus haben sie mit Otto[66] die landschaftlich schönsten Orte und Tempelstätten besucht, Taormina, Syrakus, Messina, die britische Insel Malta. Dann machten sie eine Überfahrt nach Nordafrika. Von Tripolis aus wurde auch eine Autofahrt in die Wüste unternommen. Otto hätte gern noch Tunis und besonders auch die Riviera besucht, aber die Mutter hatte es gründlich satt und wollte nur heim. Auf dem mittelländischen Meere hatte sie die Seekrankheit erwischt, und das hat ihr dann die ganze Reise verleidet. Sie waren einen reichlichen Monat unterwegs gewesen. Sie konnten daheim nicht genug erzählen von der Schönheit und Eigenart dieser Reise.

Zwei Tage vor Pfingsten hatte Mariechen an einem Tage 25 Handsträuße gebunden, davon waren 9 Brautsträuße. Am Vortage des Muttertages war ich um 3 Uhr früh aufgestanden, um Schalen und Nester zu bepflanzen. Abends haben wir bis 10 Uhr gebunden. Wir hatten an diesem Tage 5.150 Kč. Umsatz. Es war der beste, aber auch arbeitsreichste Geschäftsmonat mit 60.000 Kč. Umsatz, den wir jemals erzielt haben. Fast den ganzen Verkauf haben unsere beiden Mädel Mariechen und Hannchen allein bestritten. Es war damals gar nicht denkbar, daß die Burschen alle bedient hätten, wie es jetzt Sitte ist. Wer hätte da die Arbeit geleistet und die hunderttausende Pflanzen pikiert[67] und versorgt? Da war jede Minute kostbar, und wenn wir nicht Hand in Hand zusammengearbeitet hätten, wäre es nicht denkbar gewesen, alles zu bestreiten. Die beiden Mädels haben damals Unglaubliches geleistet.

Am 9. April schickten wir 20 Körbe Topfpflanzen für den Muttertag an Waffenschmidt nach Teplitz. Es war ein ganzer Waggon. Es gab damals noch viel Versand. Im April hatten wir 43, im Mai 78 und im Juni 30 Körbe eingepackt. Der Frühjahrsversand umfaßte also 150 Körbe Pflanzen! 12 bis 16 Körbe an einem Tage einpacken, das war keine Seltenheit. Ich stand dann um 3 oder 4 Uhr früh auf, am Vorabend war bereits alles zusammengestellt worden, und wenn um 7 Uhr die Leute kamen, war alles eingehüllt und konnte verpackt werden. Noch am gleichen Vormittag bis 10 oder ½ 11 Uhr war alles auf der Bahn. Nur auf diese Weise konnten wir auch die andere Arbeit fristgerecht bestreiten.

Mitte September 1929 feierte unsere Genossenschaft im festlich geschmückten Volksgartensaale ihren 25jährigen Bestand. Auch ich bekam von der Handelskammer eine silberne Medaille und ein Ehrendiplom für die 25jährige Mitarbeit im Ausschusse. Im Namen der Jubilare habe ich dann der Kammer gedankt und dabei auch der wackeren Gärtnersfrauen gedacht, ohne deren wertvolle Mitarbeit ein geordneter Gartenbaubetrieb gar nicht denkbar ist.

Zu Allerheiligen 1929 hatten wir zum ersten Male drei Kästen Topfchrysanthemum übrig, da keinerlei Bestellungen eingelaufen waren. Das war noch nie dagewesen! An Schnittblumen hatten wir 16 Schachteln eingepackt, also mehr als in den anderen Jahren. Auch die Allerheiligenbinderei hatte sich noch in gleicher Höhe erhalten. Bei Eichler war der Umsatz von 4.670 Kč. im Vorjahre auf 3.170 Kč. in diesem Jahre zurückgegangen. Die Konkurrenz der in den umliegenden Ortschaften neu entstandenen Gärtnereien machte sich von dieser Zeit an immer fühlbarer.

Am 31. Dezember 1929 starb plötzlich Herr Dechant Sallmann. Um ihn trauerte die ganze Bevölkerung. Er hatte sich besondere Verdienste in der Jugendfürsorge erworben. Am 9. Juli 1930 war die Einführung des neuen Herrn Dechanten Sitte.[68]

Faschingsmontag 1930 hatten wir mit einigen bekannten Familien: Valentin, Hermann, Jehna, Kuba, Herrn Katechet und Herrn Kaplan Seidel eine Zusammenkunft in Lämberg verabredet. Es war wohl einer der heitersten Tage, die wir in Gabel verlebt haben. Herr Valentin war der Wirt, der einschenkte und die Gäste bediente. Herr Hermann kam mit Hannchen als Masken verkleidet per Wagen mit einem Leierkasten angerückt, und was da alles aufgeführt und zusammengelacht wurde, ging schon über die Hutschnur.

1930 hatten wir noch 110 Sorten Dahlien, die aber in der Folgezeit immer mehr reduziert wurden. Im Mai 1930 ist Rudolf bei Nietsche in Reichenberg als Landschafter wieder eingetreten. Am 30. Mai hielt Otto im Frauenbund einen Lichtbildervortrag über Sizilien. Er hatte im vergangenen Jahre den Maturakurs in Reichenberg besucht, und wir waren lange im Unklaren, was er damit bezwecken wollte. Nun erst rückte er mit der Farbe heraus, daß er Theologie studieren wollte. In Mariaschein hat er dann Ende Mai ein zweitesmal maturiert, diesmal über die Gymnasialfächer, und selbstverständlich mit sehr gutem Erfolge, wie es bei ihm nicht anders zu erwarten war. Es war keine Kleinigkeit, innerhalb eines Jahres den ganzen Stoff zu bewältigen, zu dem andere die ganze Gymnasialzeit brauchen.[69]

Am 7. Juli 1930 fuhren die Kinder alle zusammen, Mariechen, Hannchen, Rudolf, Gretl, Georg, in die Heimat des Herrn Kaplan Seidel in den Böhmerwald. Es war eine recht lustige Reise, und sie haben viel erzählt über ihre Erlebnisse, ihre Gebirgswanderungen, über das herrlich gelegene Krumau und das Passionsspiel in Höritz.

Am 13. August 1930 bin ich mit Otto nach Welehrad gefahren. Er wollte in das dortige Jesuitenkolleg eintreten. Dies war ein riesiger Gebäudekomplex mit einer prachtvollen großen Kirche im Mittelpunkte. Dort konnte ich einem Gottesdienste im slavischen Ritus beiwohnen. Er war feierlich; die Gesänge waren sehr schön. Ich machte den Novizenmeister darauf aufmerksam, daß Otto eine recht zarte Gesundheit hat und sich nicht verkühlen dürfe. Ob dies bei der Aufnahme Schwierigkeiten machen würde? Er widerlegte alle meine Einwände und sagte: „Wir haben ja überall Niederlassungen. Wenn er unser Klima nicht gut verträgt, so schicken wir ihn einfach nach Italien.“

Mitte Oktober 1930 kam Otto von Welehrad zurück. Er hatte sich etwas verkühlt, hatte gehustet, und da hat man ihn einfach fortgeschickt. Ich konnte diese Rücksichtslosigkeit lange Zeit nicht verwinden. Man riet Otto, Theologie zu studieren, und erst nach der Priesterweihe in den Ordensstand einzutreten. Da hieß es aber vor allem, Latein zu lernen. Das hat er in einem Jahr durch Selbststudium so gründlich besorgt, daß er zum Herbste die Aufnahmeprüfungen ins Seminar in Leitmeritz ohne Schwierigkeiten bestand.

Am 7. Juni 1931 ist Hermann mit dem Motorrade schwer verunglückt. Er kam von der Fronleichnamsfeier in Bertsdorf. Beim Bergabfahren stieß er wohl an einen Stein, griff im gleichen Momente nach der Mütze, die ein Windstoß holen wollte, und fiel mit dem Kinn auf den Motor, und zwar so unglücklich, daß durch den Fall das Stimmband zerrissen wurde. Drei Tage später besuchte ich ihn im Krankenhause in Reichenberg. Er durfte nicht sprechen. Als ich ihn fragte, ob er jetzt das Motoradfahren einstellen wird, schüttelte er den Kopf und schrieb auf einen Zettel: „Das Motorrad kann doch nichts dafür!“

Die Ärzte zweifelten, ob er den vollen Sprachgebrauch wieder erlangen wird. Er war dann längere Zeit in einem Krankenhause in Görlitz – die Heiserkeit ist aber geblieben. Wir waren auch mit dem Auto in Prag bei einem Professor in der Klinik. Der konnte ihm ebenfalls keinen großen Trost geben. „Sie werden heiser bleiben“, war seine Meinung nach der Untersuchung; und er behielt recht. Ein großer Segen war für Hermann, daß er später die Pfarrerstelle in Wiese erhielt.[70] In einer großen Kirche wie bei uns hätte er sich nur schwer verständlich machen können.

Am 23. Feber 1931 wurden die ersten Lebensmittel- und Milchkarten ausgegeben. 191 Arbeitslose waren damals in der Stadt anerkannt. Am 2. Juli 1931 ist die Mutter mit der Hedi nach Landeck gefahren. Sie waren einen ganzen Monat dort. Die Mutter hat die Kurmittel gebraucht, um wieder etwas Erleichterung zu bekommen. Weihnachten 1931 haben wir einen Familienrat gehalten, ob wir ein Wohnhaus bauen sollen oder nicht. Ich habe alles vorgebracht, was dafür und dagegen spricht. Ich erwähnte auch, daß unsere Barmittel und die Spargroschen der Kinder dann aufgebraucht seien. Bei der Aussprache zeigte es sich jedoch, daß wir diesem Vorhaben näher treten sollten.

Am 16. Jänner 1932 war eine große Arbeitslosendemonstration am Marktplatze. 2.500 Personen waren erschienen, die meisten aus dem Zwickauer Bezirke. Der Kommunismus wollte noch einmal seine Macht zeigen. Die Demonstranten stießen maßlose Drohungen aus. Auf einen Dringlichkeitsantrag der Kommunistischen Partei widmete die Stadt 5.000 Kč. für die Arbeitslosen.

Am 5. Feber 1932 kam Rudolf auf Urlaub zur Verlobungsfeier mit Gretl am 7. Feber. Am 30. März schloß ich mit Baumeister Richter den Bauvertrag ab. Die Kosten waren bedeutend höher, als wir ursprünglich vorgesehen hatten. Wir leben jetzt von der Hand in den Mund. Wenn ich nicht so anspruchslos wäre, würden wir mit unserem bescheidenen Einkommen keineswegs auslangen. Am 12. April war der erste Spatenstich, am 4. Juli Hebeschmaus, am 9. August war das Dach fertig gedeckt.

 

Haus in Gabel

 

Ende Mai 1932 war ich mit Hannchen und Frl. Martl im Höllenschlund bei Neuland, einer an beiden Seiten offenen Felsenschlucht oder Höhle, die von einem Bache durchflossen wird. Eine geräumige Ausbuchtung in der Mitte soll als Waffenschmiede gedient haben. Sie ist nur über den Wasserweg mit dem Kahne zugänglich. Auch die Ruine Roll haben wir besucht.

Am 18. Juli 1932 hatten Mariechen und Georg ihren Hochzeitstag. Hermann vollzog die Eheschließung seines Schwesterleins. Er weihte auch das neue Haus am 5. Oktober. Am 13. Oktober zog das junge Paar mit der Familie Herrmann ins neue Haus ein. Am 26. August 1932 ist Rudolf vom Militär heimgekommen und wieder ins Geschäft eingetreten. Wir hatten damals schon seit längerem keine Lehrlinge mehr, sondern  nur zwei Gehilfen und unseren Obergärtner Oppelt. Mit dem letzten Lehrling Schubert hatten wir uns reichlich geärgert, und ich wollte deshalb keinen mehr aufnehmen. Wir sind auch so fertig geworden.

Erwähnen will ich noch, daß ich im Laufe des Jahres 1932 für den schwerkranken Kollegen Rudolf Siegmund 1.108 Kč. gesammelt habe. So konnte ich der bedauernswerten Frau alle Wochen einen Zuschuß geben. Am 31. Mai 1933 ist er nach langjährigen, qualvollen Leiden gestorben. Er konnte sich schon lange nicht mehr bewegen; Hände und Füße waren verkrüppelt. Er konnte noch nicht einmal ein Blatt Papier in die Hand nehmen oder sich den Schweiß abwischen. Er wurde im Liegen gefüttert. Wenn sie ihn umbetten mußten, schrie er vor Schmerzen, daß es die ganze Nachbarschaft hörte. Der Tod war für ihn eine Erlösung.

An schönen Sommerabenden des Jahres 1933 war es im Garten unseres Hauses oft recht lebhaft, besonders an den Sonntagen. In der „Rudolfsruhe“ wurde dann bei Lampionsbeleuchtung gesungen und musiziert, und die Mutter sorgte für die notwendige Stärkung. Manchmal tummelte sich das junge Volk im Garten herum, und es wurde „angeschlagen“, „Häusel verkauft“ oder in Eckerts Garten allgemeine Turnstunde gehalten. Unsere Kinder können wirklich nicht sagen, daß sie in ihrer Jugend keine Freude hatten. Bekannte und Jugendfreunde aus der Stadt fanden sich dazu ein, und manch’ schöner Abend wurde so gemeinsam verbracht.

Am 31. August 1933 wurden alle drei Bürgermeister ihres Amtes enthoben. Ich wurde mit der Weiterführung der Amtsgeschäfte betraut. Am 1. September war eine Sitzung der Stadtvertretung, die ich zum ersten Male leitete. In einer Sitzung aller bürgerlichen Parteien am 8. September 1933 wurde ich von allen Anwesenden ersucht, den Bürgermeisterposten zu übernehmen. Am 15. September wurde ich dann mit 23 Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Der Kommunist Schönberger erhielt vier Stimmen; mein Stimmzettel war leer.

In einer gutbesuchten Monatsversammlung der Christlich-Sozialen Partei sprach Dr. Trenkler aus Reichenberg über sudetendeutsche Politik in der Vergangenheit und Gegenwart. Am 4. Oktober 1933 wurde die nationalsozialistische Arbeiterpartei aufgelöst und die Tätigkeit der Nationalpartei eingestellt. Die Stadtvertreter beider Parteien wurden ihrer Funktionen enthoben. Auf meinen Vorschlag hin wurde Herr Pellikan erster Stellvertreter (statt Ing. Kögler). Als Stadträte Thum und Herold[71] jun., und als Stadtvertreter Brabetz, Brauns, Habel, Pfohl jun., Ducke und Wiese. Am 28. Oktober wurde der 15jährige Bestand der Republik mit großer Feierlichkeit begangen. Zum Schluß wurde am Marktplatz die Nationalhymne gespielt; denn singen konnte sie ja niemand. Das waren immer recht unerfreuliche Stunden für die öffentlichen Amtswalter, die zur Teilnahme verpflichtet waren.

Am 5. September 1933 um ½ 2 Uhr früh wurde Mariechen von einem gesunden Mädchen entbunden. Die Taufe der kleinen Agnes wurde am 17. September recht festlich begangen. Mitte September 1933 war Hannchen in Wien. Am 10. März 1934 war ich mit Georg und Mariechen in Habendorf wegen einer Wohnung für die jungen Leute. Für Rudolf habe ich dann noch ein hübsches Sommerhaus erbaut. Im Juli 1934 haben wir dann die obere Wohnung für Rudolf hergerichtet. Am 9. August 1934 hatte er seinen Hochzeitstag. Die Trauung hat wieder Hermann vollzogen. Georg und Mariechen waren inzwischen nach Habendorf übersiedelt.

Mitte Juli 1934 sind wir dann ins neue Haus übergesiedelt. Es ist mir wirklich nicht leicht geworden. Hatten wir doch unser schönes Heim durch unserer Hände Arbeit geschaffen und fast ein Menschenalter darin zugebracht, manch frohe Stunde darin verlebt, aber auch viel bitteres Leid in seinen Räumen durchkostet. Wir waren verwachsen mit allen Räumen, mit dem Blick über den Garten, der Aussicht über die Stadt, dem Ruheplatz vor dem Hause. Nun sollten wir denen Platz machen, die die Aufgabe weiterführten.

Am 10. Feber 1934 war die erste große Versammlung mit Dr. Henlein in der Turnhalle. Ich begrüßte ihn im Namen der Stadt. Am 4. März 1934 waren eine ganze Anzahl Feiern zu Ehren des Präsidenten Masaryk, zu deren Teilnahme ich verpflichtet war. Am 18. Oktober wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Deutsch-Gabel gewählt. Am 28. Oktober 1934 wurden Arbeitslose mit keinem Heller in der Tasche und Hunger im Magen zur Staatsfeier in Zwickau abkommandiert, wenn sie nicht bei der Behörde in Ungnade fallen wollten. Sie mußten zu Fuß hinüber. Ich war sehr erbittert über diese Quälerei der Bewohner. Später habe ich bei einer passenden Gelegenheit beim Landespräsidenten in Prag Beschwerde darüber geführt und um Abhilfe und Abstellung solcher Übergriffe der unteren Behörden ersucht.

Frl. Martl[72]  war Ende Juli 1934 ausgetreten. Sie war seit dem Frühjahre 1930 bei uns. Als Jugendgespielin unserer Kinder gehörte sie mit zur Familie. Sie nahm an allen Familienereignissen herzlichen Anteil und besorgte den Haushalt, so daß die Mutter für das Geschäft und den Garten die notwendige Zeit erübrigte. Für ihren liebevollen, kameradschaftlichen Umgang mit den Kindern sind wir ihr zu großem Danke verpflichtet.

Mitte September 1934 war Firmung in Gabel mit dem neuen Bischof Dr. Weber. Hedi war auch unter den Firmlingen. Sie hatte Frau Schrammel[73] als Firmpatin und wurde auf den Namen Theresia gefirmt. Nachher ist Hedi ins Tschechische gefahren nach Mĕstic-Krălove bei Křinec. Die Mutter hatte ihr den Kostort versorgt.

Am Neujahrstage 1935 schied mein langjähriger Mitarbeiter Oppelt aus unserem Betriebe aus. Er hatte die Schloßgärtnerstelle in Neufalkenburg erhalten, nachdem Freund Stieber in Pension gegangen war. Er war 25 Jahre in unserem Geschäfte. Ich hatte ihm von der Handwerkskammer ein Diplom und eine silberne Verdienstmedaille verschafft.

Mit Rudolf hatte ich am 1. Feber 1935 einen Pachtvertrag abgeschlossen, vorläufig über fünf Jahre. Er erstreckte sich auf die ganze Gärtnerei mit allen Beständen und Zubehör, auf das Wohn- und das Bindehaus.

Bis gegen 10 Uhr war ich alle Tage in der Gärtnerei, dann habe ich die notwendigen Amtsgeschäfte im Rauthause erledigt. Oft bin ich erst um ein Uhr mittags heimgekommen. Am 10. Feber 1935 wurde Hermann als neuer Pfarrer in Wiese installiert. Pfarrer Hatscher war nach Röchlitz versetzt worden. Es ist ja auch eine wunderschöne Pfarrei, die wie eine Burg mit dem schmucken Kirchlein am Berge thront. Seit Mai 1935 war Hannchen in Bodenbach in Stellung. Im Sommer 1936 ging sie nach Prag, um Tschechisch zu lernen. Ende Juni 1935 kam Hedi aus dem Tschechischen zurück. Otto ist über die Ferien in ein tschechisches Kloster gefahren, um sich in der tschechischen Sprache praktisch zu betätigen. Onkel Rudolf feierte am 19. November 1935 das Fest der Silbernen Hochzeit. Ich fuhr mit Hermann zusammen nach Landeck.

Am 23. September 1935 kam Ingrid zur Welt. Ihr Vater war zu einer Waffenübung eingerückt. Als dann Rudolf heimkam und seine Frau im Bette vorfand, war er ganz verwundert und frug sie, ob sie denn krank wäre. Dabei übersah er ganz das kleine Menschenkind, das neben ihr schlummerte. Natürlich war dann die Freude doppelt groß. Weihnachten 1935 hatte Agnes die allergrößte Freude über ihren „Jucksack“, und ging den ganzen Abend damit herum. Und oben schaute schon die kleine Ingrid recht verwundert in die Lichter des Christbaumes.

Im Mai 1935 rief die sudetendeutsche Partei zum ersten Male zur Maifeier auf dem Marktplatze auf; 500 Mitglieder kamen. Die bescheidene Kommunistenfeier war im Schützenhause. Wenige Tage später kam Konrad Henlein zur Kundgebung am Gürtlerhofe, zu der gegen 5.000 Männer und Frauen aufmarschiert waren. Er sprach unter stürmischem Jubel der Zuhörer. Bei der Wahl in die öffentlichen Körperschaften im Mai erhielt die SdP zum ersten Male eine gewaltige Stimmenmehrheit.

Mitte Dezember 1935 legte Präsident Masaryk sein Amt nieder. Wenige Tage später wurde Eduard Beneš zum Staatspräsidenten gewählt. Am 15. Mai 1936 begann die Staatspolizei ihre Tätigkeit. Am 4. Oktober wurde die erste Luftschutzübung abgehalten. Am 10. Oktober 1936 war die Gautagung des Bundes der Deutschen in unserer Stadt. Am Festabende sprach ich auf besonderen Wunsch über die Geschichte der Stadt und deren bewegte Vergangenheit. Am nächsten Tage hat man mich dafür als „unzuverlässig“ in der Deutsch-Gabler Zeitung bloßgestellt. Ich wollte den vollständig überflüssigen Umzug am Staatsfeiertage verhüten und verhindern, und das war der Dank dafür.[74]

 

Primiz Ottos

 

Am 15. März 1936 wurde Otto in der Seminarkirche zu Leitmeritz zum Priester geweiht.[75] Er wollte die Primizfeier in Gabel nur ganz schlicht und einfach.[76] Die Festpredigt hielt dabei sein Freund Dr. Tietze. Wir haben ein Bild mit der kleinen Agnes als Primizbraut, wie sie ehrfürchtig zu Otto aufschut und er mit sichtlicher Freude zu ihr herunter. Otto hatte schon vor der Priesterweihe den Bischof darum gebeten, bei den Jesuiten eintreten zu dürfen, und setzte dies schließlich durch: er kam nach Beneschau ins Noviziat.

Hannchen fuhr nun nach Wien. Dort lernte sie die soziale Frauenschule der katholischen Frauenorganisation kennen und war gleich Feuer und Flamme dafür. Sie schrieb dann über die dortige Lehrmethode und die Lehrkräfte ganz begeisterte Briefe.

Die Stadt Zittau schickte mir eine Ehrenkarte zur Eröffnung des neuen Grenzlandtheaters. Reichsminister Dr. Göbbels eröffnete den neuen Musentempel, der keine Logen, keine Sperrsitze und Ränge, sondern nur ebenerdige Sitzreihen aufweist, weil es im Dritten Reiche keine Klassenunterschiede mehr gibt.

Zu meinem 60. Geburtstage (am 19. Mai 1936) hatten die Kinder im neuen Sommerhause einen Kranz mit einer großen Sechzig aus leuchtenden Tulpen angefertigt, umgeben von grünem Pflanzenschmuck und Lorbeerbäumen. Auf einem Tische vor demselben lag ein großer Karton. Wie ich ihn aufmachte, enthielt er den Stammbaum unserer Familie. Otto hatte in mühseliger Arbeit die Daten gesammelt, den Stammbaum hatte Georg gezeichnet und gemalt, die Beschreibung dazu hatte Mariechen geschrieben. Hermann hatte die Bilder und das ganze Material besorgt.

Anfang 1937 waren wir beim Herrn Bischof in Leitmeritz wegen unseres Herrn Dechanten, der um seine Versetzung angesucht hatte. Wir haben sie wieder rückgängig gemacht.[77]

Von der Sudetendeutschen Partei wurde 1937 wieder der alte Brauch des Osterreitens in größerem Maßstabe durchgeführt. Eine stattliche Anzahl Reiter hatten sich zur Feldmesse am Marktplatze eingefunden. Die nationalen Feiern allerdings nehmen immer mehr überhand. Erst war die Geburtstagsfeier des tschechischen Erstpräsidenten, dann die des jetzigen, und bald darauf eine Zborowfeier. Ich bin dort nicht gewesen. Am 14. September 1937 starb Masaryk.

Am 15. Mai 1937 hat die Sudetendeutsche Partei an die Parteiredner ein vertrauliches Rundschreiben gerichtet, in dem es heißt: „Deutsche Regierungsparteien sind scharf anzugreifen, als politische Überläufer zu brandmarken und des Volksverrates anzuklagen. Sie kämpfen gegen die SdP auf Kosten des Sudetendeutschentums. Regierungsparteien sind als politische Gruppen darzustellen, die die Aufgabe der Vertschechoslowakisierung des Sudetendeutschtums übernommen haben.“

Diese Verlautbarung hat mich in tiefster Seele getroffen. Mein ganzes Leben war ich bemüht, der Heimat und meinem Volke zu dienen. In den letzten 18 Jahren habe ich meiner Vaterstadt und ihren Bewohnern, und da besonders den bedürftigen, ungezählte Opfer gebracht. Ich habe mich als Bürgermeister immer gegen tschechische Übergriffe gewehrt. Die Faschingsbälle 1938 habe ich dann nicht mehr besucht. Seit dem Angriffe der Sudetendeutschen Partei in der Zeitung habe ich die Vertretung der Stadt in der Öffentlichkeit abgelehnt.[78]

Otto war seit Beginn des neuen Schuljahres, seit Herbst 1937, als Präfekt der oberen Gymnasialklassen in Mariaschein tätig. Am 18. März 1938 wurde Mariechen von einem strammen Jungen entbunden. Am 27. März wurde der kleine Hansjörg von Hermann getauft, Rudolf und Hedi waren Taufpaten. Mitte April 1938 kam Hannchen von Wien heim. Nach dem Umsturze in Österreich war die Schule gesperrt worden. Am 3. Juli 1938 feierte Dr. Tietze sein Silbernes Priesterjubiläum. Schon seit langer Zeit ist kein Priester in Deutsch-Gabel so geehrt worden wie der Herr Katechet. Er hat es sich durch die Betreuung der Jugend redlich verdient.

Am 20. Feber 1938 hielt der Führer im Reichtage eine dreistündige Rede. Über den Schutz der deutschen Minderheiten sagte er: „Zwei Staaten an unseren Grenzen umschließen allein eine Masse von zehn Millionen Deutschen. Sie sind gegen ihren eigenen Willen durch die Friedensverträge [von 1918] an einer Vereinigung mit dem Reiche verhindert worden. Es wäre wichtig, unnötige Quälereien von nationalen Minderheiten zu vermeiden. Solange Deutschland wehrlos war, mußte es die Verfolgung der deutschen Menschen an seinen Grenzen einfach hinnehmen. Allein, so wie England seine Interessen über den ganzen Erdkreis vertritt, so wird auch das heutige Deutschland seine Interessen zu wahren wissen.“

Am 13. März 1938 wurde Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen. Dies bewirkte auch bei uns tiefgreifende Veränderungen: Die deutschen Parteien zogen ihre Vertreter aus der Regierung zurück. Der Bund der Landwirte und die Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei traten aus der Koalition aus, lösten ihre Parteien auf, und ihre Mitglieder schlossen sich der Sudetendeutschen Partei an. Auch die Gewerbe- und die Deutschsoziale Partei beschlossen ihre Eingliederung. Damit waren nun alle Parteien mit Ausnahme der Sozialdemokraten in einer Front vereinigt. Die Gemeindewahlen am 12. Juni 1938 ergaben mehr als 90% Stimmen für die Sudetendeutsche Partei. Am 25. Juni 1938 war in Deutsch-Gabel Neuwahl der Stadtvertreter. Bürgermeister wurde Friedrich Sirach.

Am 11. Juli 1938 fuhren wir von Reichenberg aus mit einem Extrazuge mit 800 Kindern zu einer Erholung ins Reich. Sie wurden in Stendal untergebracht. Mit unseren Gastgebern fuhren wir am nächsten Tage nach Berlin. Es ist unglaublich, was jetzt dort gebaut wird! Wir waren im neuen Olympiastadion, das 100.000 Zuschauer fassen kann, am Maifelde, wo Mussolini am 28. September 1937 vor einer Million Menschen gesprochen hat, in der Deutschlandhalle, am Funkturm, am neuen Flughafen.

Am 29. September 1938 lud der Führer die leitenden Staatsmänner Mussolini, Chamberlain und Daladier zu einer Viererkonferenz nach München ein. Auch ein Vertreter der Regierung in Prag war als Beobachter anwesend. Hitler erklärte sich bereit, die deutsche Mobilisierung zur Lösung des sudetendeutschen Problems um 24 Stunden zu verschieben. Mit noch nie dagewesener Spannung wartete die ganze Welt auf das Ergebnis der Konferenz, die über Krieg oder Frieden entscheiden sollte.

Immer und immer wieder habe ich im Herbst 1938 bei Gesprächen darauf hingewiesen, daß bei einem Kriegsausbruche unsere Heimat völlig vernichtet würde, da wir hier an der Grenze den ersten Zusammenstoß der feindlichen Streitkräfte erleben und mitmachen müßten. Was wir durch ein Menschenleben lang in nimmermüder Arbeit aufgebaut und geschaffen haben, würde in wenigen Tagen ein Trümmerhaufen sein, und nun nur deshalb, weil man sich über die Methode der Besetzung durch die Deutschen und den Zeitpunkt der Räumung von seiten der Tschechen nicht dem deutschen Diktate unterwerfen wollte. Mir hat man diesen menschlichen Standpunkt recht übelgenommen und auf Schritt und Tritt merke ich, daß ich das Vertrauen der jetzt führenden Kreise verloren habe.

Am 9. Oktober 1938 ist dann unter dem Jubel der Bevölkerung die Deutsche Wehrmacht in Deutsch-Gabel eingezogen. Kein Haus war ohne Grünschmuck und ohne Hakenkreuzfahne. In ungezählten Fenstern sah man das Bild des Führers. Spruchbänder wie: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ schmückten die Hauptstraßen. Mit einem Fackelzuge der Sudetendeutschen Partei fand dieser ereignisreiche Tag seinen Abschluß.

Gauleiter Dr. Henlein verlegte die kulturellen Zentralstellen nach Reichenberg. Zusammen mit den Vororten sollte ein Groß-Reichenberg geschaffen werden. Am 10. Oktober 1938 besetzten polnische Truppen das Karwiner Industriegebiet. Die Tschechei verlor 70% ihrer Steinkohlevorräte an Polen. Die neue Slovakische Regierung war bereits am 8. Oktober in Preßburg eingezogen und hatte die Regierungsgewalt übernommen.

Der Bund der Deutschen, der Kulturverband, die Jugendfürsorge, die Caritas, die Blindenfürsorge, der Bund der Kriegsverletzten und die Frauenschaft der Sudetendeutschen Partei werden in Zukunft zusammenarbeiten und einer gemeinsamen Leitung unterstellt. Die gesamte Betreuung erfolgt in Zukunft durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Überall sind Aufrufe plakatiert, die zum Eintritt in die Nationalsozialistischen Kampforganisationen auffordern. Von Konrad Henlein wurde angeordnet, daß sofort alle Vorbereitungen zur Errichtung der Deutschen Arbeitsfront zu treffen seien. Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehörten zusammen. Kräftespaltende Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände gewerkschaftlicher und ähnlicher Prägung hätten heute keinen Platz mehr.

Viel Trauriges hörte man von den tschechischen Flüchtlingen, die Hals über Kopf mit ihren Habseligkeiten ins Landesinnere geflüchtet sind. Eine Frau aus Leitmeritz erzählte mir, daß von dort Tausende nach Theresienstadt geflohen seien und nun in den dortigen Kasematten zusammengepfercht lebten, oft drei Familien in einem Raume. Ihre Habseligkeiten ständen im Freien und seien den Unbilden des Wetters ausgesetzt.

Wir haben zwanzig Jahre unter dem Unrechte gelitten, das uns angetan wurde. Aber dadurch kann man diese Gewaltmaßnahmen niemals rechtfertigen. Man durfte nicht Unrecht mit gleichem Maße vergelten. Man hat mir aber meinen Standpunkt recht übel genommen; und auf Schritt und Tritt merke ich, daß ich das Vertrauen der jetzt führenden Kreise verloren habe. Man sagt mir nach, ich sei der einzige in Gabel, der nicht für den Führer ist. Und so schreibe ich an meinen Aufzeichnungen, für die sich freilich nach meinem Tode recht wenige interessieren werden.

Ich habe zu Protokoll gegeben, daß wir unsere Ortsgruppe der Christlich-Sozialen Volkspartei bereits im März 1938 aufgelöst und das vorhandene Geld nach dem damaligen Beschlusse der Caritas übergeben haben. Mir dem 1. Oktober 1938 wurden die „Deutsche Presse“, die „Warnsdorfer Volkszeitung“, die „Deutsche Rundschau“ und ihre Nebenblätter nach Weisung des Presseamtes der Sudetendeutschen Partei eingestellt. Schon mehr als dreißig Jahre bin ich Bezieher; und wir haben nun kein Blatt mehr auf katholischer Grundlage. Am 5. November ist auch die „Reichenberger Zeitung“ nach 79jährigem Bestande eingestellt worden. Die jetzt amtliche Zeitung „Die Zeit“ wird in Reichenberg herausgegeben. Am 31. Oktober 1938 wurde das ganze zusammenhängende Gebiet des Sudetenlandes als Gau in die NSDAP eingegliedert; zur Gauhauptstadt wurde Reichenberg erhoben. Der Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, hat am 5. November die Überleitung der Sudetendeutschen Partei in die NSDAP vollzogen. Gauleiter Henlein legte ein Dankgelöbnis ab.

Ich vermisse es im November 1938 schmerzlich, daß ich gerade in sozialer Hinsicht ganz ausgeschaltet wurde. Ich habe meine Mitarbeit wiederholt bei der Volkswohlfahrt und auch bei der Gemeinde angeboten. Ich bin leider nicht mehr vertrauenswürdig genug, um da mittun zu dürfen. Die neue Zeit erfordert neue Menschen, und wir Alten müssen uns damit abfinden, daß wir überflüssig geworden sind.

Am 7. November 1938 wurde in Paris der deutsche Gesandtschaftsrat von Rath von einem jüdischen Studenten ermordet. Das gab Anlaß zu strengen Maßnahmen gegen die Juden in Deutschland. Ihnen wurde der Handels- und Handwerksbetrieb verboten, ebenso der Besuch öffentlicher Schulen einschließlich der Hochschulen, sowie kultureller Veranstaltungen. Ihnen wurde ein Sühnebetrag von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. In Reichenberg und Gablonz wurden die jüdischen Tempel niedergebrannt.

„Die Zeit“ berichtete darüber nicht eine Zeile. Ich war bisher immer gewohnt, die religiöse Überzeugung jedes Menschen zu achten, weil ich das Gleiche auch von den anderen mir gegenüber verlange. Nun, unsere altmodischen Anschauungen sind ja längst überholt. Bei uns marschierte die SA geschlossen zur tschechischen Schule. Dort wurden antijüdische Reden gehalten; Bücher und Bilder von Beneš und Masaryk verbrannt. Letzterer war Ehrenbürger unserer Stadt; alle deutschen Stadtvertreter hatten dafür gestimmt, wenn es auch unfreiwillig geschah. Tote soll man ruhen lassen.

Am 19. November 1938 eröffnete Reichsminister und Propagandaleiter Dr. Goebbels in den Messehallen in Reichenberg den Wahlkampf. Ich weiß allerdings nicht, gegen wen gekämpft werden soll. Im Sudetengau existiert doch kein Gegner; und andere sind ja nicht wahlberechtigt.

Am 29. April 1939 wurde Irmtraud geboren. Gretl wurde danach lange Zeit nicht gesund. Erst am 1. Juli war sie wieder für eine kurze Weile im Garten.

Der Zweite Weltkrieg

Am 1. September 1939 begannen die Kampfhandlungen in Polen. Am 18. September mußte Rudolf einrücken. Er arbeitete als Pionier an der Erzbahn nach Schweden, oberhalb des Polarkreises. Am 26. Oktober 1940 kam er von Norwegen auf Urlaub. Belgien, die Niederlande und ein Teil Frankreichs wurden 1940 besetzt. Bei einer Bahnfahrt erzählte mir ein Zugführer, daß bei der Besetzung Belgiens die Straßen für das Militär freigehalten werden mußten. Frauen und Kinder kampierten in den Straßengräben und den angrenzenden Feldern, dem Wetter, Regen und der Kälte preisgegegeben. Ich habe in Holland auch Rotterdam mit seinen historischen Baudenkmälern und Prachtbauten gesehen. Es tut einem förmlich das Herz weh, wenn man diese Stadt nun auf einem Bilde in Ruinen sieht. Auch hier muß das Volk büßen.

Am 14. Dezember 1940 bin ich mit der Mutter nach Liebshausen gefahren. Wir besuchten Otto, der dort eine Kaplansstelle angetreten hat. Es ist nur ein kleiner, bescheidener Ort. Gänse bevölkern die Gassen. Besonders im Winter sieht es ziemlich trostlos aus. Ab Oktober 1941 sollte er dann eine Pfarrei in Priesen übernehmen. Im Kriege ein Haus einzurichten, war keine leichte Sache. Mit seiner Wirtschafterin hatte er Pech: Otto zeigte mir bei einem Besuche die ungewaschene Wäsche vom letzten halben Jahre. Die alte und schöne Wallfahrtskirche war baulich ganz vernachlässigt. Durch die zerbrochenen Fenster flogen die Vögel aus und ein, so daß es nicht möglich war, dort im Winter Gottesdienste zu halten. Otto hat dann eine Kapelle im Pfarrhause eingerichtet. Die Teilnahme am Gottesdienste war mehr als spärlich und auch in der Schule gab es nur Schwierigkeiten. Die ersten Männer der Gemeinde waren zum Teil aus der Kirche ausgetreten. Otto war so ein großer Idealist, hatte so viel studiert, hat so vielseitige Sprachenkenntnis, und nun sah er keinen Erfolg seiner Arbeit. Es tut mir leid, daß er bei seinen Talenten in diesem Orte so versauern muß.

Am 22. Juni 1941 wurde Rußland der Krieg erklärt. Der frühe Wintereinbruch ließ aber die Fronten zu Eis erstarren, die ungeheuren Schneemas­sen machten jeden Nachschub fast zur Unmöglichkeit. Die Truppen waren für die Kälte zu wenig ausgerüstet, und die Sammlung von Woll- und Pelzsachen in der Heimat kam zu spät. Unsere Truppen standen bereits vor Moskau und Leningrad, mußten aber zurückgenommen werden, um die Front halten zu können. Deutsche Truppen marschierten in Serbien ein, dann in Griechenland; schließlich kam noch der Kriegsschauplatz in Nordafrika hinzu. Im Westen Deutschlands litt die Bevölkerung furchtbar unter den Einwirkungen des Krieges. Ganze Häuserreihen und Straßen wurden durch englische Bomber vernichtet; und wie viele unschuldige, am Kriege nicht beteiligte Personen kamen dadurch um ihr Leben, andere um all’ ihr Hab und Gut!

Ende Mai 1942 kam von Landeck die Nachricht, daß unser lieber Neffe Walter in Rußland am Ladogasee[79] gefallen ist.[80] Das war ein schwerer Schlag für meinen Bruder und seine Familie.

Am 2. Juni 1942 waren wir vierzig Jahre verheiratet. Wir haben diesen Tag nur daheim gefeiert. Anfang Juni war meine tägliche Arbeitszeit zumeist 18 Stunden, zuweilen noch eine Stunde mehr. Ich hatte den ganzen Sommer über keinen  freien Sonntag. Die Mutter mit ihren Gichthänden konnte nicht mehr ordentlich zugreifen; und auch mit den Füßen wurde es immer marterhafter. So suchte ich einen Pächter für die Gärtnerei. Max Herbig aus Ratschendorf trat dann am 15. Dezember 1942 bei uns ein. Am 1. Juli 1943 übernahm er den Betrieb.

In Stalingrad war unsere 6. Armee von einer erdrückenden Übermacht eingeschlossen, und auch an der übrigen Ostfront wollte der Russe mit Hilfe des Winters auf jeden Fall das Kriegsglück zu seinen Gunsten wenden. Auch in Afrika hat es Rückschläge gegeben. Tripolis ist wieder verloren. Sizilien mußte geräumt werden, dann Calabrien und Salerno. Fallschirmjäger und ein Fieseler-Storch, der auf einem kleinen Felsplateau eines hohen Berges landete, haben den gefangenen Duce unter Lebensgefahr mitgenommen.

Ende Jänner 1943 wurde zuerst die Südgruppe überwunden. Auch das Donezbecken ist aufgegeben. Am 3. Feber war der Heldenkampf der 6. Armee in Stalingrad zu Ende. Die Besatzung hatte zwei Aufforderungen zur Übergabe abgelehnt. Ein Brief aus Stalingrad enthielt folgende Bemerkung: „Seid glücklich, daß ihr daheim noch Brot habt; wir sind hier drei Mann zu einem Teller Suppe.“

Engländer und Amerikaner bombardierten deutsche Städte: Berlin, Hamburg, Dortmund, Essen, Duisburg, Köln, Aachen, Nürnberg. Die nächste Zukunft schaute nicht gerade rosig aus. Mitte Oktober 1943 war Rudolf von Norwegen nach dem Süden versetzt worden, nach Dalmatien. Er wurde Kompaniekommandant. Hedi ging seit dem 8. November 1943 nachmittags in einen Kriegsbetrieb zu Worm nach Markersdorf. Dort wurden Kleider und Wäsche für Soldaten ausgebessert. Daheim besorgte sie den Haushalt, den Einkauf und die Putzerei.

 

Podersanka

 

Ende Dezember 1943 wurde Otto auf Veranlassung der Partei nach Podersanka versetzt. Man hatte wohl in Erfahrung gebracht, daß er bei den Jesuiten war, die ja von der Partei überaus gehaßt werden. Am 24. April 1944 habe ich ihn dort besucht. Ich fuhr mit dem Frühschnellzuge über Komotau, Saaz, Pladen nach Jechnitz. Von dort ging ich die letzten fünf Kilometer zu Fuß nach Podersanka. Dies war ein kleiner Ort. Er hatte weder Post noch Auto- oder Bahnverbindung. Das Pfarrhaus, das lange unbewohnt war und von der Nationalsozialistischen Volksfürsorge benutzt wurde, war ganz baufällig. Das Schindeldach schadhaft, die Küche klein und unfreundlich, der Ofen wärmte nicht, die Pumpe gab kein Wasser. Mit seinen drei Filialkirchen, die vier bis fünf Kilometer entfernt sind, wird sich Otto gesundheitlich zugrunderichten.

 

Im Frühjahre 1944 begann Hannchen ihre Arbeit in einer Gärtnerei in Neuland am Roll, die sie gepachtet hatte. Ich habe ihr dann eine Menge Pflanzen dorthin geschickt. Anfang April 1944 war Heinrich[81] vierzehn Tage auf Urlaub in Neuland. Er hat tüchtig mitgeholfen. Er war zu dieser Zeit in Dänemark stationiert. Pfingsten 1944 kamen die Eltern meines Schwiegersohns[82] aus dem Rheinlande zu Besuch. Wir sind mit ihnen zum Jeschken gefahren, dann nach Reichenberg zum Tiergarten.

In der Nacht zum 6. Juni 1944 hat in Frankreich die Invasion begonnen. Es gelang den Amerikanern und Engländern, in der Normandie Fuß zu fassen. In Südfrankreich wurde die Gegend zwischen Toulon und Nizza aufgegeben. Auch in Italien mußten die deutschen Stellungen bis Florenz zurückverlegt werden. Im Osten wurde das Sowjetheer erst am Karpatenwall zum Stehen gebracht. Im Norden drangen die Russen bis an die ostpreußische Grenze vor. Rudolf war schon an der Narwafront eingesetzt. Heinrich war in Belgien. Auch Georg wurde eingezogen und in Leisnig ausgebildet.

Am 30. September 1944 brachte mir Herr Scholze vom Stadtamt einen Brief an Gretl und teilte mit, daß Rudolf vermißt sei. Die Nachricht von Alfred Zulenberg stammte vom 19. August. Rudolf wurde am 12. Juli 1944 mit seinem Bataillon von der Truppe abgeschnitten. Es sei zu hoffen, daß er noch lebe. Vielleicht befinde er sich in russischer Kriegsgefangenschaft.

Heinrich schrieb, daß er am 5. August 1944 in der Bretagne bei Vire verwundet worden sei. Ein Granatsplitter von einer Panzergranate sei in sein linkes Becken eingedrungen. Die Wunde sei so groß, daß man eine Faust hineinlegen könne. Am 22. August schrieb er aus einem Lazarett in Brüssel: „Von meiner Kompanie sind nur noch 15 Mann übrig. Es kann sich niemand ein Bild davon machen, wie verheerend das Trommelfeuer ist!“

Um die Stadt Aachen wurde nun erbittert gekämpft. Belgien und Holland waren bereits gefallen. Am 6. Oktober 1944 kam die Mutter meines Schwiegersohns mit drei Töchtern nach Gabel. Sie waren in Goch evakuiert worden. Sie hatten binnen zwei Stunden die Stadt zu verlassen. Goch war schon Kriegsgebiet; die Front war nur noch acht Kilometer von der Stadt entfernt. Im weiten Umkreise gab es keine Bahnverbindung mehr. Sie waren zweieinhalb Tage unterwegs gewesen. Als dann noch Vater  kam, siedelten alle nach Neuland über. Hilde kam dann zum Arbeitsdiensteinsatz nach Sachsen.

Am 16. Oktober 1944 starb plötzlich und unerwartet mein Freund Jehna nach einer Operation in Reichenberg. Mehr als vierzig Jahre waren wir eng miteinander befreundet. In der Partei und bei der Stadtvertretung war er einer meiner getreuesten Mitarbeiter. Ich werde sein Andenken immer hoch in Ehren halten.

In Ungarn standen die Sowjets fast vor den Toren von Budapest; auch Belgrad mußte von unseren Truppen geräumt werden. Die Baltischen Länder waren bereits besetzt. Im Sudetenland wurden wiederholt Brüx, aber auch Komotau, Karlsbad und Eger von Fliegern heimgesucht. Überall waren hohe Menschenverluste zu beklagen.

Am 3. November 1944 wurde Mariechen im Wöchnerinnenheim in Reichenberg eines strammen Jungen entbunden. Am 11. November hat dann Hermann den kleinen Winfried in der Spitalskapelle getauft. Er hat die hl. Handlung so schön und feierlich gestaltet, wie ich es noch gar nicht gekannt habe. Auch Georg konnte zu einem kurzen Urlaub kommen. Wir haben dann alle zusammen in Habendorf gefeiert.

Im Herbst und Winter 1944/1945 mußte zuerst Griechenland geräumt werden, dann der ganze Balkan, schließlich Finnland. Unsere Soldaten mußten sich zur Heimat durchschlagen. Das Generalgouvernement Polen war schon großenteils von russischen Truppen besetzt, die schon fast vor den Toren Breslaus standen. Aus dieser Stadt wurden 300.000 Frauen und Kinder evakuiert. Bei Schnee und 12 bis 16 Grad Kälte mußten sie sich auf den Weg machen. Im Wartheland standen russische Soldaten bereits vor der Hauptstadt Posen, in Ostpreußen vor den Toren Königsbergs. Jetzt wurden bereits die Schulen geräumt, um die Flüchtlinge aus dem Osten aufnehmen zu können. Die Kohlenzufuhr hatte fast ganz aufgehört. Viele Flüchtlinge saßen in einer kalten Stube. Ungezählte Tausende zogen unablässig auf der Reichsstraße durch unsere Ortschaften. Viele Schlesier mußten ihre alte Heimat verlassen. Auch in unserem Haus waren jetzt Flüchtlinge untergebracht.

Heinrich mußte Mitte Feber 1945 in Richtung Dresden fahren. Auf diese Stadt erfolgte zu dieser Zeit ein gewaltiger Bombenangriff, der sie ganz in Schutt und Asche legte. Sie war mit Flüchtlingen überfüllt. Es wurde von 30.000 Todesopfern gesprochen, aber Augenzeugen, mit denen ich sprechen konnte, vermuten eine viel höhere Anzahl.

Am 1. März 1945 kam Mariechen mit den Kindern aus Sicherheitsgründen nach Deutsch-Gabel. In Landeck gab es zu den 5.000 Einwohnern die gleiche Anzahl an Flüchtlingen. Sie schliefen zum Teil in Badewannen. Anfang April 1945 war Frankfurt am Main verlorengegangen. Die angloamerikanischen Panzerspitzen waren bis Aschaffenburg, ja sogar bis nach Fulda vorgedrungen. In Emmerich tobten Straßenkämpfe, Bottrop war bereits besetzt. Dann fielen Mönchengladbach, Neuß und Krefeld. Köln wurde von Artillerie beschossen und am Stadtrande von Trier gab es heftige Kämpfe.

Mittwoch, 11. April 1945: Früh 1° kalt. Nachmittags 15° und Sonne. 10 Beete für Kartoffeln hergerichtet; am Felde 7 Beete, im Garten 3 Beete ausgesät. Abends noch in Markersdorf.[83] Wien ist bis zum Donaukanal in russischer Hand. Königsberg ist gefallen.[84]

Donnerstag, 12. April: Früh 5° und nachmittags 13° warm. Früh um 6 Uhr zu Fuß nach Neuland gegangen: 13 km in knapp 2 Stunden. Ich habe Hannchen mit dem Handwagen 150 Pelargonienstecklinge[85] gebracht. Roosevelt plötzlich gestorben.

Freitag, 13. April: Nachmittags 20° mit Gewitter, Blitz und Donner. Im Doppelkasten Asparagus, Pelargonien und Englische umgestellt.[86]

Samstag, 14. April: 6-15° warm gewesen. Sonne. Vormittag am Bahnhof 2 große Haufen Staubkohle durchgeworfen, Nachmittag mit der Mutter 1000 kg mit dem Wagen heruntergeholt und 45 Körbe in den Keller getragen. Die ganze Woche war viel Plagerei.

Montag, 16. April: Früh 4° kalt. Sonne. Zu Mittag mit Mutter Gasmasken geholt. Hedi früh nach Röchlitz gefahren. Maria mit den Kindern in Hedis Zimmer umquartiert. Den ganzen Tag Fliegeralarm.

Mittwoch, 18. April: Früh 8° warm, nachmittags 18° warm. Sonne. In der Nacht Gewitter und Regen. 11 Kastel Cyclamen in Töpfe gepflanzt[87]. 70 Kastel Begonien sind fertig pikiert. Pelargonien und Petunien[88] in den Kasten gestellt. 11 Stunden in Markersdorf.

Freitag, 20. April: Vormittags 5° kalt und rauh. Um 6 Uhr mit dem Wagerl nach Neuland gefahren und um ½ 9 Uhr abends heimgekommen. Führers Geburtstag.

Sonntag, 22. April: Sonne und Regen. Mit Mutter im Kino: „Die Philharmoniker“. An Hannchen geschrieben.

Mittwoch, 2. Mai: Früh Schnee, alles weiß. Vormittag 2° warm. Um 7 Uhr früh bringt der Rundfunk die Nachricht vom Tode des Führers. Gestern wurde bekannt, daß Mussolini von Partisanen ermordet wurde.

Samstag, 5. Mai 1945: 6-8° warm, nachmittags Regen. Am Felde umgegraben und Erde durchgeworfen[89]. Im Westen haben unsere Heeresverbände den Kampf gegen die Angloamerikaner aufgegeben und angeblich bedingungslos kapituliert.

Sonntag, 6. Mai: Kalt und regnerisch. Hansjörg bei der Erstkommunion. Feiertag in der Familie. Nachmittag Herr Katechet und Maria mit den Kindern, sowie Gretl bei uns. An Onkel Rudolf geschrieben.

7.-14. Mai: Die ganze Woche warm und sonnig, 26-28° warm im Schatten. Die ganze Woche nicht gearbeitet. Dienstag ist Georg heimgekommen. Deutsch-Gabel wurde von russischen Truppen besetzt. Diese werden wohl bis zum Eintreffen tschechischer Ordnungstruppen hierbleiben. Die ereignisreichste Woche, aber auch die traurigste, die wir erlebt haben. Viele Geschäfte wurden ausgeplündert. Wohnungen wurden nach Schmucksachen und Uhren durchsucht. Frauen und Mädchen wurden geschändet und mißbraucht. Viele Frauen flohen in die umliegenden Dörfer oder in den Wald. Dr. Pergelt in Walten hat seine vier Kinder, seine Frau und sich selbst erschossen. In Markersdorf haben sich zwei Flüchtlingsfrauen mit ihren Kindern die Pulsadern durchgeschnitten.

In unserem Hause sind 23 Schlafgäste. Ich selber kam kaum zum Schlafen. Im Kalthause und Cyclamenhause habe ich mit Brettern und Strohdecken ein Lager zurecht gemacht. Vierzig Frauen, die vor den Ausschreitungen der Soldaten Furcht hatten, sind hier untergekommen.

Montag und Dienstag war ich noch mit Mutter am Felde. Erde durchgeworfen und die letzten Beete umgegraben. Am Samstag, 13., am Felde Bohnen gelegt und am Montag, 15., am Felde 2 Beete (Saxa[90]). Am 16. im Garten 2 Beete Gemüse gepflanzt und am Felde auch die letzten 2 Beete gepflanzt. Karfiol[91], Kohlrabi, Sprossenkohl[92], Weißkraut, Kapuste[93], Sellerie, Salat, rote Rüben, Majoran, Pfefferkraut.

17./18. Mai: Am Stadtamte hat der Národni Výbor[94] das Heft in der Hand. Schönberger und Engelmann mit Scholze aus Waldau sind mit dem Stadtkommandanten, einem tschechischen Major, die maßgebenden Personen in der Stadt. Am Bahnhof stand ein Zug mit 1800 Flüchtlingen in dreißig Güterwagen. In einem Viehwaggon waren sechzig Personen mit ihrem Gepäck untergebracht. Die russische Besatzung hat am Maierhofe in Neufalkenburg alles Vieh fortgetrieben, nicht einmal ein Kalb ist dort geblieben. Die Mutter meines Schwiegersohns hat sich als Holländerin ausgegeben, und die Kinder sind unbelästigt geblieben.

Im Garten nicht gearbeitet. Alle Tage am Felde gegossen. Auf die Hausrabatte 30 Krauskohl[95] gepflanzt.

Pfingstsamstag, 19. Mai: Sonne und warm. Es war ein recht aufregender Tag. Flüchtlinge ließen ihr Gepäck in unserem Keller, da der wartende Zug nicht mehr weiterfuhr. Den ganzen Vormittag waren wohl hundert Leute bei uns in der Wohnung und oben im Garten, um Wasser, Kaffee oder Tee, oder sie wollten selbst etwas kochen oder Milch für die Kinder wärmen, die Säuglinge versorgen, oder sie bettelten um ein paar Kartoffeln. Kaum war dieser Flüchtlingstreck weitergezogen, kam am Bahnhofe ein neuer Zug an. Wieder mußten alle Flüchtlinge heraus. Wieder lagerten Hunderte in den Bahnhofsanlagen und vor dem Gebäude. Viele hatten bereits kein Brot mehr. Jetzt gab es auch keine Fahrgelegenheit mehr. Wir brachten in unserem Schlafzimmer fünf Personen unter, drei schliefen im Sommerhaus, sechs saßen in der Veranda auf einer Bank, weil der ganze Raum mit Gepäck ausgefüllt war, aber der Zustrom nahm immer noch kein Ende. Wir brachten dann noch am Dachboden sieben Leute unter. Abends kamen zwei Frauen mit je sechs Kindern, die im Heuschupfen schliefen. In Leipa hatte man den Kindern alles weggenommen, auch die Lebensmittel. Ein kleines Mädel wollte ihre bescheidenen Sachen festhalten, da trat ihr der Unmensch mit dem Stiefelabsatz auf die Hand. Ich lag nachts in der Küche auf der Erde. Leider hatte die Mutter die ganze Nacht keine Ruhe, und an Schlaf war nicht zu denken. Das war mein 69. Geburtstag.

Im Garten und in Markersdorf konnte ich nicht mehr arbeiten. Nur bei Richter haben wir 5 Beete Chrysanthemen ausgepflanzt und am 29. Mai war ich in Neuland und habe dort junge Chrysanthemen im Kasten[96] ausgepflanzt.

Bis Ende Mai müssen alle Reichsdeutschen ins Altreich zurück. Deshalb hat sich die Mutter meines Schwiegersohns von uns verabschiedet. Sie ist mit recht schwerem Herzen von uns fortgegangen. Die weite Reise bei den jetzigen unsicheren Verhältnissen ist keine Kleinigkeit; und ob sie ihre Angehörigen dort noch antreffen wird, und ob ihr Haus noch bewohnbar ist, weiß niemand.[97]

Am Bahnhofe und überall in der Stadt werden die deutschen Aufschriften entfernt oder überstrichen. Beim Schützenhause bauen die Russen Baracken. Da werden sie wohl noch längere Zeit hierbleiben.

26. Mai 1945: Im Sommerhause hatte die letzte Nacht ein früherer kommunistischer Jugendführer übernachtet, der zehn Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte. Auf meine Frage, was er eigentlich verbrochen habe, sagte er mir, nur weil er Jugendführer war und auch kommunistische Flugblätter verteilt hatte. Weil er damals noch im jugendlichen Alter war, hatte er nur drei Jahre bekommen. Nach dieser Zeit hatte man ihn noch sieben Jahre dort behalten, weil er angeblich staatsgefährlich war.

Was er von diesen Lagern erzählte, war grauenhaft. In Ausschwitz, Kreis Ratibor, sollen bis 120.000 interniert gewesen sein. Später waren es nurmehr 15.000. Im Durchschnitt wurden täglich 1.000 Personen durch Vergasung beseitigt, die dann in acht Krematorien verbrannt wurden. In Groß-Rosen sollen 80.000 Personen in Haft gewesen sein. Auch in Dachau war er längere Zeit. Dort wurden die Häftlinge mit Stockhieben traktiert. Es wurden ihnen bis oder über hundert verabfolgt, aber sie waren nach kurzer Zeit besinnungslos, und viele haben es gar nicht überstanden. Auf meine Frage, wer denn solche Schandtaten ausführen kann, meinte er, es waren überall und ausschließlich SS-Leute.

3. Juni 1945: Nun ist gottlob auch Heinrich heimgekommen. Er war zuletzt in Leisnig in Sachsen im Lazarett, und ist noch einmal operiert worden. Aber die Eisensplitter haben sie ihm immer noch nicht entfernt.

Donnerstag, 7. Juni: Gestern war ich mit der Mutter in Neuland und habe 2 Kästen Chrysanthemen ausgepflanzt. Sie waren ganz ohne Blätter. Der Hagel hat furchtbar gewirtschaftet. In der ganzen Gärtnerei ist im Freien nicht eine Pflanze, die noch unversehrt ist. Der größte Verlust ist bei den Erdbeeren, bei denen es die ganzen Früchte abgeschlagen oder beschädigt hat. An manchen Stengeln erkennt man gar nicht mehr, was eigentlich angepflanzt war. In die Wege und Felder sind Löcher gerissen, die bis zu einem Meter tief sind. Beim Getreide schaut nur hin und wieder eine beschädigte Ähre heraus. Von den Böschungen hat es große Rasenstücke abgerissen und in die Felder geschwemmt. Die Arbeit eines ganzen Jahres ist umsonst gewesen. Heinrich berechnet den Verlust auf mindestens 3.000 Reichsmark; und leider wird jetzt keine Versicherung etwas bezahlen.

Vorgestern habe ich im Felde Kartoffeln angehäufelt.[98] Leider mußte ich aufhören. Immer wieder kamen Gewitterregen. Bei uns war Hausdurchsuchung. Vier Soldaten waren in unserer Wohnung. Was ihnen vom Flüchtlingsgepäck gefiel, haben sie für sich mitgenommen.

Samstag, 9. Juni: Heute früh war ich beim russischen Stadtkommandanten und habe ihn ersucht, ob wir von dem Flüchtlingsgepäck, das sich bei uns befindet, nicht etwas an arme und kinderreiche Familien abgeben könnten. Daraufhin kam ein Leutnant zu uns, hat nochmals alles aufgerissen, dabei vieles ruiniert und die besten Stücke für sich mitgenommen. Er kam dann noch einmal mit Soldaten zurück und sie führten zwei große Fuhren Flüchtlingsgepäck weg.

Wir mußten heute unseren Radioapparat abliefern. Alle Deutschen sind verpflichtet, am linken Arm eine weiße Binde zu tragen. Deutsche dürfen auch nicht mehr mit der Bahn fahren.

Samstag, 16. Juni: Senkgrube entleert. Gartenbeete gejaucht.[99] Am Felde gejaucht (30 Kannen). Nachmittag ist Gretl zu uns übersiedelt. Dann haben wir bis nach Mitternacht eingepackt.

Sonntag, 17. Juni: Gretl mit Kindern und Frau Wenzel mußten heute um 5 Uhr früh gestellt sein und mit vielen anderen wurden sie aus Gabel ausgewiesen.

Montag, 18. Juni: Von der Gretl die dritte große Fuhre geholt. Nachmittag Holz von der Gretl gesägt und bis 10 Uhr abends geschichtet.

Donnerstag, 21. Juni: Vormittags Latten geholt und Tomaten an Pfähle angebunden.[100] Nachmittags mit 15 Fuhrwerken und zwei Sanitätsautos in Krombach-Schangendorf, weil es hieß, die alten und gebrechlichen Leute dürften zurückkehren. Ich war dann beim tschechischen Zollamte an der Grenze und habe ersucht, ob ich nicht die wenigen Schritte bis zum Erholungsheim gehen dürfte, um mit unseren Leuten zu sprechen. Leider war alles Bemühen umsonst, und wir mußten mit den ganzen Fahrzeugen unverrichteter Dinge wieder zurückkehren.

Frau Wenzel hat mir durch das Sanitätsauto einen Zettel herübergeschickt, auf dem sie schreibt, daß sie sich seit drei Tagen tagsüber im Straßengraben aufhalten und nachts in einer Scheuer schlafen. Sie ersucht mich, ob ich ihnen nichts schicken könnte, da sie viel Hunger litten.

Freitag, 22. Juni: Vormittags beim tschechischen Major gewesen. Ich wollte die Erlaubnis erwirken, über die Grenze gehen zu dürfen, um den Leuten etwas Lebensmittel zu bringen. Leider völlig ergebnislos. Es wurde nur gesagt, daß ein Besuch wegen Verdachts von Spionage nicht gestattet würde.

Der alte Herr Diesner hat sich erhängt; die alte Frau Krejči ist in den Teich gegangen. In Reichenberg sollen viele Frauen in der Talsperre ertrunken sein. Einige sind mit den Kinderwagen hineingefahren.

Samstag, 30. Juni: Die ersten Karotten im Garten geerntet. Bei Dr. Richter Wein geschnitten.[101]

Montag, 2. Juli: Mit Mutter bei Dr. Klein. Ihr Gesicht ist geschwollen.

Freitag, 6. Juli: Gestern früh um 3 Uhr aufgestanden und der Mutter Umschläge gemacht. Ich war zu Fuß in Neuland, weil die Bahn ja für uns Deutsche gesperrt ist. Heinrich und Hannchen sind noch da, aber in der Gärtnerei sieht es trostlos aus. Auch die Gurkenhäuser sind ganz verlaust, und sie werden dieses Jahr herzlich wenig ernten, wenn sie überhaupt noch bleiben dürfen.

Gestern hat sich Herr Wittig im Teich ertränkt. Er konnte nach der Beschlagnahmung seiner Wohnung zuerst noch bei seinem Schwiegersohn unterkommen. Als sie auch Herrn Schöbel in der Nacht fortholten, hat ihn dies wohl zur Verzweiflung getrieben.

7.-14. Juli: Mutter krank. Am Donnerstag, 12., haben wir sie ins Krankenhaus geschafft und am selben Tag ist sie auch noch operiert worden. Samstag wurde dann nochmal ein Eiterherd entfernt. Ich gehe alle Tage drei- oder viermal zu ihr. Am 14. Juli ist Hedi heimgekommen und will bis Montag (16.) dableiben. Sie ist angeblich bei der Martl in Röchlitz. In den letzten Tagen habe ich unseren Keller zu Frau Winter überräumt. Es war eine große Arbeit. Nach Markersdorf kann ich nicht mehr gehen. Diese Woche wurden bei Winter und bei Herrmann die Wohnungen beschlagnahmt.

Sonntag, 15. Juli: Ich war viermal bei der Mutter. Es muß bei ihr noch einmal eine Operation vorgenommen werden.

Mittwoch, 18. Juli: An Gretl und Selma habe ich heute Briefe weggeschickt. Gurken und Tomaten mit Nährsalz[102] gegossen.

22. Juli 1945: Diese Woche hat sich auch der Dom-Schuster erhängt. Im Altreich soll das bei unseren Flüchtlingen ja an der Tagesordnung sein. In Johnsdorf werden sie in Papiersäcken beerdigt, und an den Straßenrändern sollen sich überall frische Gräber befinden.

24. Juli 1945: Heute wurden Heinrich und Hannchen ausgewiesen. Ich konnte ihnen noch einige Sachen bringen, als sie bei uns am Bahnhofe vorbeikamen. Sie waren übernächtigt. Es war ein recht trauriger Abschied.

Donnerstag, 26. Juli: Mutter aus dem Krankenhaus geholt. In der Nacht nicht geschlafen.

Samstag, 28. Juli: Im Freiland die ersten Gurken und Tomaten geerntet. Majoran das zweite Mal abgeschnitten. Seit Mitte Juli ernten wir Schnittblumen am Felde. Auch Kraut und Kapuste. Möhren sind sehr schön und werden schon gestohlen. Von Otto Brief erhalten. Heute nach Habendorf[103] geschrieben. Vorige Woche an Gretl geschrieben.

Montag, 30. Juli: Heute um 3 Uhr nachmittags wurde unsere Wohnung beschlagnahmt. In 20 Minuten sollten wir hinaus sein. Wir haben unsere allernotwendigsten Habseligkeiten ins Gärtnerhaus geräumt und bei Hilgarth haben sie uns die obere Wohnung zur Verfügung gestellt.

31. Juli / 1. August: Wir haben oben eingeräumt und konnten uns dann doch noch das Notwendigste aus unserer früheren Wohnung herausholen. Vom Felde haben wir die ersten Frühkartoffeln geholt.

Donnerstag, 2. August: An 6 Parteien Gemüse verteilt: Richter, Förster, Wihl, Dr. Sturm[104], Gürth, Michel. Tomaten, Gurken und Majoran mit Kuhdünger gejaucht[105]. Kohlen von unten in den Keller geschafft. Mit der Mutter im Felde Möhren geholt. In Markersdorf wurde am 1. August die Richter-Gärtnerei beschlagnahmt und übernommen.

Vertreibung und Neubeginn

Samstag, 4. August 1945: Um drei Uhr nachmittags wurden wir ausgewiesen. Mit Rücksicht auf die kranke Mutter bekamen wir eine Stunde Zeit. Frau Wenzel und Frau Herbig haben mit eingepackt und uns einen Kinderwagen geborgt. Einen alten Wagen haben wir notdürftig zusammengerichtet und um vier Uhr wurden wir in der Gürtlerfabrik interniert. Hier waren schon 300 bis 400 Personen. Alles war überfüllt. Wir haben dort zwischen den Webstühlen übernachtet und fast nicht geschlafen.

Sonntag, 5. August: Um sechs Uhr ist Hedi zwischen den Zaunlatten hinausgegangen und ins Krankenhaus zum Gottesdienst. Die Studnitzki Emmi und Frau Herbig haben alle Tage warmes Essen gebracht, ebenso Frau Loos und Herr Eichler, der bitterlich weinte. Wir hatten in diesen zwei Tagen unser Heim vor Augen und durften nicht mehr hinaus. Am Abend war strenge Kontrolle. Alle neuen Sachen wurden weggenommen. Auch schöne alte Sachen, Uhr, Brille, Geld, alle Dokumente.

Montag, 6. August: Um fünf Uhr früh alles gepackt und unser Wagel ist gleich zusammengebrochen. Mit Frau Wenzel dann die Sachen auf einen anderen Wagen aufgeladen. Schon am Stadttore mußte alles wieder herunter und wurde auf zwei Wagen durcheinandergeworfen. Alles Reden und Bitten war umsonst.

Es war ein schmerzhafter Augenblick, als wir von unserer alten Heimat Abschied nehmen mußten und die Kuppel unserer Kirche zum letzten Mal sichtbar war. Was hatten wir in einem Leben voll Mühe und Arbeit aufgebaut! Es war wohl keine Schande, daß uns dabei die Tränen über die Wangen liefen. Nun sind wir heimatlose Bettler geworden.

Etwa sieben Uhr abends waren wir in Niederoderwitz. Dort trafen wir Heinrich und Hannchen. Wir haben gleich einen Teil unserer Sachen abgeladen. Mutter und Hedi stiegen vom Wagen herunter. Frau Wenzel war leider schon am Bahnhof und durfte auf keinen Fall dableiben. Leider hat sie aus Versehen viel von unseren Sachen mitgenommen, vor allem Wintersachen und Schuhe.

Dienstag, 7. August: Ich war in Zittau beim Landrat Zwingenberger. Er hat gleich zum Bürgermeister nach Niederoderwitz telefoniert und um Aufenthaltsgenehmigung ersucht. Um fünf Uhr nachmittags war eine große kommunistische Kundgebung am Marktplatz in Zittau. Der Redner betonte, das deutsche Volk müsse sich ohne Ausnahme zur Kriegsschuld bekennen, wenn auch zum Teil nur deshalb, weil es sich nicht gegen das Hitlersystem mit seinen gewalttätigen Übergriffen gewehrt habe.

Mittwoch, 8. August: Ich bin nach Sohland gefahren und habe Frau Wenzel gesucht. Von dort ging ich zu Fuß nach Schirgiswalde[106]. Alles umsonst. Sie sind fort und niemand weiß, wohin sie gebracht wurden. Ich habe den ganzen Tag bis abends nichts gegessen.

Donnerstag, 9. August: Am Gemeindeamt Lebensmittelkarten geholt und Aufenthaltsgenehmigung bis 31. August erhalten. Bei der Gärtnerei Jauch[107] ein Haus Cinerarien angepflanzt, Cyclamen und Warmhauspflanzen.

Sonntag, 12. August: Gretl war mit ihren Kindern in Niederoderwitz. Es war ein schöner, festlicher Sonntag. Hannchen und Hedi sind nachmittags nach Zittau gefahren, abends bei strömendem Regen über die Grenze nach Gabel gegangen und die ganze Woche dort geblieben.

Sie sind dann mit dem schweren Gärtnerwagen über die Berge gefahren. Leider wurde ihnen an der Grenze wieder viel weggenommen. 15 Personen haben alles durchsucht und sogar die Zündholzschachteln kontrolliert. Alle neuen Sachen, die Lebensmittel und die schöne Pelzjacke von der Gretl wurden ihnen weggenommen.

Mittwoch, 15. August: Mit Mutter und der Gemeindeschwester nach Großschweidnitz gefahren. Um ½ 4 Uhr wurde die Mutter dort aufgenommen. Die Anstalt umfaßt 43 Objekte, die verstreut in einem großen Parke liegen. Ich hatte der Pflegeschwester 50 Reichsmark gegeben und sie ersucht, die Mutter mit etwas Liebe und Geduld zu behandeln.

Sonntag, 19. August: Um sechs Uhr früh nach Seifhennersdorf zu Gretl gefahren. Vor- und nachmittags bei Palme[108], die Gärtnerei besichtigt. Es gibt vier Gewächshäuser und viel Freiland, auf dem Gemüse angebaut wird. Es sind sehr liebe Leute. Beim Fortgehen sagte dann Herr Palme: „Am besten, Sie bleiben bei uns.“ Das war uns natürlich allen eine große Freude, und ich war ganz glücklich, daß ich wieder Arbeit finden und ein Obdach erhalten sollte. Um fünf Uhr war dann Abendmesse in der katholischen Kapelle. Mehr als hundert Personen nahmen teil. Bei Gretl habe ich übernachtet.

Montag, 20. August: Früh nach Zittau gefahren zum Landrat. Dort war alles überfüllt und niemand wurde vorgelassen. Durch Vermittlung seiner Tochter konnte ich doch noch mit Herrn Zwingenberger sprechen. Mir wurde dann die Aufenthaltsbewilligung in Aussicht gestellt. In Niederoderwitz habe ich mir sechs Paßbilder bestellt.

Dienstag, 21. August: Heinrich[109] und Hedi[110] sind heute morgen mit einem schweren Leiterwagen nach Leisnig[111] zu Bekannten gefahren. Heinrich hat dort in einer Gärtnerei Arbeit gefunden. Ich bin zu Fuß nach Seifhennersdorf gegangen und habe um 9 Uhr früh bei Palme schon eingepflanzt. Herr Palme sagte zur Gretl: „Er ist jetzt wieder in seinem Element!“ Ich schlafe am Sofa bei der Gretl.

Pro Person und Woche gibt es anderthalb Kilogramm Kartoffeln, ein Kilogramm Brot und 25 Gramm Fleisch. Das ist alles! Vor allem Kinder sterben an Hungertyphus, da kaum Milch vorhanden ist. Ein Missionsprediger sagte, in Berlin stürben täglich tausend bis zweitausend Personen. Bei Clemenz ist ja an jedem Mittwoch Bibelabend, der mit Gebet und Gesang eröffnet und beschlossen wird. Es kommen 30 bis 50 Personen.

Mittwoch, 22. August: Nachmittag wieder nach Niederoderwitz gefahren. Ich bin schon drei Tage magenkrank und habe keinen Appetit und dabei Durchfall.

Sonntag, 26. August: Um 10.15 Uhr nach Großschweidnitz gefahren. Später kam dann auch Hannchen dorthin. Die Mutter war recht ungehalten, aber sonst hat sie nicht geklagt und wollte auch nicht mit heim. Freilich redet sie alles durcheinander, aber wir sind doch mit weniger Sorge wieder heimgefahren.

Sonntag, 2. September: Wieder zur Mutter gefahren. Sie ist sehr schwach und hat viel geweint, aber fast nichts gesprochen. Sie war so matt, daß ihr die Augen zufielen. Es hat mir so bitter weh getan und ich bin mit sehr schwerem Herzen wieder weggefahren. Aber sie hat nicht geklagt und ihr Denkvermögen scheint immer mehr zu schwinden. Abends nach Nieder­oderwitz gefahren.

Montag, 3. September: Hedi berichtete, daß der jetzige tschechische Gärtner[112] unseren alten Geschäftswagen unbedingt wiederhaben muß. Er sei angeblich Staatseigentum So fuhr ich mit Hedi mit dem großen Kastenwagen nach Oybin. Dort wurde er von einem Boten abgeholt.

Dienstag, 4. September: Von der Gemeinde Aufenthaltsbewilligung und Lebensmittelkarten erhalten. Gestern war ich in Zittau bei der Auskunftsstelle für Flüchtlinge und habe mich wegen Hedi erkundigt. Alle Mittage geht ein Treck von dort ab gegen Dresden.

5.-8. September: In vier Tagen habe ich allein über 2000 Cyclamen getopft. Vorige Woche wollte mir Herr Palme 50 Reichsmark geben, aber ich habe nur die Hälfte angenommen. Heute gab mir Herr Palme wieder 50 Reichsmark, und extra noch 10 Reichsmark zum Erntefest, obwohl ich nur fünf Tage gearbeitet habe. Ich gebe der Gretl wöchentlich 20 Reichsmark als Kostgeld davon, solange ich soviel Geld bekomme. Im Winter nehme ich es auf keinen Fall. Herr und Frau Palme sind so lieb und gut zu uns, daß wir sie nicht im Stich lassen wollen. Er setzt alles daran, daß wir auch über den Winter hierbleiben können, obwohl alle Flüchtlinge ohne Ausnahme fort sollen.

Gestern bekamen wir von Georg und Maria drei ausführliche Briefe, und die Freude darüber war sehr groß. Sie sind gottlob noch daheim.

Sonntag, 9. September: Erntedankfest. Ich war mit Tante Selma bei der Mutter. Leider geht es ihr nicht gut. Sie hat fast gar nicht gesprochen, nur ja oder nein, und hat uns wohl gar nicht gekannt. Nur zwei lichte Augenblicke hatte sie, in denen sie mir die Hand drückte und einen Kuß gab. Auch beim Fortgehen war sie ganz teilnahmslos. Es ist recht traurig.

 

Johanna Gundacker

 

Sonntag, 16. September: Ich war in Großschweidnitz. Mutter ist gestern abend um 10 Uhr gestorben. Sie war in einem blütenweißen Gewande aufgebahrt, einen Begonienzweig in den verschlungenen Händen. Ich war mit ihr eine Stunde allein und konnte den Tränen freien Lauf lassen. Ich dankte ihr für all’ ihre Liebe und Fürsorge für mich und die Kinder und leistete ihr Abbitte, wenn ich ihr wehgetan hatte.

Donnerstag, 20. September: Um zehn Uhr wurde unsere Mutter begraben. Sie hat jetzt ausgelitten. Gretl hatte zwei schöne Kränze gebunden für uns und für Heinrich. Auch die Selma hat einen schönen Kranz mitgebracht. Hannchen und Heinrich waren da. Ich hatte den katholischen Erzpriester aus Löbau eingeladen. Er gestaltete eine erhebende Feier in der Friedhofshalle. Hannchen spielte auf dem Harmonium einige Choräle, und der Geistliche fand recht trostreiche Worte.

Montag, 24. September: Zuschrift vom Landrat, Aufenthaltsbewilligung bis 31.10.45. Wir sollen die Wohnbaracke räumen, weil 150 Familien aus Reichenau[113] in Seifhennersdorf untergebracht werden müssen.

Wir sollen also wieder ins Blaue wandern, Aber welcher Gärtner stellt schon im Herbst neue Leute ein? Kurts Mutter und Schwester sind in Kahla gut untergebracht. Herr Dr. Tietze soll bei Erfurt[114] die Seelsorge für die Flüchtlinge übernehmen.

Mittwoch, 26. September: Kurt ist nach Thüringen gefahren. Er will in Erfahrung bringen, ob nach der Bodenreform eine Gutsgärtnerei zu pachten ist. Seine neugeborene Tochter, die kleine Margot, ist frisch und munter. Die Mutter ist schon wieder aus dem Heim entlassen.

Sonntag, 30. September: Vormittag Cyclamen aufgestellt. Gestern war Feiertag für die Opfer des Faschismus. Abends war große Kundgebung in der Turnhalle. Bis ½ 10 Uhr brannte kein Licht. Der Redner hat sein Referat bei Kerzenschein gehalten: 20 Millionen sind im Krieg umgekommen, darüber hinaus sollen viele Millionen in Gefängnissen und Lagern festgehalten worden sein.

Kurt hat telegrafiert: Er hat Arbeit. Wir sollen nachkommen.

Mittwoch, 3. Oktober: Zwei Häuser Blanche[115] ausgezwickt. Herr Palme in Görlitz. Kurt ausführlich von Thüringen geschrieben. Gretl 12 Kränze gebunden.

Donnerstag, 4. Oktober: Gretl 13 Kränze gebunden. Pelargonienstecklinge und Cinerarien ins Kalthaus[116] geräumt.

Freitag, 5. Oktober: Gretl hat zu Mittag Schluß gemacht. Sie wird in Kahla in einer Schneiderei arbeiten. Ich darf angeblich hierbleiben. Herr Palme hat mit Herrn Bürgermeister gesprochen.

Montag, 8. Oktober: Gretl ist ½ 7 Uhr mit Martl und deren Töchterlein Margot nach Thüringen gefahren.[117] Am Vormittag habe ich die Baracke ausgeräumt.

Dienstag, 9. Oktober: Ich bin zu Frl. Richter übergesiedelt. Ich habe eine kleine Kammer neben der Küche.

Kirchweihsonntag, 14. Oktober: Hermann[118] hat geschrieben. An Dr. Tietze, an Hermann und an Gretl geschrieben.

Samstag, 20. Oktober: Herr Dechant Sitte[119] schrieb mir aus Erfurt, daß dort in einem Altersheim ein Gärtnerposten freigeworden ist.

Dienstag, 30. Oktober: Vom Polizeiamt Reisebewilligung geholt. Nachmittag nach Dresden gefahren. Ich war erschüttert beim Anblicke dieser Ruinenstadt, vormals einer der schönsten Orte unserer Erde. Im Bahnhofe eine unübersehbare Menschenmenge, obwohl der Zug erst am nächsten Morgen losfuhr! Ich mußte wie die anderen in einem Güterwaggon stehend die lange Nacht verbringen. Man konnte sich nicht einmal auf sein Gepäck setzen. Wenn ich erst bei der Abfahrt am nächsten Morgen gekommen wäre, hätte ich keine Möglichkeit mehr gehabt, überhaupt in einen Zug nach Erfurt hineinzukommen.

Mittwoch, 31. Oktober: Unser Zug fuhr erst um ½ zwei Uhr nachmittags los und hatte noch einen langen Aufenthalt in Leipzig. Abends gegen sieben Uhr war ich endlich in Erfurt. Bei Herrn Dechant Sitte übernachtet.

Donnerstag, 1. November: In der Lucius-Hebbel-Stiftung[120] vorgestellt. Ich sah mir den großen Garten an. Leider war es für mich eine Enttäuschung. Es war kein Gewächshaus da und auch kein Mistbeet. Das Wohnhaus war vollständig durch Bomben zerstört. Auch im Garten waren riesige Bombentrichter.

Samstag, 3. November: Früh von Erfurt weggefahren. Um ½ 8 Uhr in Weißenfels. Um ½ 4 nach Leipzig gefahren und dort übernachtet.

Sonntag, 4. November: In Dresden-Neustadt. 3 Stunden Aufenthalt. Abends um ½ 10 Uhr heimgekommen. Gretl teilte Herrn Palme mit, daß sie von einem Heimkehrer die Nachricht erhalten habe, Rudolf sei in der Gegend von Moskau bei der „Tschechischen Legion“. Frau Anna Wenzel ist in Hakenstedt bei Magdeburg in einem Lager (Kasernenhof). Leider ist der große Sack mit unseren Sachen verlorengegangen. Georg muß in Habendorf noch seinen Nachfolger einarbeiten. Das kann bis Mai dauern, und dann bekommt wohl auch er einen Fußtritt. Hermann jedenfalls ist noch in Wiese.

Dienstag, 6. November: Gestern an Hermann und Maria ausführlich geschrieben, heute an Herrn Herrmann, Herrn Dechant und das Lucius-Hebbel-Stift. Den ganzen Tag in Neugersdorf bei Herrn Schulze Obst und Beerenobst geschnitten. Dies geschah bei kaltem und rauhem Winde, für ein Brot, das mir ein Bekannter für die Reise gegeben hatte.

Mittwoch, 7. November: Feiertag, Sovjetunion besteht 28 Jahre. Wir haben wirklich keine Ursache, die russischen Gedenktage in dieser Weise mitzufeiern!

Dienstag, 13. November: Von Habendorf zwei Briefe mit insgesamt acht Blättern erhalten, auch Briefe von Otto und Hermann waren dabei. Otto schreibt, daß er nur noch Gottesdienste in tschechischer Sprache halten darf. Es wird immer schwieriger, die Briefe von Habendorf über die Grenze zu bringen.

Sonntag, 25. November: 2-3° kalt. Einkehrtag bis sechs Uhr abends. Pelargonienstecklinge durchgeputzt.[121] Nach Erfurt geschrieben, daß ich die dortige Gärtnerstelle nicht antreten möchte.

Mittwoch, 28. November: Schneepantsche. Sedumstecklinge[122] gemacht. Pelargonienstecklinge durchgeputzt. Vormittag am Stadtamt wegen Schuhen und Volkssolidarität.

Sonntag, 2. Dezember: 4-8° warm, Sonne. Ich vormittags an der Grenze bei Frau Richter Beerenobst geschnitten. Hedi schreibt, daß sie in Leisnig bei der Frau eines Brauereibesitzers im Haushalt beschäftigt sei. Sie habe gute Kost und werde auch gut behandelt. Die alte Frau Herbig hat sich erhängt.

Sonntag, 16. Dezember: Tau- und Pantschwetter. Der erste freie Markt in Seifhennersdorf. Es waren mehr als tausend Besucher da, aber es gab fast keine Verläufer und nur wenig Ware. Nachmittags war Weihnachtsfeier bei Herrn Palme. Leider wurde kein einziges Weihnachtslied gesungen. Das von Frau Karsten mitgebrachte Grammophon spielte nur Schlager und Gassenhauer. Ich habe handgestrickte Wintersocken, Hosenstoff, Äpfel und Backwerk erhalten. An die junge Frau Herbig[123] geschrieben.

Dienstag, 18. Dezember: Kalter Wind, 2-3° warm. Pantsche. Alle Pelargonien auf die Hängebretter[124] gestellt. Begonien in Schwefelbrühe[125] getaucht.

Hannchen und Heinrich bei mir. Nachmittag zusammen bei Mutters Grab. Hannchen hat einen kleinen Stollen, vier Semmeln, Leckwerk, Äpfel, Syrup, Marmelade, sowie etwas Butter und Leberwurst mitgebracht. Sie wollen noch einmal über die Grenze gehen.

Sonntag, 23. Dezember: 2-5° warm, herrlicher Sonnenschein. Ich erhielt von Habendorf durch einen Boten von Herrn Schubert einen lieben Weihnachtsbrief mit zwei Bildern von den Kindern. Was war das für eine Freude! Dazu eine Hausbuchte[126] von weißem Mehl und eine Menge Kleingebäck, von Maria gebacken. Ich konnte es erst gar nicht fassen, bis ich dann den Brief gelesen habe. Nachmittags Weihnachtsfeier für die Flüchtlinge mit Darbietungen von Kindern, und dann Bescherung. Ich habe Schuhe, einen Anzug, Hemd, Socken und eine Decke erhalten.

Am Weihnachtsabend habe ich ausführlich nach Habendorf geschrieben. Ich war im Geiste bei allen unseren Kindern und bei der Mutter, auch bei der Gretl in Kahla. Ich hätte nur an diesem Abend gerne alle meine Enkel gesehen. Um ½ 12 Uhr war ich dann in der Christmette.

Dienstag, 25. Dezember: Erster Weihnachtstag. 4-5° warm. Früh und abends in der Kapelle. Nachmittag in der Kreuzkirche Krippenspiel. Bei Frau Richter Ribis[127] geschnitten.

Am zweiten Weihnachtsfeiertage habe ich Dienst gehalten bei Palme und bis abends Pelargonien verpflanzt. Gegen 11 Uhr stand plötzlich Hannchen vor mir. Beide sind glücklich hinübergekommen, haben die erste Nacht in Hermsdorf zugebracht und dann in der Gärtnerei in Neuland geschlafen. Am Rückweg ist Heinrich von Neuland bis Laaden mit einem Schubkarren gefahren, damit es nicht so auffällt.

Sonntag, 30. Dezember: Nach dem Gottesdienst den ganzen Sonntag bei Frl. Richter Wein, Beerenobst und Sträucher geschnitten[128].

Freitag, 4. Jänner 1946: 7-8° kalt. Umgegraben. Hortensien fertig angefüllt. Von Habendorf, von Frau Schrammel[129] und von Frau Wenzel Briefe erhalten.

Sonntag, 3. Feber: 6-8° warm, Regen. Nachmittags bei Frau Knippel Tagebuch geschrieben, an Frau Hollmann[130] geschrieben. Abends ins Kino: „Die Zaubergeige“. Sehr schön!

Montag, 11. Feber: Ganzen Tag Regenwetter.[131]

Dienstag, 12. Feber: Schnee. Aprilwetter. 1-3° kalt. Fuchsien- und Epiphyllumstecklinge[132] eingepflanzt. Karfiol („Dippes Erfolg“) pikiert. Gestern von Frau Herold[133], Herrn Brabetz[134] und Frau Wenzel Briefe erhalten und von Hedi einen zurückgekommenen. Herr Brabetz war 34 Jahre lang Sekretär im Dienste der Stadt Deutsch-Gabel. Bei den Tschechen hat er noch monatelang die Stadtkasse verwaltet. Dann wurde er fristlos entlassen, acht Tage in Arrest gesteckt und danach über die Grenze abgeschoben. Während dieser Zeit hatte man aber seine Frau mit ihrer Mutter ausgewiesen. Er hatte keine Kenntnis, wohin man sie gebracht hatte.

Dienstag, 26. Feber: Früh 13° kalt. Der erste schöne Sonnentag. Pelargonienstecklinge gemacht. Bei Röntsch in den beiden Gewächshäusern Kessel aufgestellt und mit dem Verglasen begonnen. Herr Palme weiß nicht mehr, wohin mit den Pflanzen. Daher hat er diese Gewächshäuser in der Nachbarschaft gepachtet, die allerdings völlig heruntergekommen sind.

Freitag, 22. März: 5-10° warm. Regen. 1 Doppelkasten Maikönig[135] gepflanzt.

Freitag, 29. März: 5° warm, nachmittags 12° warm. Sonne. Von Zittau Strohdeckel[136] geholt, 100 Stück. Coleusstecklinge in Töpfe gepflanzt. An Frau Hollmann[137] geschrieben.

Samstag, 6. April: Früh 10° warm, nachmittags 2° warm. Regen. Seit 5 Uhr früh im Garten. Primeln pikiert. Fuchsienstecklinge in Töpfe gesetzt. Coleus verpflanzt. Dahlien geteilt und geputzt. Von Hedi[138] Karte erhalten.

Sonntag, 7. April: Kalt und rauh. 0-5° warm. Mein Namenstag. 5 Uhr Kirche. Seit ¾ 6 Uhr früh in der Gärtnerei. Fuchsienstecklinge gemacht.

Montag, 8. April: Herrlicher Sonnentag. 15-20° warm. Tomaten in Töpfe gepflanzt. Sedumstecklinge gemacht. Brief von Frau Wenzel erhalten. Früh bei Frl. Richter Erde durchgesiebt.

Mittwoch, 10. April: Ganzen Tag 0-5° warm. Kalt und rauh. Hortensien in Töpfe gepflanzt. An Gretl Mantel abgeschickt.

Samstag, 13. April: 4-8° warm. Früh Regen. Coleusstecklinge gemacht. Hortensien fertig eingepflanzt. Von Gretl, Suse[139] und vom Vater meines Schwiegersohns[140] Briefe erhalten. Abends bei Frl. Richter umgegraben. In der Gärtnerei zu Mittag im Beete gearbeitet.

Mittwoch, 17. April: Sonne und warm. Ich um 2 Uhr aufgestanden. Um ¼ 3 Uhr bei Vollmond in die Gärtnerei gegangen und dort Pelargonien verpflanzt. Der erste Doppelkasten ist voll (20 Fenster).[141]

Ostersonntag, 21. April: Herrlicher Sonnentag, warm. Um 6 Uhr früh bei Frl. Richter 60 Kohlrabi und 1 Beet Steckzwiebeln gepflanzt. Festgottesdienst, hl. Communion. Zu Mittag und abends bei Palme geladen. Nachmittags mit Herrn Palme in Neugersdorf und in der Sandgrube. Von Gretl Brief und von Herrn Brabetz Karte erhalten.

Montag, 29. April: Sonne, warm. Im langen Hause 3 Luftfenster[142] eingebaut. Coleusstecklinge eingepflanzt. Tabak pikiert.

Mittwoch, 1. Mai: Herrlicher warmer Sonnentag. Ich in Oderwitz bei der Selma zu Fuß. Abends Bibelstunde.[143] Majoran pikiert.

Donnerstag, 2. Mai: Chrysanthemenstecklinge gemacht. 6 Kastel Kürbis ausgesät. Vom 1. Satz ist nicht ein Korn aufgegangen. Alle 34 Kastel Semperflorens[144] in Kasten gestellt.

Freitag, 3. Mai: Sonne, warm. Schon wochenlang kein Regen. Von 6 Uhr früh bis ½ 10 Uhr abends im Garten. Von Herrn Katechet und Frau Leubner Briefe erhalten, ebenso von Herrn Koch (Selma).

Donnerstag, 9. Mai: Jahrestag der Kapitulation. Chrysanthemen-Jungpflanzen in Kasten gepflanzt. Treibgurken[145] verpflanzt. Coleus- und Begonienstecklinge gemacht. Chrysanthemen ausgepflanzt.

Samstag, 18. Mai: Wieder ca. 30 Körbe, Töpfe und Schalen für den Muttertag bepflanzt. 1 Maulwurf gefangen. Coleus verpflanzt. Bei Frl. Richter Bohnen gelegt. Majoran, Reseda[146], Zwiebeln, Kresse und Winde[147] gesät. Zwei Schalen für Tante Selma bepflanzt, die heute 70 Jahre alt wurde. Sie ist einen Tag älter als ich.

Sonntag, 19. Mai: Ich wurde 70 Jahre alt. Bei Palme hat man mir im Arbeitsraum einen Geburtstagstisch hergerichtet. Ich habe von den Arbeitsfrauen einen großen Gugelhupf[148] erhalten und eine Glückwunschkarte dazu, von Herrn und Frau Palme einen großen Stollen, zwei Stück Stoff für Sommerhemden und Blumen. Hl. Communion für alle meine Lieben aufgeopfert. Abends wunderschöne Maiandacht. Erst um ½ 11 Uhr abends meine Suppe gegessen. Bis 12 Uhr nachts sechs Briefe geschrieben, an Hermann, Otto, Maria, Hannchen, Gretl und Hedi. Dabei habe ich in meiner kleinen Kammer den großen Koffer auf’s Bett gestellt, und darauf die ganzen Briefe und noch Tagebuch geschrieben. Deshalb sind auch diese Zeilen auch etwas unleserlich und windschief. Das fehlt mir am meisten, daß ich kein kleines Zimmer habe, keinen Tisch, keinen Schrank. Ich habe nur ein offenes Fach. Dort habe ich meine Wäsche auf einem Stoß aufgeschichtet. Man wäre gerne einmal eine Stunde allein. Aber in dem langen Winter kann ich mich in meinem unbeheizten Zimmer nicht aufhalten, um dort zu schreiben oder zu lesen. Es gibt auch sonst kein Fleckchen in diesem Hause, an dem ich mich niedersetzen könnte.

Montag, 20. Mai: Sonne, warm. Cyclamen ausgepflanzt. Im langen Hause Gurken ausgepflanzt, „Weigelts Beste“. Von Hermann den ersten Brief durch die Post erhalten.[149] Von Erwin Brückner Karte erhalten. Ende Mai bekam ich auch Nachricht von den Eltern von Georg. Sie halten sich in einem Auffanglager in Schwabmünchen auf.

Montag, 3. Juni: An Hannchen, Selma und Großschweidnitz geschrieben. Ich schrieb auch an meinen Bruder nach Landeck, das jetzt in Polen liegt.[150] Von ihm hatte ich bisher noch keine Nachricht erhalten. Suse aber hatte von einer ausgesiedelten Familie einen ausführlichen Brief von Hanne erhalten, die in einem Krankenhause als Assistentin beschäftigt ist. Sie darf Landeck erst mit dem letzten Transport verlassen. So lange wollen auch die Eltern dort bleiben. Rudolf arbeitet in einer Gärtnerei. Seine Frau besorgt den Haushalt und kocht auf einem Miniaturofen.

Samstag, 8. Juni: Seit 5 Uhr früh in der Gärtnerei. 24 Körbe und Schalen bepflanzt. Die letzten Chrysanthemenstecklinge gemacht. Von Großschweidnitz und Herrn Brabetz Post erhalten.

Pfingstmontag, 10. Juni: Ich in Oderwitz bei Clemenz.

Sonntag, 16. Juni: 8 Uhr in der Kapelle Antoniusfeier. Fünf Schalen Primeln ausgesät. Nachmittags daheim Tagebuch geschrieben und Bilder von der Mutter geholt.

Montag, 1. Juli: Frl. Siegel[151] geschrieben.

Montag, 8. Juli: Vormittag Fuchsien verpflanzt. Nachmittag in Großschweidnitz bei Mutters Grab. Abends an Onkel Rudolf[152] geschrieben.

Freitag, 12. Juli: Heute an Heinrich, Suse und Frl. Moureaud[153] geschrieben. Beide Tage Cyclamen verpflanzt. Alle Chrysanthemen gestutzt und Stecklinge gemacht. Ficusstecklinge gemacht.

Freitag, 19. Juli: Früh nach Mochau gefahren. Um 9 Uhr abends bei Hannchen und Heinrich.[154]

Samstag, 20. Juli: Früh nach Leisnig gefahren. Nachmittag nach Klosterbuch zu Frau Hempel[155]. Abends mit Hedi nach Mochau gefahren.

Sonntag, 21. Juli: Mit Hannchen und Hedi in Döbeln zur Kirche.

Montag, 22. Juli: Über Leipzig, Gera, Göschwitz nach Kahla[156] gefahren. Gretl war nicht wenig überrascht und erfreut über meinen unerwarteten Besuch. Sie hat in der Altstadt in einem alten Hause eine recht gemütliche Wohnung.

Dienstag, 23. Juli: An Hermann mit Rückantwort telegraphiert. Er soll, wenn möglich, nach Kahla kommen. Aus Langeweile bei Gretl Holz gesägt.

Mittwoch, 24. Juli: Vormittag Holz gesägt und geharkt. Nachmittag auf der Leuchtenburg, die wie eine Trutzburg auf einem Berge thront.

Freitag, 26. Juli: Hermann ist endlich gekommen. Er wollte mich in Seifhennersdorf besuchen und traf mich dort nicht an.

Samstag, 27. Juli: Mit Herrmann Kahla besichtigt und Familie Maier besucht.

Sonntag, 28. Juli: Hermann hat in der überfüllten Kapelle der Leuchtenburg Gottesdienst gehalten. Es waren recht gemütvolle Stunden, die wir bei der Gretl und den Kindern verleben konnten. Mir tat es nur leid, daß wir ihnen das wenige, das sie an Lebensmitteln bekam, noch wegessen mußten.

Montag, 29. Juli: Der Abschied, besonders von den Kindern, die tüchtig gewachsen sind, wurde mir nicht leicht. Mit Hermann um ½ 6 früh von Kahla weggefahren. In Weißenfels hieß es: „Alles aussteigen!“[157] Wir mußten dann über Halle fahren. Von Dresden mit Schnellzug bis Neugersdorf (neun Reichsmark Zuschlag), von dort zu Fuß nach Seifhennersdorf. Um ½ 12 Uhr nachts kam ich an, rechtschaffen müde.

Freitag, 2. August: Chrysanthemen am Felde ausgepflanzt. An Gretl eine Kiste Gemüse geschickt. Sie war darüber nicht wenig erfreut.

Sonntag, 4. August: Pelargonienstecklinge gemacht. Jahrestag unserer Ausweisung. Dieses Jahr war wohl das traurigste und leidvollste in meinem Leben. Ich möchte es kein zweites Mal durchmachen.

Montag, 12. August: Seit heute bin ich bei Frau Palme in Kost. Ich hatte Herrn und Frau Palme auseinandergesetzt, daß dies doch notwendig sei, wenn ich schon in meinem Alter so viele Stunden bei ihnen arbeite. Fuchsien verpflanzt. Frau Brabetz geschrieben.

Mittwoch, 15. August: Bei Frl. Richter eine größere Kammer erhalten.

Sonntag, 18. August: Kirche. Vormittags Zimmerlinden und Coleus verpflanzt. Nachmittags zum ersten Mal im Wohnzimmer von Frl. Richter geschrieben. Vier Briefe an Samenhandlungen und fünf Karten an Maria, Gretl, Hedi, Hannchen und Frau Hempel.

Samstag, 24. August: Regen. Mit Cyclamen fertig, 42 Fenster. 10 Fenster Efeustecklinge fertig. Alle Primeln sind umgestellt. Sie blühen wunderschön. Pelargonienstecklinge in Töpfe gepflanzt. Von Habendorf, Otto, Tante Rosa[158] und Herrn Kiebig Briefe erhalten. Der Sohn Florian von Tante Rosa mußte sich in Wien einer Operation unterziehen, weil er ein Armgelenk durchschossen hatte, das immer wieder eiterte. Am Vorabend der Operation bekam er eine Injektion – und am nächsten Tage war er tot.[159] Alois ist in Rußland vermißt, und so hat sie nun beide Söhne verloren.

Sonntag, 25. August: Kirche. Tag des Kindes. 1.600 Kinder beim Kinderfestzug, mit Festwagen und vielen kostümierten Kindern. Abends Fackelzug.

Sonntag, 1. September: Gemeindewahl. Kirche. Nachmittags und abends an Herrn Dechant Sitte[160], Herrn Lange-Friedland, an Herrn Kuba[161], an Hermann, Hannchen, Hedi und Selma geschrieben.

Montag, 9. September: Chrysanthemen eingepflanzt. Von Onkel Rudolf den ersten Brief erhalten. Er ist Musiker geworden. Die Kapelle spielt für die Russen. Hanne, die neue Frau Doktor, hat jetzt ihre eigene Praxis und sehr viel zu tun.

Sonntag, 15. September: Kirche. Seit ¾ 6 Uhr in der Gärtnerei, Begonien in Töpfe gepflanzt. Nachmittag nach Oderwitz zu Fuß. Hannchen und Heinrich getroffen. Erster Jahrestag des Todes meiner lieben Frau.

Montag, 16. September: Mit Hannchen und Heinrich nach Großschweidnitz gefahren. Ich hatte einen Grabstein aus hellem Granit bestellt. Die Aufschrift lautet: „Hier ruht meine liebe Gattin – unsere gute Mutter, Johanna, geb. am 30.12.1878, gest. am 15.9.1945.“ Ich habe zwei Chrysanthemen auf ihr Grab gepflanzt. In Großschweidnitz habe ich an Hermann, Otto, Maria, Hedi, Herrn Kuba[162], Gretl und Herrn Habig geschrieben.

Donnerstag, 19. September: Gretl hat heute geschrieben. Sie hat Post von Rudi aus Rußland erhalten.[163] Sie schreibt: „Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt!“ Wie mich das gefreut hat, kann ich gar nicht sagen. Gretl schrieb, den Kindern standen die Tränen in den Augen, als sie ihnen die wenigen Zeilen, die Rudi geschrieben hat, vorlas.

Sonntag, 22. September: Im Block Tomaten kassiert[164] (8 Kastel). Kirchenkonzert vom Dresdner Kreuzchor in der evangelischen Kreuzkirche. 2000 waren Personen anwesend. Es wurden Stücke von Bach und Händel gesungen. Die Darbietung der jugendlichen Sänger war erstklassig.

Meine Gedanken sind Tag und Nacht bei meinen Lieben aus Habendorf. Maria schrieb mir im letzten Brief, daß sie am 29. September 1946 mit einem Staatstransport ausgesiedelt werden und wahrscheinlich nach Bayern kommen[165]: 30 Personen in einem Güterwagen mit allem Gepäck, und sicher einige Tage unterwegs, da ja die Flüchtlingszüge nur eingeschoben werden, und oft stundenlang auf einem Nebengeleise stehen, bis die Strecke wieder frei ist. Und die Kinder ertragen die Bahnfahrt nicht. Wie würde ich mich freuen, die Kinder wieder einmal zu sehen, besonders den kleinen Winfried!

Am 30. September 1946 bekam ich von Heinrich einen Brief. Sie wollen für immer ins Rheinland fahren. Offiziell haben sie noch keine Einreisebewilligung, und so wollen sie es schwarz versuchen. Dann ist wieder eins meiner Kinder in weite Ferne gerückt. Mein Schwiegersohn ist ein braver und seelenguter Mann, den ich immer recht gern hatte. Er wird mir sehr fehlen.

Samstag, 19. Oktober: Früh 3° kalt. Wir hatten nicht zugedeckt.[166] Sonne. Alles gegossen. Zwei Wahllokale und das Rathaus zur Landtagswahl mit Pflanzen dekoriert. Zu dieser Wahl war wieder reichlich Reklame gemacht worden.

Sonntag, 29. Oktober: Kirche. Nachmittags bei Richter, Möhren, Petersilie und Sellerie geerntet. Kino („Die Befreiung der Tschechoslowakei“).

Dienstag, 22. Oktober: Heinrich hat aus Goch geschrieben. Sie sind mit zwei vollgepackten Handwagen, zwei Rucksäcken, Körben, Taschen – und mit ihrem Hund nach dreitägiger Reisedauer in der englischen Zone angekommen.

Hermann (Boizenburg/Elbe) schreibt, daß er in Neuhaus/Elbe, Kreis Hagenow, eine neue Seelsorgestätte einrichten  muß. Er schildert die vielen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind.[167]

Montag, 28. Oktober: Früh mit zwei Stunden Verspätung zur Hedi gefahren. Bei Regen, Wind, Temperatur von 1-2° und nichts Warmes im Leib, war es keine schöne Fahrt. Abends um sieben Uhr, im Finstern, war ich in Westewitz. Im Gasthaus war alles kalt, und so bin ich gleich zu Bett gegangen.

Dienstag, 29. Oktober: Es regnete den ganzen Tag. Vor- und nachmittags bei Hedi in Großweitzschen. Abends bin ich dann wieder weggefahren. Fast fünf Stunden habe ich im kalten Zuge mit nassen Füßen gesessen, zitternd vor Kälte. Um zehn Uhr abends kam der Zug dann in Dreden-Neustadt an. An Bahnhof war alles überfüllt, es gab nichts Warmes mehr zu essen. Im Wartesaal habe ich die ganze Nacht auf dem Fußboden geschlafen, weil kein Stuhl aufzutreiben war.

Mittwoch, 30. Oktober: Zu Mittag nach Oderwitz gekommen.

Donnerstag, 31. Oktober: Nachmittag zu Fuß nach Seifhennersdorf. Endlich habe ich von Georg und Maria Post erhalten. Sie sind in Schlechtenberg, Post Sulzberg, im Allgäu. Sie sind bei einem Großbauer, der 24 Kühe im Stalle hat, gut untergekommen. Auch Hansjörg hat mir einen langen, sehr schönen Brief geschrieben. Er hat fast eine Stunde bis in die Schule, und im Winter wird es dort oben, in 800 m Meereshöhe, recht kalt. Agnes fährt alle Tage nach Sulzberg in die Oberschule, muß zeitig aufstehen und kommt erst abends heim. Winfried wird am 3. November zwei Jahre alt. Er soll ein recht lieber Junge sein. Wie gern möchte ich ihn und alle meine Lieben wieder einmal sehen! Wie Georg schreibt, ist begründete Hoffnung vorhanden, daß er und auch die anderen Bürokräfte bei ihrer alten Firma Brosche wieder Anstellung finden, die ihren Betrieb in Süddeutschland wieder aufbauen will.

Am 19. November 1946 hat mich Herr Lehrer Kuba mit seiner Frau besucht. Was war das für eine Freude! Er hat aber viel Schweres erlebt. Er saß elf Monate in Reichenberg im Gefängnis, weil er schwarz über die Grenze gegangen ist. Bis 15 Personen waren in einer kleinen Zelle untergebracht. Sie haben auf der Erde auf Stroh geschlafen. Unter den Insassen waren auch Vagabunden und Diebe. Herr Kuba sagte mir: „Hunger ist noch lange nicht das Schlimmste!“ Es war eine harte Strafe, daß sie nicht arbeiten durften und keinerlei Zerstreuung hatten. So schienen die Tage und Wochen der Haft endlos zu sein. Jetzt wohnen sie in einem kleinen Dorfe in Mecklenburg, aber ohne Anstellung – und ohne jede Unterstützung.

Herr Winkler in Leutersdorf, Inhaber einer Schuhfabrik, hatte mich schon zweimal zu einem Besuche eingeladen. Am 29. Dezember 1946 war er wieder in der Gärtnerei, und ich mußte ihm versprechen, am nächsten Tage zu kommen. Der Nachmittag bei ihnen war wohl der schönste, seit ich in Seifhennersdorf bin. Die gastliche Aufnahme war so lieb und freundlich, daß ich vor Staunen darüber keine Worte fand. Durch ihre Verwandten, die jeden Sonntag in Wiese den Gottesdienst beim Hermann besucht hatten, wurde wohl der Kontakt hergestellt. Frau Winkler ist die Liebenswürdigkeit in Person. Am Tischgebet vor dem Kaffeetrinken war zu bemerken, daß ich bei einer gut katholischen Familie zu Gaste bin.

Mitte Jänner 1947 erhielt ich zwei ausführliche Briefe von Hermann. Er hat mehrere auswärtige Seelsorgestationen mitzubetreuen, die sechs bis zehn Kilometer von Neuhaus entfernt liegen. Ende Jänner trafen ein Telegramm und eine Karte von Onkel Rudolf ein: Sie wurden am 8. Jänner 1947 in Landeck ausgesiedelt, kamen zuerst nach Glatz und befinden sich nun im Quarantänelager in Dresden.

Im Alter

Am 27. Jänner 1947 wurde ich krank, Bronchialkatarrh. Als ich nach einer Woche noch nicht gesund war, begann ich nachzudenken, was wohl aus mir werden sollte, wenn ich ernstlich krank würde. Ich habe dann eine ganze Nacht schlaflos gelegen. Ich will mich um eine Altersrente bemühen und mal im hiesigen Altersheime anfragen, ob ich bei Arbeitsunfähigkeit dort Aufnahme finden könnte. Dieser Entschluß ist mir nicht leichtgefallen. Ein Menschenalter hindurch hat man für andere gesorgt – und jetzt muß man noch die öffentliche Wohlfahrtspflege in Anspruch nehmen! Das ist bitter und schmerzlich.

Mitte Feber 1947 war ich immer noch im Krankenstande. Ich habe mir aber einmal das hiesige Altersheim angesehen. Es ist ein alter Bau, der vorher als Krankenhaus diente. Es gibt nur große Zimmer mit sechs, acht und mehr Betten, zwei Gemeinschaftsräume, und die Zentralheizung ist außer Betrieb! Es ist alles sehr primitiv. Ich war sehr enttäuscht.

Ende Feber 1947 hat mir Frau Palme klipp und klar mitgeteilt, daß sie mich nicht mehr länger in Kost behalten könne. Da habe ich meine Sachen ins Altersheim geschafft und mich von Herrn Palme verabschiedet. In Zittau habe ich mich bei Frau Wemme wegen der Sozialversicherung erkundigt. Mir wurde mitgeteilt, daß ich leider keinen Anspruch auf Rente hätte.

Ich erhielt im Altersheim einen Winkel in einem Zimmer mit vier Betten. Am 15. März 1947 habe ich in dem großen Garten des Altersheimes die ersten Aussaaten in große Blumenkästen gemacht und dann mit dem Schneiden der Gehölze begonnen. Der Garten ist die reinste Wildnis!

Am 19. März haben wir eine bescheidene Josefsfeier veranstaltet. Ich habe den „Schelm vom Berge“ vorgetragen; das einzige, das ich von meinem Vater besitze.

Nun erhielt ich einen Brief von Maria, den sie am 17. März 1947 geschrieben hatte, sie hofften in allernächster Zeit für mich eine Einreisegenehmigung zu erhalten. Ich habe mich gleich mit Feuereifer an die Vorbereitungen gemacht, und bei der Polizei Erkundigungen eingezogen. Leider kam schon zwei Tage später die Nachricht, daß der Landrat das Ansuchen abgelehnt habe. Es dürfen nur noch Ehegatten und minderjährige Kinder berücksichtigt werden.

Am 22. März 1947 traf ich mit Onkel Rudolf bei der Selma zusammen. Was war das für ein frohes Wiedersehen nach so langer Zeit! Auch Hedi konnte kommen. Was sind Selma und Hermann für liebe und gutherzige Menschen! Welch trostreiche Worte fand er beim Tisch- und Abendgebet für uns heimatlose Umsiedler! Hier waltet christlicher Sinn und christliche Liebe und ein warmes Empfinden für alle Bedrückten und Leidenden. Onkel Rudolf ist recht schmal geworden und die Sorgen der letzten Zeit sind in seinen Augen zu lesen. Wir waren auch am Grabe unserer lieben Mutter.

Heinrich ist in einer großen Gemüsegärtnerei beschäftigt. Sie haben viele tausende Gemüsepflanzen in Erdlöchern in Kultur. Heinrich und Hannchen wollen Hedi zu sich ins Rheinland nehmen, sobald sie eine eigene Wohnung habe.

Ich war fast alle Tage von sieben Uhr früh bis acht Uhr abends im Garten des Altersheims in Seifhennersdorf tätig: Ich habe 26 Beete Gemüse ausgesät, 18 Beete Gemüse ausgepflanzt, einen Komposthaufen geschaffen, die Sträucher und Bäume in Ordnung gebracht, die Wege gesäubert, alles gegossen. Der Gemeindegärtner konnte gar nicht glauben, daß ich das alles allein geschafft hatte.

Mitte April 1947 schrieb mir der Verwalter[168] des Altersheimes in Niederoderwitz, ich könne am 1. Mai dort aufgenommen werden. Ich hatte mir auch die dortige Gärtnerei angesehen: Es sind drei Gewächshäuser vorhandfen. Leider ist die Heizanlage nicht in Betrieb, der Kessel ist unbrauchbar, und so sind die Häuser im Winter nicht verwendbar. Es ist die Villa[169] vom früheren „Kosa“-Besitzer[170], mit seiner früheren hochfeinen Einrichtung - fast lauter Polstermöbel, die Treppen mit Läufern belegt, Radio, eine vielfältige Bibliothek, schönes Bad, Wintergarten, erstklassige Gemeinschaftsräume, großer Park. Es gibt recht heimische, kleine Zimmer für jeweils zwei Personen.

Die Hauptsache aber ist: das Heim wird von der Fabrik aus beheizt. Das Haus war im Winter gemütlich warm. Dies zieht mich am meisten dorthin. Einen zweiten so kalten Winter möchte ich nicht mehr mitmachen. In Seifhennersdorf sind die Zimmer sehr hoch, unbeheizt (bis auf die Gemeinschaftsräume), die Fenster sind schadhaft, vor allem, das Haus liegt hoch und frei. So ist es jedem rauhen, kalten Winde ausgesetzt. Dieser verwünschte Wind hat mich in den letzten Wochen nicht wenig geärgert!

Am 7. Mai 1947 kam ich nach Niederoderwitz ins Altersheim. Es sind nur 20 Leute im Heim (in Seifhennersdorf waren es fünfzig). Bereits am folgenden Tage begann ich in der Gärtnerei zu arbeiten. Ich habe alle Tage bis neun Uhr abends gearbeitet, täglich etwa zwölf Stunden. Da es sehr heiß und trocken war, nahm die Gießerei kein Ende. Ich war persönlich beim Bürgermeister, und im Juni 1947 bekam ich eine Arbeiterkarte. Auf diese Karte bekomme ich in zehn Tagen ein Kilogramm Brot zusätzlich.

Am 17. Mai 1947 bin ich mit Tante Selma nach Dresden zu Onkel Rudolf gefahren. Sie haben eine hübsche Zweizimmerwohnung im Stadtkrankenhaus. Tante Johanna sieht recht schmal und sorgenvoll aus, und Hanne ist mit Arbeit überlastet. Wir haben dort Geburtstag gefeiert. Am Sonntag habe ich mit Rudolf die Ruinenstadt durchwandert.  Die Altstadt ist ein einziger Trümmerhaufen.

Gleich nach Pfingsten 1947 sind dann  Rudolf und Johanna zur Suse nach Hohenlimburg gefahren. Sie haben bereits eine Aufenthaltsgenehmigung; und so wird diese Stadt ihre neue Heimat werden. Auch Hanne will nachkommen, sobald sich für sie ein passender Wirkungskreis findet. Frl. Moureaud ist leider gestorben.

In der Gärtnerei des Altersheims habe ich im Juni 1947 mehr als 300 Tomaten und wenigstens 60 Kürbisse ausgepflanzt, zehn Beete Freilandgurken, zwanzig Fenster Kastengurken, viel Salat, Karfiol, ein Quartier Kraut, eins Wirsing, eins Sellerie, viel Zwiebeln, Porree, Kohlrabi, Möhren, Spinat, Erbsen, Bohnen, Petersilie, Küchenkräuter. Die Heimbewohner wissen, daß sie durch meine unermüdliche Arbeit zusätzlich Gemüse erhalten, und sind mir auch dankbar dafür.

Erst im Frühjahr 1948 kam mir die Idee, die elektrische Heizung aus den Frühbeetkästen in die Gewächshäuser zu verlegen. Wenn wir schon früher so klug gewesen wären, hätten wir sie den Winter 1947/1948 über benutzen können! Erst Anfang Mai 1948 wurden auf mein Bitten und Drängen hin die zerschlagenen Scheiben an den Fenstern und Gewächshäusern ausgebessert. Der Verwalter behauptet immer, man bekäme nichts, es sei schade um jede Mühe. Und doch treibe ich immer wieder etwas auf: eine Fuhre Dünger, zwanzig Pikierkastel, 300 Tomatenstäbe, zwei Gießkannen, Körbe, Nägel, Pflanzen und Sämereien. Wenn man in der einen Hand etwas Blühendes hat, bekommt man immer wieder etwas in die andere Hand. Unsere Erdbeeren wurden immer wieder von den Hühnern geplündert, bis ich endlich nach einem Jahr erreichen konnte, daß ein Zaun errichtet wurde.

Am 15. Juni 1947 hat mich Gretl besucht. Was war das für eine Freude! Sie hatte ein Bild von Rudolf bekommen, das dieser als Prämie für gute Arbeit erhalten hatte. Er arbeitet in seinem Fache. Er sieht recht gut aus, ist aber viel älter gewordden, und der Ernst des Lebens schaut ihm aus den Augen.

Hermann lud mich zu einem Besuche bei ihm ein. Ich erhielt dafür aber keine Reisegenehmigung. Der Verwalter jedoch erwirkte mir ein ärztliches Zeugnis, daß ich trotz meines Alters den ganzen Sommer schwer gearbeitet hatte und einer Erholung bedürfe. Nun wurde die Reise bewilligt, aber der D-Zug war ausverkauft. Mit viel Blumen und Zigaretten wurde es dann möglich, daß ich am 12. September 1947 losfahren konnte.

Ich habe beim Hermann recht frohe, gemütliche und genußreiche Tage erlebt; das Letztere ist besonders zu unterstreichen. Frl. Liesl[171] brachte sogar Pflaumenknödel und Apfelstrudel auf den Tisch. Das hatte ich seit der Ausweisung nicht mehr erlebt!

Die Wohnung ist leider sehr klein, aber ganz schön eingerichtet und am Marktplatz gelegen.[172] Vor kurzem hat er sich auch in einem Nebenraum eine Kapelle einrichten können. Zwei Landsleute haben ihm unentgeltlich einen Tabernakel gebaut und mit sinnvollen Schnitzereien versehen. In seinem Pfarrsprengel, der mehr als 32 Kilometer Durchmesser hat, leben gegen 200 Sudetendeutsche. Es gibt mehrere Seelsorgestationen und dreißig Schulen. Fünf Laienhelferinnen, ebenfalls Sudetendeutsche, erteilen Unterricht. In der Woche, in der ich da war, gab es fünf Begräbnisse. Hermann hilft seinen Landsleuten, wo er kann: beim Holzfällen, Sägen und Hacken, bei der Erntearbeit und beim Heimschaffen der Ernte. So erweisen auch sie ihm manche Gefälligkeit.

Die Rückreise war schwierig, da der D-Zug nach Dresden eingestellt worden war. So fuhr ich am Dienstag, 23. September 1947, um ½ 5 Uhr früh los. In Magdeburg habe ich in der Baracke der Volkssolidarität die Nacht zugebracht. Am Bahnhofe, im Tunnel, an den Aufgängen, in den Wartesälen, – überall lagen Umsiedler, meist Frauen und Kinder mit ihren Habseligkeiten. Sie warteten auf den Abtransport. Es waren wohl tausende Menschen. Ein solches Bild hatte ich noch nicht gesehen!

Am Mittwoch bin ich dann über Halle, Weißenfels und Naumburg nach Kahla gefahren. In Naumburg hatte ich sieben Stunden Aufenthalt. So kam ich im Finstern zur Gretl. Sie kam erst abends um zehn Uhr von ihrer Arbeit heim. Irmtraud hat mich immer wieder vor Freude umarmt und gedrückt. Am nächsten Tag war ich bei Kurt Maier und seiner Frau. Die kleine Margret ist ein recht liebes Kind.

Am 5. November 1947 wurde Hannchen eines Mädchens entbunden. Sie haben eine kleine Johanna-Gertrud. Wie werden sich die Eltern freuen; denn beide sind ja recht kinderlieb. Auch für mich war es eine große Freude.

Der Herr Verwalter hatte mich ersucht, ich möchte auch etwas zu unserer Sylvesterfeier 1947 beitragen, und wenn möglich, etwas Lustiges. Nach dem reichlichen Abendbrote waren wir dann um den Christbaum versammelt, an dem die Kerzen brannten. Es erschallten Weihnachtslieder und es gab zwei- und vierhändige Klavierdarbietungen, ernste und humoristische Vorträge sowie Gedichte in oberlausitzer Mundart. Zum Schlusse hatte ich mit unserer Küchenfee, einer jungen Frau aus Schlesien, noch ein Duett vorgetragen, Maier und Baier, zwei glückliche Familienväter, das wir vor mehr als fünfzig Jahren einmal beim „Fidelio“ in Reichenberg aufgeführt hatten. Meine Partnerin trat als Schuster auf, mit Vollbart und Perücke. Unsere beiden Wickelkinder wurden zum Schlusse noch verlobt. Dieser Beitrag wurde viel belacht, und der Beifall wollte kein Ende nehmen.

Dann gab es noch Brötchen und eine Schale Grog, und um Mitternacht sprach der Herr Verwalter ein paar ernste Worte. Er gab seiner Sorge für das kommende Jahr Ausdruck, da es uns in bezug auf die Ernährung noch keine Besserung bringen wird. Es sei eher das Gegenteil zu befürchten.

Ich habe dann Herrn und Frau Verwalter herzlich gedankt für ihre viele Mühe und Sorge um unser leibliches Wohl im vergangenen Jahre. Ich habe hinzugefügt, es wird weit und breit kein Altersheim geben, in welchem die Insassen so gut untergebracht sind, so schöne Räume bewohnen, in dem man keine Heizungssorgen kennt, und wo die Heimverwaltung alles tut, um uns die jetzige schwere Zeit zu erleichtern. Mit welcher Liebe und mit welchem Entgegenkommen werden wir betreut! Noch nie seit meiner Ausweisung habe ich mich so wohl und glücklich gefühlt wie hier.

Dann wurde das Tanzbein geschwungen, und auch ich mußte mittun. Die alten Frauen und unser Personal holten mich einfach, und abwechselnd habe ich mit zum Tanze aufgespielt. So oft ich verschwinden wollte, sagte der Herr Verwalter: „Bleiben Sie doch noch ein Weilchen! Alle sind so vergnügt. Lassen wir ihnen doch einmal die Freude!“ Ein Neunzigjähriger war der Lustigste von allen und hat fleißig mitgetanzt. Um zwei Uhr früh habe ich dann aber endgiltig Schluß gemacht und gesagt: „Solche alten Leute gehören schon lange ins Bett!“ Aber alle waren begeistert über den schönen Abend. Wie eine große Familie sind wir ja immer bereit, einander zu helfen und eine Gefälligkeit zu erweisen.

Georg hat zu meiner größten Überraschung vom Flüchtlingskommissär in Kempten einen Erlaubnisschein zu einem dreiwöchigen Besuche in Bayern erwirkt. Ich mußte Jänner 1948 im Gemeindehaus einen mächtigen Fragebogen ausfüllen, ob ich ein „Nazi“ war, welche Ämter ich bekleidet hätte u.s.w. Ich bekam dann von der antifaschistischen Kommission die Bescheinigung der Bedenkenlosigkeit. Ende Januar war ich in Zittau bei der russischen Kommandantur. Hier erfuhr ich, daß bis auf weiteres keine Interzonenpässe mehr ausgestellt werden. Ende Feber und Anfang März war ich noch einmal dort, beide Male ergebnislos. Im Juni 1948 bemühte sich der Herr Verwalter bei der Handelskommission um einen Interzonenpaß für mich. Leider ist jetzt alles Bemühen umsonst. Die Grenze ist faktisch für Privatreisende geschlossen.

Am 13. August 1948 war ich bei der Kreispolizei in Zittau. Dort wurde mir gesagt, meine früher eingereichten Unterlagen mitsamt den russischen Übersetzungen seien nicht mehr gültig. Ich hätte alles neu zu schreiben und einzubringen, ebenso ein neues Wohlverhaltenszeugnis[173]. Ich bräuchte auch eine neue Genehmigung vom Flüchtlingskommissär in Bayern. Nun sind es schon mehr als drei Jahre, daß ich meine Enkelkinder nicht mehr gesehen habe! Am 30. Oktober 1948 war ich noch einmal bei der russischen Kommandantur. Mein Paßansuchen wurde abermals abgelehnt. Am 27. Mai 1949 war ich wieder bei der russischen Kommandantur, leider ohne Erfolg. Der Kommandant sagte nur, er habe seine Familie auch seit vielen Jahren nicht gesehen. Am 13. August 1949 war ich noch einmal wegen meiner Paßgeschichte in Zittau.

Mir wurde schließlich angeraten: „Machen Sie schwarz hinüber, wie so viele andere!“ Ich wollte das eigentlich nicht, da einige, wie ich hörte, zehn bis zwölf Stunden zu Fuß über die Grenze gehen mußten, andere wurden aufgegriffen und verbrachten zwei Wochen im Gefängnis, wieder andere wurden gleich abgeschoben.

Nun aber genügte es mir! Ich fuhr am 16. August 1949 mit dem D-Zuge nach Plauen. Um 22.30 Uhr kam ich dort an. Von dort sind es nur noch vier Stationen bis zur Grenze. Der Bahnhof ist durch Bombentreffer vollständig zerstört. Die beiden Warteräume waren mit Hunderten Menschen völlig überfüllt. Leider bekam ich keine Fahrkarte zur Grenze, weil ich keinen Paß vorweisen konnte. Um 3.30 Uhr ging es von Plauen ab; ich mußte eine Station vor der Grenze, in Reuth aussteigen. Dort wußte ich nicht weiter und mußte erst den Morgen abwarten.

Ich fragte ohne Erfolg viele Menschen, wie ich den Weg nach Bayern finden könnte. Schließlich wurde ich auf ein Dorf verwiesen, das aber zu Fuß zwei Stunden entfernt lag. Es fing an zu regnen, kalter Wind war dabei und ich hatte müde Beine. Dort aber regte man sich auf, wie ich nach dem Weg über die Grenze fragen könnte, man möchte doch nicht Haus und Hof verlieren! Schließlich durfte ich mich etwas auf einem Sofa ausruhen. Ich hatte ja in dieser Nacht nicht geschlafen. Ich erzählte meine Geschichte, und eine Frau zeigte mir dann den Weg.

Ich bin also losgewandert, wurde aber unterwegs von einem bayerischen Grenzer aufgehalten. Er schrieb mir gleich eine Bemerkung in meinen Personalausweis und wollte mich wieder in die Russische Zone zurückschicken. Erst dann ließ er mich zu Worte kommen. Ich erzählte, daß ich 74 Jahre alt bin und meine Kinder und Enkel seit Jahren nicht gesehen habe. Zwei Jahre hätte ich mich vergeblich um eine Reisegenehmigung bemüht. Er sagte dann: „Wir müssen eben unsere Pflicht erfüllen“, und zeigte mir den Weg nach Hof.

Das waren noch einmal zwei Stunden zu Fuß. Ein Auto nahm mich mit ins nächste Dorf. Endlich kam ich dort zum Bahnhof. Ich hatte mir bereits unterwegs das Westgeld, das ich unter den Einlagen der Schuhe versteckt hatte, herausgeholt, und telegraphierte nun an Frl. Tischer in Erlangen, da ich zu wenig Westgeld hatte bis zum Ziel. Georg hatte ihr 50 Westmark für diesen Zweck geschickt.

In Erlangen war Jahrmarkt, und alles, aber auch wirklich alles, was man sich denken und wünschen kann, war da in Hülle und Fülle zu haben. Für einen Ostmenschen war es einfach unfaßbar! Nachmittags fuhr ich weiter nach Großaitingen.[174] Ich wurde bei Familie  ungemein herzlich aufgenommen. Sie haben im Pfarrhause eine hübsche, geräumige Wohnung. Auch Frl. Emmi war daheim. Abends wurden noch lange Erinnerungen aus der alten, lieben Heimat ausgetauscht.

Dann ging es nach Schlechtenberg. Was war das für ein freudiges Wiedersehen mit Maria und ihren lieben Kindern, und wie sind sie groß geworden in dieser langen Zeit! Die Wohnung ist sehr schön und geräumig und das ganze Bauernhaus ist ein Muster von Sauberkeit. Das allgäuer Land ist ein wunderschönes Fleckchen Erde. Montag, den 29. August bin ich dann mit Georg im D-Zug abgereist. Die Fahrt ging über Ulm. In Stuttgart mußte ich auch ihm Lebewohl sagen.

Gegen 10 Uhr war ich in Goch und habe zuerst die Eltern von Heinrich aufgesucht. Nach Tisch ist Mutter  mit mir nach Asperden gewandert. Hannchen hat ja seit dem 25. Juni einen Stammhalter, einen recht kräftigen Jungen. Klein-Hannchen ist ein recht liebes, munteres Ding. Sie macht aber ihrer Mutter viel zu schaffen. Klein-Michael ist recht brav. Weil ja Klein-Hannchen erst knapp zwei Jahre alt ist, ist sie mit Arbeit reich gesegnet. Dazu haben sie noch Kleinvieh und einen viel zu großen Garten, der ja auch viel Pflege braucht. Heinrich ist in einer großen Gärtnerei Kolonnenführer. Alljährlich werden 200.000 Gemüsepflanzen in Erdtöpfen herangezogen, 20.000 Tabakpflanzen, 200.000 Porree, 1.500 Fenster Treibgurken, 6.000 Tomaten, vier Morgen Chrysanthemen, 24.000 Chabaudnelken. Es sind im ganzen 36 Morgen. Alles ist mit einer großartigen Regenanlage versehen. Dies ist ein Musterbetrieb!

Hedi hatte freibekommen, und als wir abends zusammensaßen, kam noch Dr. Sturm dazu, der in Weeze ansässig ist. Da haben wir bis Mitternacht von der alten Heimat geplaudert. Am nächsten Morgen bin ich im Finstern bei strömendem Regen zum Bahnhofe gepilgert. Zuerst nahm ich von den Eltern Abschied. Frl. Annemarie begleitete mich. Meinen Rucksack hatte sie auf das Fahrrad gepackt.

Gern hätte ich Frau Jehna in Kempen besucht, aber die Zeit war zu knapp. Ich fuhr durch die Ruinen des Industriegebiets nach Hagen und dann per Straßenbahn nach Hohenlimburg. Diese hügelige Stadt mit ihren teilweise engen Gassen erinnerte mich an Reichenberg. Ich wurde bei Familie Weber einquartiert, weil Rudolf mit Frau und Tochter nur ein kleines Zimmerchen bewohnt. Herr Studienrat Weber ist ein liebenswürdiger, rücksichtsvoller Mensch. Sie haben drei recht herzige Kinder. Johanna ist gesundheitlich nicht auf der Höhe. Hanne ist in einer großen Fabrik als Ärztin angestellt, in der sie zuvor viele Monate lang als einfache Arbeiterin beschäftigt war.

Nun ging es nach Bad Pyrmont. Dort holten mich meine Enkel Ingrid und Irmtraud mit Roß und Wagen ab. Wie sind sie gewachsen! Ingrid hat bereits ihre Mutter überflügelt. Rudolf ist auf einem Gute beschäftigt. Er soll dort eine neue Gärtnerei einrichten. Eine schwere Aufgabe. Ingrid ist jetzt aus der Schule ausgetreten. Sie hilft ihrem Vater, der diesen Herbst noch viel schaffen will: Platten gießen für Betonkästen, ein Gewächshaus aufstellen, Wasserleitung legen.

Am Freitag, den 9. September fuhr ich um 6 Uhr früh von Grießem weg. Über Northeim fuhr ich nach Walkenried an der Zonengrenze. Unweit vom Bahnhofe kam mir eine junge Frau mit einem Leiterwagerl entgegen und frug, ob ich „hinüber“ wollte. Ich legte meinen Rucksack auf den Wagen, und nach einer halben Stunde kamen wir zu einem langen Tunnel, der die beiden Zonen trennt. Nach einer Viertelstunde war ich in Ellrich auf russischer Seite am Bahnhofe. Von Nordhausen konnte ich den D-Zug benutzen, dann ging es über Sangerhausen, Eisleben, Halle und Leipzig nach Dresden. Dort mußte ich am Bahnhofe übernachten. Wie froh war ich, als ich am nächsten Tage wieder in Niederoderwitz und daheim war! Ich war 25 Tage unterwegs gewesen.[175]

Im Jahre 1950 hat mir die Gemeinde aus Sparsamkeitsgründen keine Gartenhilfe mehr bewilligt. So war es viel, was auf meinen Schultern lastete. Bis zu Pfingsten bin ich alle Tage um vier Uhr früh aufgestanden und war bis acht Uhr abends im Garten. Das ist etwas reichlich für meine 74 Jahre. Zu St. Nikolaus wurde mir folgendes Verslein gesagt:

„Ein Mustergarten das Heim umgibt
und jeder diesen innig liebt.
Hermann zärtlich die Pflanzen hegt
und seine Blumen täglich pflegt.“

Am 10. August 1950 fuhr ich nach Neuhaus. Diese Reise dauerte wegen Maschinendefekt der Lokomotive und diversen Verspätungen 18 Stunden. Hermann hatte schon 1949 fleißig für den Kirchenbau planiert. Ein ganzer Sandberg mußte abgegraben werden. Nicht weniger als 3.384 Loren Sand wurden fortgeschafft. Jetzt waren 10.000 Ziegel eingetroffen; es gab also gleich Beschäftigung. Die folgenden Tage haben wir fleißig Sand gefahren, Kalk gelöscht und noch einmal 5.000 Ziegel abgeladen. Im Herbst 1950 mußte er von Amts wegen den Bau einstellen. Am 1. November 1951 konnte Hermann dennoch seine neue Kirche einweihen.

Rudolf schrieb im Frühjahr 1951, er habe die von ihm aufgebaute Gärtnerei gepachtet. Er hat die Gartenmeisterprüfung gut bestanden. Sie bewohnen ein eigenes, neu erbautes Häuschen. Seit kurzem ist jetzt auch Gretls Mutter, Frau Maier, bei ihnen. Ingrid wird Gärtnerin und lernt bei ihrem Vater.

Zu meinem 75. Geburtstage gab es große Überraschungen. Mein Bruder hatte mir in sehr sinnreichen Reimen gratuliert.[176] Es gab viele Briefe und Pakete, auch im Heime wurde dieser Gedenktag freudig gefeiert. Herr Heinrich Brabetz in München hatte in der Reichenberger Zeitung einen längeren Aufsatz über mein Leben und Wirken veröffentlicht.[177]

Anfang Dezember 1951 kam von Rudolf ein Brief, in dem er mitteilte: „Marie-Louise hat heute um 9.50 Uhr das Licht der Welt erblickt. Unser Dreimäderlhaus ist also komplett. Wir sind sehr glücklich darüber. Mutter und Kind sind gesund. Unser Herrgott möge sie beschützen.“ Am meisten freue ich mich darüber, daß sie den Namen meiner Mutter erhalten hat!

Am 26. Feber 1952 wurde die Fastnacht im Heime diesmal ganz ungewöhnlich gefeiert. Herr Verwalter hatte für alle Masken besorgt und um drei Uhr nachmittags war feierlicher Einzug. Unsere Frauen waren in ihren bunten Kostümen gar nicht zu erkennen. Selbst unsere ältesten Leute, mit 84 und 85 Jahren haben mitgetan. Nach der Demaskierung gab es dann Kaffee und Krapfen[178], und erst um zehn Uhr abends war der Spaß zu Ende. Ja, – Alter schützt vor Torheit nicht!

Mittwoch, 12. März 1952: 4 Fenster Sonnenblumen ausgesät. Gestern und heute vormittags in der Gärtnerei Jauch Pelargonien verpflanzt, da ich bei uns die elektrische Heizung im Gewächshaus nicht einschalten darf. 2 Fenster Kraut, ½ Salat, ½ Porree, 2 Fenster Zwiebel, ½ Karfiol, ½ Kohlrabi (Prager), 2 Fenster Astern (8 Sorten), 3 Sorten Chrysanthemen, 2 Fenster Reseda, Ageratum, Bartnelken. Für Jänner habe ich noch nichts bekommen; für Feber heute 30 Mark erhalten.

Freitag, 21. März: Früh Schnee und 4° kalt. Vormittag 500 Löwenmaul pikiert. Spargelanlage, Spargelland und leere Kästen mit Superphosphat und Patentkali gedüngt. 14 Fenster umgegraben. Gegen Wühlmäuse Gift gelegt.

Sonntag, 30. März: 6° kalt. Seit 6 Uhr früh drei Stunden Schnee geschaufelt. Soviel Schnee hatten wir den ganzen Winter nicht.

Palmsonntag, 6. April: 1° kalt. In der Nacht ½ 3 Uhr im Gewächshaus die Heizsonne eingeschaltet. Hl. Communion. Reisig aufgeräumt.

Karsamstag, 12. April: Wieder 25° warm. Von Jauch 150 Tomaten in Töpfe gepflanzt. Die letzten Veilchen im Hause gepflückt, 2000 Stück im ganzen. Veilchen und Nelken in Kasten gestellt. Rosenrabatte gejaucht vom Ziegenbock. Von 6 Uhr bis ¾ 8 Uhr im Garten 1 Strauß gebunden. Wicken in den Kasten gestellt.

Ostermontag, 14. April: Ich zu Fuß nach Leutersdorf und zurück. Um 7 Uhr abends noch 18° warm.

Donnerstag, 17. April: Kraut, Kohlrabi und Karfiol im Kasten pikiert. 3000 Krautpflanzen sind pikiert. Rabatte mit 200 Salat bepflanzt. Radies ausgesät. Ich von ½ 6 morgens bis ½ 8 abends im Garten (13 Stunden, ohne die Mittagsstunde). Um diese Zeit bis Anfang Mai gab es für mich öfters einmal eine kurze Nacht: ich stand um drei oder vier Uhr früh auf, weil ich nicht mehr schlafen konnte.

Montag, 21. April: Um 5 Uhr früh Frühkartoffeln gelegt. Landnelken zusammengepflanzt. 240 Pfefferkraut im Kasten pikiert. Ich habe bei der Kreispolizei den Antrag für den Paß eingereicht.

Dienstag, 22. April: Astern, Reseda, Nelken im Kasten pikiert. 1 Kastel Wermut pikiert. Frl. Liesl Faist zu Besuch.

Sonntag, 27. April: Mutters Geburtstag. Zwei Fragebogen ausgefüllt.[179]

Mittwoch, 7. Mai: Regen. Noch 1 Beet Blumenkohl gepflanzt, dazwischen Salat. 10 Reihen Steckzwiebeln. Im Block 37 Tomaten ausgepflanzt. 100 Wermut[180] im Kasten pikiert. Um ¼ 5 Uhr aufgestanden, bis ½ 8 abends gearbeitet.

Donnerstag, 8. Mai: Feiertag. Tag der Befreiung. Wintergarten ausgeräumt. Chrysanthemenstecklinge gemacht und ausgepflanzt. Aspidistra[181], Asparagus und Nephrolepis[182] verpflanzt. Gurken eingepflanzt. Kohlrabi ausgesät. Sand geholt. 12 Begonia Rex[183] - Stecklinge gemacht.

Samstag, 10. Mai: Ich in Zittau. Sitzung der Volkssolidarität.

Donnerstag, 15. Mai: Im Doppelkasten Gurken eingepflanzt. Von der Kreispolizei Absage erhalten. Mir wurde kein Interzonenpaß ausgestellt.

Montag, 19. Mai: 1½° warm.  Ich hatte meinen 76. Geburtstag. Ich war in Zittau bei der Kreispolizei wegen des Passes.

Freitag, 23. Mai: Früh 3° warm. 14 Sensation in den Kasten gepflanzt. 100 Tomaten ausgepflanzt. Für Kürbis Land hergerichtet. Heute von ¼ 5 morgens bis ¼ 9 Uhr abends im Garten, 15 Stunden (ohne die Mittagsstunde).

Samstag, 24. Mai: Kalter Wind. Mutters Namenstag. Noch 120 Tomaten ausgepflanzt. 15 Kürbisse am Düngerplatz und 11 Kürbisse am Kompost ausgepflanzt. Nachmittag in Großschweidnitz an Mutters Grab.

Pfingstmontag, 2. Juni: Unseren Goldenen Hochzeitstag habe ich daheim im stillen Gedenken und in der Kirche mit der Hl. Communion gefeiert. Das Bild unserer lieben Mutter hatte ich mit Blumen geschmückt. Ja – manche Freude und manches Leid haben wir in dieser Zeit geteilt. Möge ihr der Herr alle ihre Liebe und Fürsorge, ihre Arbeit und Mühe um unser aller Wohl reichlich vergelten. Möge sie in Frieden ruhen!

Samstag, 7. Juni: Regen. Tomaten, Astern und Kohlgemüse gejaucht. Im Heim 16 Freunde für die Volkssolidarität gewonnen und dafür gesammelt, insgesamt 13,50 Mark.[184]

Samstag, 14. Juni: Regen. Um ½ 3 aufgestanden, um 3 Uhr schon unten. Am Friedhof ein Grab und eine große Schale bepflanzt (Frau von Gottberg[185]). Ein Kastel Ruth[186] (150 Stück) und zwei Kastel indigo[187] (300 Stück) pikiert.

Sonntag, 15. Juni: Hl. Communion. Volksfest mit Schießen und interessanter Hundevorführung. Frau Stieber zu Besuch.

Dienstag, 24 Juni: Kalt und Regenschauer. Unser Heimausflug. Mit Frau und Herrn Verwalter[188] in der Felsenmühle in Ebersbach.

Donnerstag, 3. Juli: Sehr heiß. Da ich keine Hoffnung mehr hatte, in diesem Jahr noch einen Paß zu erhalten, bin ich nach Neuhaus gefahren. Wie habe ich mich gefreut über die schöne neue Kirche! Auch Hermanns Pfarrhaus ist gut eingerichtet und ausgestattet. Es bietet reichlich Raum für alle.

4.-8. Juli: Der Garten in Neuhaus erfordert viel Mühe und Arbeit, weil ja jede Handvoll Mutterboden zugeführt werden muß. Ich habe am zukünftigen Bleichplan[189] Erde planiert.

Mittwoch, 9. Juli: Sehr heiß. In Zeetze haben wir eine Waldpartie unternommen. Wir sind fünf Stunden marschiert. Wir waren bei Frl. Kral, einer Pfarrhelferin.[190]

Donnerstag, 10. Juli: Um fünf Uhr früh weggefahren. Um elf Uhr nachts war ich wieder daheim.

Dienstag, 15. Juli: Umgegraben. Ein Beet Kohlrabi und Karfiol ausgepflanzt. Die letzten Tagetes[191] und Ageratum ausgepflanzt.

Montag, 28. Juli: Ich war in Zittau und habe meinen Paß abgeholt. Als ich frug, wem ich diesen Erfolg zu verdanken hätte, wurde mir geantwortet: „Ihrer Arbeitsfreudigkeit!“ Der Bürgermeister von Niederoderwitz hatte sich persönlich für mich eingesetzt.

Mittwoch, 30. Juli: Um 2 Uhr früh bin ich von Oberoderwitz weggefahren. Um 6 Uhr abends war ich in Grießem. Dort gab es ein recht frohes Wiedersehen. Wie groß sind Ingrid und Irmtraud geworden, und was für ein herziges, liebes und braves Kind ist die kleine Marie-Louise! Man kann sie gar nicht genug anschauen, und sie ist ja auch der Sonnenschein der ganzen Familie. Rudolf hat ein recht nettes, kleines Familienhaus und eine mustergiltige[192], wenn auch kleine Gärtnerei. Ich war nicht wenig erstaunt, was er in der kurzen Zeit alles geschaffen hat. Freilich mit unsäglicher Mühe.

Donnerstag, 31. Juli: In Grießem Chrysanthemen eingepflanzt. Ingrid macht ihr drittes Lehrjahr in einer Mustergärtnerei in Hameln mit erstklassigen Kulturen und Einrichtungen und einer großen Vielseitigkeit. Irmtraud besucht eine auswärtige Mittelschule. Trotzdem hilft sie in jeder freien Minute daheim. Wie habe ich mich über den kleinen Sonnenschein gefreut, wenn sie einen mit ihren blauen Augen anlacht!

Samstag, 2. August: Mit Rudolf und Gretl nach Höfingen gefahren. Sie wollten damit ihre Hochzeitsreise nachholen. Auch bei Maria und Georg gab es herzliche Freude bei unserem Wiedersehen. Sie haben eine recht schöne Wohnung und führen ein glückliches Familienleben. Ihr Betrieb ist jetzt aber nach Korntal übersiedelt; so müssen sie jeden Tag mit der Bahn hinfahren. Agnes ist ja im gleichen Betriebe tätig. Hansjörg unternahm eine große Radpartie in die Schweiz. Dabei hat er Pässe bis zu 2.460 m Höhe überwunden. Auch Winfried ist ein recht lieber großer Junge geworden.

Sonntag, 3. August: Wir waren am Killesberg. Dort sind wunderschöne Anlagen von der Gartenbauausstellung 1951. Eine ungeheure Blütenfülle!

Montag, 4. August: An diesem Tag waren wir in der Wilhelma, einem Tier- und Pflanzenparadies: Kakteen, Palmen, Orchideen, hochstehende Fuchsien[193], Baumfarne, Ananasgewächse füllen die Häuser. Die Wilhelma ist die frühere königliche Sommerresidenz, im maurischen Stile erbaut. Leider liegt sie jetzt in Trümmern.

Samstag, 9. August: Wir waren in Leonberg in der schönen neuen Kirche zum Gottesdienst. Im dortigen Altersheim besuchten wir auch Frl. Siegel, die eine Zeitlang in Höfingen den Haushalt besorgt hatte. Dann fuhren wir alle nach München. Begrüßungsabend im Franziskanerkeller. Ich war bei Herrn Brabetz zu Gast.

Sonntag, 10. August: Laurentifest. Den Festgottesdienst hielt unser Heimatpfarrer Seidel, die Festpredigt Herr Dechant Sitte. Gegen Abend sind wir nach Großaitingen gefahren.

Montag, 11. August: Wir waren in Großaitingen beim  Vater.[194]

Dienstag, 12. August: Wir waren an der Grabstätte unserer lieben  Mutter.[195]

Donnerstag, 14. August: Über Stuttgart, Köln und Krefeld nach Goch. Am Bahnhofe erwarteten mich Heinrich und Klein Heinzi. Er ist mir gleich auf den Schoß geklettert, obwohl ich ihm doch ganz fremd war! Mit dem Autobus ging es dann nach Asperden. Dort gab es ein recht freudiges Wiedersehen. Leider traf ich Hannerle nicht zu Hause an, was mir sehr leid getan hat. Sie war bei ihrer Tante Trude in Lingen. Die kleine Gabriele ist ein recht liebes Kind, aber alle beide machen ihrer Mutti viel zu schaffen. Heinzi ist geradezu ein Ausbund an Unternehmungslust und Lebhaftigkeit und trotzdem überall beliebt.

Freitag, 15. August: In Asperden habe ich mit Heinrich die mustergiltige, mit allen neuzeitlichen Behelfen ausgestattete Großgärtnerei besichtigt. 150.000 Erika standen kurz vor der Blüte. Ein herrlicher Anblick! Ebenso viele Azaleen waren in Grundbeeten ausgepflanzt. Alles wird mit Beregnungsanlagen gegossen. Auch die neuen Siedlungen haben wir besucht: Drei neue Dörfer[196] sind für die Umsiedler errichtet worden. Schule, Gasthof und Kino waren bereits fertig, eine Kirche soll noch gebaut werden. Nicht weniger als achtzig Gärtnereien mit Wohnhäusern, Gewächshäusern, Frühbeeten und Stallung wurden errichtet und konnten von den Umsiedlern schlüsselfertig bezogen werden. Erst nach drei Jahren sind die neuen Anlagen mit 4% zu verzinsen und auf diese Weise zu amortisieren.

In Goch verbrachten wir bei der Mutter meines Schwiegersohns einen recht gemütlichen Nachmittag. Über Heinzi und seine drollige Art war ich geradezu begeistert.

Sonntag, 17. August: Gottesdienst in der voll besetzten Kirche in Goch. Fahrt mit Heinrich und Heinzi nach Krefeld. Das Franziskusheim ist eine sehr schöne Anstalt. Wir wurden von der ehrwürdigen Schwester Christine recht liebevoll aufgenommen.

Montag, 18. August: Ich habe in Krefeld bei Hedi übernachtet. Am Nachmittag haben wir einen Besuch bei Herrn Koch, meinem ehemaligen Stadtsekretär, gemacht. Die ganze Familie war versammelt: Frau Koch, Frau Jehna mit ihren Kindern und Enkeln.

Dienstag, 19. August: In Hohenlimburg bei Onkel Rudolf. Er hat eine herrschaftliche Wohnung in einer schönen Villa. Tante Johanna hat mich sehr herzlich aufgenommen. Hanne, die Frau Doktor, hat in der Fabrik 1.500 Werktätige zu betreuen. Sie ist natürlich mit Arbeit reich versorgt.

Donnerstag, 21. August: In Grießem habe ich Rudolf geholfen, Cyclamen zu verpflanzen und Chrysanthemen einzutopfen.

Freitag, 22. August: Wir waren in Bad Pyrmont, dessen Kurpark als der schönste Deutschlands gerühmt wird. Der herrliche, jahrhundertealte Baumbestand, die botanischen Seltenheiten, der wundervolle Rasen, die reizenden Durchblicke, die vielen Wasserkünste zwischen den riesigen Blumenrabatten, die in allen Farben leuchteten, aber vor allem der Palmengarten, – dies ist kaum zu beschreiben. Ich kam aus dem Staunen gar nicht heraus.

Samstag, 23. August: Heimreise. Der Abschied von allen, besonders von der herzigen Marie-Louise, ist mir recht schwer gefallen. Um elf Uhr nachts war ich wieder daheim.

Montag, 1. September: Ich war in Seifhennersdorf und Leutersdorf. Herr Pfarrer wurde begraben. Man hatte ihn vor einigen Tagen morgens vergeblich in der Kirche erwartet. Dann fand man ihn tot, – Herzschlag.

Freitag, 5. September: Beim Bach und hinter der Spalierwand Brennesselquartiere gerodet. 30 Mark „Lohn“ und 18 Mark Taschengeld für meine Arbeit erhalten.

Sonntag, 7. September: Erntefest. Hl. Communion. Eine Sammlung für die Volkssolidarität hat 14,50 Mark ergeben. Im Heim sind jetzt 29 Freunde der Volkssolidarität; ich konnte alle dafür gewinnen.

Montag, 15. September: Mutters Sterbetag. Ich war, wie alljährlich, in Großschweidnitz an ihrem Grabe. Ich freute mich über den reichen Blumenflor.

Mittwoch, 17. September: Den ganzen Tag Himbeeren gerodet.

Donnerstag, 18. September: In Zittau war der Cirkus Busch. 24 erstklassige Dressur- und Varieté-Nummern wurden den 2.000 Besuchern in 2½  Stunden vorgeführt.

Sonntag, 5. Oktober: Es regnete den ganzen Tag. Ich war in Leutersdorf. Am Kirchweihfest war die Einführung des neuen Pfarrers in der festlich geschmückten Kirche.

Dienstag, 7. Oktober: Staatsfeiertag, dreijähriger Bestand der Republik. Ich habe nicht gearbeitet und konnte sechs Seiten Tagebuch schreiben.

Dienstag, 14. Oktober: Gestern erfuhr ich, daß Hermann an Lungenentzündung erkrankt ist. So fuhr ich heute um ¾ 5 Uhr über Zittau, Dresden, Leipzig, Köthen, Halle, Magdeburg, Stendal, Wittenberge, Ludwigslust, Hagenow und Brahlstorf nach Neuhaus. Ich habe Hermann täglich im Krankenhause besucht und nebenbei im Garten alles umgegraben. Er soll in eine Lungenheilanstalt, aber momentan ist noch kein Platz frei.

Dienstag, 21. Oktober: Heute kam Hermann nach Hagenow in das dortige Lungenheim. Ich bin wieder heimgefahren. Ich war 18 Stunden unterwegs, von morgens fünf bis nachts elf Uhr.

Montag, 27. Oktober: Sonne, 12° warm. Thuja geschnitten. Ich habe am Vormittag allein 200 m2 umgegraben.

Dienstag, 28. Oktober: Beim Bahnhof Rabatten geräumt[197]. Nach Zittau früh Blumen geschickt, vormittags einen Sack Thuja, abends zwei Steigen mit 27 Chrysanthemen.

Samstag, 1. November: Porree herausgenommen. Rosenkohl auf der Rabatte eingeschlagen. Unser Heim besteht heute sieben Jahre. Abends große Feier. Wir hörten Musik (Klavier und Violine), dazwischen Gedichte, heitere Vorträge und launige Ansprachen.

Sonntag, 2. November: Hl. Communion für die Mutter aufgeopfert. Nachmittag am Grabe der Mutter in Großschweidnitz.

Montag, 3. November: Allerseelen. 3-5° warm, es hat den ganzen Tag geregnet.

Freitag, 28. November: Regen. Ich habe für’s Heim geschrieben.

Mittwoch, 31. Dezember: Bis zwei Uhr früh Sylvester gefeiert. Es wurden Erzählungen in lausitzer Mundart vorgetragen.[198] Es gab auch eine Verlosung. Zu später Stunde erschien Frau Verwalter als alter Leiermann mit struppigem Vollbart und Perücke auf der Bildfläche. Zu den lustigen Weisen wurde fleißig getanzt.

 

Bücher gelesen:[199]

 

Wilhelm Raabe, „Alte Nester“. Thomas Mann, „Königliche Hoheit“. Upton Sinclair, „Der Sumpf“ und „König Kohle“. Dr. Lämmel, „Relativitätstheorie“. La Rochefoucauld, „Betrachtungen“. Heinrich Mann, „Auferstehung“. Strindberg, „Ein Traumspiel“. Dostojewski, „Die Sanfte“. Goethe, „Die Metamorphose der Pflanzen“. Eve Curie, „Madame Curie“. Chamisso, „Peter Schlemihl“. R. Binding, „Der Opfergang“ (zweimal). G. Keller, „Dietegen“ (Die Leute von Seldwyla). Victor Hugo, „Die Menschen des Meeres“. Hermann Hesse, „Unterm Rad“. F. Timmermans, „Das Jesuskind in Flandern“. A. Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“.

 

 

Gedichte:[200]

 

Einstmals war er Bürgermeister

In Deutsch-Gabel, Hermann heißt er.

Was er erzeugt im Jahreslauf –

Gänse, Hühner, wir – fressen’s auf.[201]

 

Kunstgärtner wurden wir genannt

In unserem schönen Heimatland.

Ja – damals war es eine Freude

Gärtner zu sein, doch nur nicht heute.

Alles kaputt, der Kessel krank.

Er streikt schon viele Jahre lang.

Kein Fenster ganz und keine Bretter.

Kein Deckmaterial bei kaltem Wetter.

Kein Topf, kein Glas, und vieles noch

Fehlt im Betrieb. Da ist es doch

Wahrhaftig eine Kunst geworden,

Die Gärtnerei gut zu versorgen.

Drum – wäre ich dazu berechtigt,

Vom Amte außerdem ermächtigt –

Kunstgärtner müßten wir dann sein

Und manches and’re obendrein.[202]

 

Den Tag zu leben jetzt hienieden

und keine großen Pläne schmieden

ist heutzutage klug getan.

Und das erkennt auch jeder an.

Doch wenn er darnach handelt,

mit dieser Lehre sich verbandelt,

dann möchte ich im Garten seh’n,

was dieses Jahr würd’ drinnen steh’n.

Es würden sicher Bäche fließen

von Tränen, die wir dann vergießen.

 

Hermann ist besonders wichtig.

Er schafft in unserm Garten tüchtig.

Jedoch die Pünktlichkeit zum Essen,

Die tut er gar zu gern vergessen.

 

Wenn die Nacht herniedersinkt

Und das erste Sternlein blinkt

Hell herab vom Himmelszelt

In die schöne Gotteswelt

Dann eilt mit lichtem Sterne

Meine Seele in die Ferne.

Und zwei wohlbekannte Augen

Tauchen sich in meinen Blick.

Warme Liebe strahlt darinnen

Und ein still verborg’nes Glück.

Und zwei ros’ge Lippen bieten

Sich mir dar zum Liebesgruß.

„Lebe wohl, mein Herzgeliebter

Nun ich von Dir scheiden muß.“ –

„Scheiden? Nein ich mag’s nicht denken.

Sprach’st Du wirklich dieses Wort?

Willst Du mich so bitter kränken

Weil Du gleich willst wieder fort?

Hanna, nein, Du darfst nicht gehen,

Wir sind ja vereinigt kaum!“

Aber nutzlos war mein Flehen

Denn – es war ja nur – ein Traum.

 

1. Jänner 1953: Nun ist wieder ein Jahr im Schoße der Ewigkeit versunken, ein Jahr emsiger Arbeit und treuer Pflichterfüllung. Ich habe dem lieben Gott für so vieles zu danken.

Am 6. März 1953 holte der unerbittliche Tod den Beherrscher des Russischen Reiches. Auch in unserem Heime gab es für Stalin eine schlichte Feierstunde.

Am 30. Juni 1953 bin ich nach Neuhaus gefahren. Hermann hatte von der Frau Doktor einige Tage Urlaub bekommen, um sein 25jähriges Priesterjubiläum feiern zu können. Die Freude seiner Pfarrangehörigen konnte man in allen Gesichtern lesen. Angeblich bestand ja immer noch Ansteckungsgefahr durch den Tuberkelbazillus, aber seine Leute hat dies wenig gestört. Die kirchliche Feier war ganz erhebend, und die herzliche Teilnahme aller war tief ergreifend.

Am 31. August 1953 war ich mit Herrn Verwalter am Hochwald. In strahlender Sonne lag die alte Heimat vor uns. Es war eine weihevolle Stunde. Mit stiller Wehmut gedachte ich vergangener Zeiten.

Am 3. November 1953 bekam ich einen recht lieben Besuch: Mein Schwiegersohn Heinrich hatte die weite Reise nicht gescheut, um mich wieder einmal zu sehen. Wir haben zusammen einige recht schöne Tage verlebt. Zunächst waren wir am Grabe unserer lieben Mutter. Heinrich hat sich sehr gefreut, daß es so schön gepflegt ist. Er hatte dafür auch drei weiße Erika mitgebracht. Am nächsten Tage besuchte er in Zittau alte Bekannte. Dann waren wir in Oybin. Die Felsengasse und den Scharfenstein kannte er ja noch gar nicht.

Am 19. Dezember 1953 waren dreißig Pioniere von der Schule zur Adventsfeier bei uns. Es wurde gesungen, vorgetragen und auch ein heiteres Spiel in Kostümen vorgeführt. Zum Schluß verteilte ich eine Düte[203] Nüsse. Die begeisterte Bande hätte mich dabei fast umgebracht.

Die von allen Deutschen sehnlich erwartete Viererkonmferenz soll am 25. Jänner 1954 in Berlin stattfinden. Ich habe leider keine Hoffnung auf ein erfreuliches Ergebnis. Es fehlen dazu alle Voraussetzungen, und die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland wird eher noch größer. An ein geeintes Deutschland ist momentan garnicht zu denken.

Am 3. April 1954 wurde im Stadttheater in Zittau die italienische Oper „Aida“ aufgeführt. Es war für mich ein künstlerisches Erlebnis.[204]

Am 8. Mai 1954 wurde der Tag der Befreiung festlich als Staatsfeiertag begangen. Wir haben natürlich alle Ursache, freudig mitzutun. Wir sind ja auch von den Tschechen von allem gründlich befreit worden.

Anfang April 1954 schrieb mir Hermann, daß er Mitte Mai gedenkt, aus dem Sanatorium wieder in seine Pfarrgemeinde zurückkehren zu können. Er möchte aber auch alle seine Geschwister im Westen besuchen, bevor er seine Tätigkeit wieder ganz aufnimmt. Herr Verwalter drängte mich, diese Reise mit ihm zu unternehmen, trotz der Frühjahrsarbeit im Garten. Am 19. Mai war mir zu Ehren eine großartige Geburtstagsfeier mit der Kosakapelle. Niemand wollte schlafen gehen.

Am nächsten Morgen bin ich um fünf Uhr früh nach Zittau gefahren. Mit dem Schnellzuge ging es nach Erfurt. Herr Dr. Tietze erwartete mich am Bahnhofe. Nach so langer Zeit war es ein recht freudiges Wiedersehen. Ich besuchte ebenfalls Frl. Scholze und Frl. Pfeifer aus Gabel. Im Marienstifte fand sich auch Herr Kaplan Johne und seine Schwester ein. Wie viel wurde da erzählt von der alten Heimat! Es waren recht schöne Stunden der Erinnerung.

Um Mitternacht fuhr ich mit dem Interzonenzuge weiter. Er war aber schon in Erfurt so voll, daß es fast unmöglich war, überhaupt hineinzukommen. Die ganze Nacht bin ich im Durchgang gestanden. Erst um sechs Uhr früh konnte ich einen Sitzplatz ergattern. An der Zonengrenze in Probstzella gab es keine Gepäckrevision. Um ½ 11 Uhr war ich in Stuttgart. Dort erwartete mich Maria am Bahnhofe. Am gleichen Nachmittage kam auch Hermann aus Davos. Das war ein freudiges Wiedersehen mit allen unseren Lieben. Welch schöne Tage haben wir im Schwabenlande verlebt! Wir haben auch Svoboda Josef mit seiner Frau in Schwäbisch Gmünd aufgesucht. Wie habe ich mich gefreut über meine lieben Enkel! Hansjörg und Winfried sind tüchtig gewachsen. Agnes ist ein Prachtmädel geworden, in das ich mich gleich verlieben könnte, wenn, – ja wenn ich nicht der Großvater wäre.

Hermann hat jeden Morgen im Altersheime in Leonberg seinen Gottesdienst gehalten. Dort verbringt meine Jugendfreundin, Frl. Siegel, bei den lieben Caritasschwestern ihren Lebensabend.

Am 29. Mai 1954 mußten wir uns verabschieden und ich fuhr am Rhein entlang nach Goch. Dort holte mich Heinrich bei strömendem Regen ab. Daheim war die gegenseitige Freude des Wiedersehens ebenso groß wie in Höfingen. Hannerle ist ein recht liebes, verständiges Mädel geworden, Heinzi lacht der Schelm aus den Augen, und Gabrielchen schaute mich unverwandt so lieb an, daß ich immer noch daran denken muß.

Am nächsten Tage waren wir in Kempen. Dort haben wir die Familien Koch junior und senior besucht. Sie haben sich recht gefreut. Sie hatten sich ja viel um Hedi gekümmert. Wir sind ihnen daher viel Dank schuldig. Dann besuchten wir den Vater meines Schwiegersohns mit Familie in Goch. Nach schmerzlichem Abschiede, besonders von den Kindern, sind wir am 1. Juni 1954 zum Onkel Rudolf gefahren. Sie haben wieder eine recht schöne Wohnung, aber Tag und Nacht keine ruhige Minute. Knapp vor dem Hause donnern tagtäglich etwa 130 Lastzüge vorüber, und hinter dem Hause ist ein großes Kalkwerk, das Tag und Nacht arbeitet. Ich besuchte auch Familie Kuba in Wetter an der Ruhr. Sie haben sich darüber außerordentlich gefreut.

In Hameln erwartete uns Rudolf. In Grießem war große Freude über unseren Besuch. Ingrid und Irmtraud sind der Mutti schon über den Kopf gewachsen. Marie-Louise ist ein recht liebes Kind und der Sonnenschein der ganzen Familie. Rudolf hat in den paar Jahren einen Musterbetrieb aufgebaut und ihn auch in diesem Sommer wieder vergrößert. Aber sie müssen sich sehr plagen. Hermann hat alle Tage in der Kapelle der Frau Baronin seine Hl. Messe gefeiert.

In Neuhaus wurde Hermann von seiner Gemeinde mit großer Freude empfangen. Der Gottesdienst am nächsten Morgen war ergreifend. Freude leuchtete aus allen Augen. Am 12. Juni 1954 bin ich dann wieder heimgefahren.

Anfang August 1954 hat mich meine Jugendfreundin Frau Schrammel aus dem Westen besucht. Wie viele alte Erinnerungen wurden da wieder aufgefrischt! Auch unser früherer Obergärtner Oppelt, der volle 25 Jahr bei uns war, hat mich besucht. Dies war Ende August.

Am 2. Feber 1955 kam Rudolf mit seiner lieben Gretl zu Besuch. Ich war ihnen bis Ebersbach entgegengefahren. Es gab ein recht freudiges und herzliches Wiedersehen. Wir haben zusammen vier recht schöne Tage verlebt, waren am Grabe unserer lieben Mutter, in Leutersdorf und am letzten Tage mit Herrn und Frau Verwalter in Johnsdorf, Hain und Oybin. Einen Abend waren wir bei Tante Selma. Wir werden uns noch lange an diese schönen Stunden erinnern.

Am 16. Feber 1955 haben wir bei 22° Kälte unseren Faschingsabend gefeiert. Bis 12 Uhr nachts wurde gesungen, gespielt, vorgetragen, musiziert, und natürlich auch fleißig getanzt, gegessen und getrunken. Und so etwas nennt sich Altersheim!

Am 13. April 1955 hat mich unsere liebe Hedi besucht. Für uns beide war es ein recht freudiges Wiedersehen. Wir waren zusammen am Grabe unserer lieben Mutter, dann in Lückendorf bei Frau Direktorin Scheindl, in Oybin und Zittau, und abends im Kretscham.[205] Dort wurde ein herrliches Singspiel „Am Tore unter’m Lindenbaum“ aufgeführt. Hedi hat es sehr gut bei uns gefallen. Sie hat auch bei unseren Heimbewohnern den besten Eindruck hinterlassen.

Am 16. Mai 1955 habe ich Georg und Maria von Zittau abgeholt. Wir waren am nächsten Tage in Groß-Schweidnitz. Beide haben sich recht gefreut, daß das Grab unserer lieben Mutter so schön geschmückt war. Am 18. waren wir in Zittau und bei Tante Selma, und am 19. war früh große Geburtstagsfeier im Heime. Am Nachmittage sind beide wieder weggefahren, da sie noch eine ganze Menge Besuche in der Ostzone erledigen wollten. Es waren wieder ein paar unvergeßliche Tage.

Im Sommer und im Herbst hatte ich starke Magenschmerzen. Aber erst am 14. November 1955 wurde festgestellt, daß es sich um einen eingeklemmten Leistenbruch handelte. Ich wurde sofort operiert. Welches Wunder! Die „Magenschmerzen“ waren wie weggeblasen. Niemand von den Ärzten hatte dies vorher erkannt. Bereits nach 15 Tagen konnte ich wieder heim. Ich wurde von allen herzlich begrüßt. Besonders Kleinmargit umhalste mich immer wieder, aber ich konnte sie ja mit meiner frischen Wunde nicht auf den Arm nehmen.

Am 16. Mai 1956 konnte ich mir von der Kreispolizei in Zittau den Paß abholen. Vier Stunden mußte ich dort warten. Am nächsten Tage habe ich Maria am Bahnhofe in Zittau abgeholt. Sie hatte mir ein schönes Album mitgebracht: „Unsere Familie“ in Bildern und mit lustigen Reimen. Nach der herzlichen Begrüßung sagte sie: „Vater, schau Dich einmal um!“ Und wie ich mich umdrehte, stand mein Bruder vor mir. Diese freudige Überraschung war wohl mein schönstes Geburtstagsgeschenk. Alle im Heime waren begeistert von ihm und seinem Humor.

Am 18. Mai 1956 wurde dann erst der achtzigtste Geburtstag der Selma gefeiert. Herr Pfarrer Körner hatte mich und meinen Bruder um fünf Uhr nachmittags dorthin eingeladen. Der Kirchenchor brachte ihr ein Ständchen. Dann hielt der Herr Pfarrer eine herzliche Ansprache, die nicht nur der „Schwester Selma“ galt, sondern auch dem „Vater Hermann“ und seinem Bruder, der ja am gleichen Tage wie ich Geburtstag hat.

Am 19. Mai 1956, Pfingstsamstag, war dann im Heim die Feier meines achtzigsten Geburtstages. Am Abend wollten unsere Heimleute gar nicht ins Bett, weil sie mein Bruder mit seinen humorvollen Vorträgen und Späßen so gut unterhalten hatte. Als wir dann am Pfingstsonntage aus der Kirche kamen, wartete bereits der Herr Bürgermeister auf uns. Er gratulierte mir im Namen des Rates und der Gemeinde und dankte für meine Arbeit. Am Vortage war er verhindert gewesen. Herr Brabetz, unser ehemaliger Stadtsekretär hatte in der „Reichenberger Zeitung“ einen langen Artikel, sogar mit meinem Bilde, veröffentlicht. So erreichten mich mehr als achtzig schriftliche Gratulationen.

Am 22. Mai fuhren Maria und ich nach Neuhaus. Schon in Zittau war der Zug gerammelt voll, und erst in Magdeburg wurde etwas Platz.[206] Abends haben wir dann beim Hermann Geburtstag gefeiert. Am nächsten Tage erfreuten wir uns an der Blumenpracht und der Sauberkeit in seinem Garten.

Am 25. Mai 1956 sind wir nach Hameln gefahren. In Grießem war dann die offizielle Geburtstagsfeier von meinen Angehörigen. Es wurde vorgetragen, musiziert und gesungen, so daß niemand zu Bett gehen wollte. Hanne aus Hohenlimburg hatte über mein vergangenes Leben einen Bilderbogen gezeichnet und gemalt. Dazu hatte sie entsprechende Verse gedichtet, die nun gesungen wurden. Dies geschah in der Art einer Moritatengeschichte, wie früher auf Jahrmärkten.

Auch in Grießem brachte mir die Post eine Menge Briefe und Karten. Herr und Frau Baronin haben mir persönlich gratuliert. Frau Baronin ist mit dem verstorbenen Graf von Galen verwandt. So schenkte sie mir ein Buch über seine Lebensgeschichte.

Marie-Louise ist der Sonnenschein der Familie; und sie leben trotz der vielen Arbeit recht glücklich und zufrieden. Ingrid hatte sich an ihrem einundzwanzigsten Geburtstage verlobt; und Irmtraud schilderte mir begeistert die ganze Verlobungsfeier.

Unser nächstes Ziel war Hohenlimburg. Hanne hat sich neben ihrer Arbeit im Betriebe noch eine eigene  Praxis eingerichtet. Ihr Ordinationszimmer ist ganz modern. Dann fuhr ich mit Maria ins Rheinland. In Krefeld stieg Hedi dazu. Es ging ihr sichtlich gut. In Kevelaer, dem berühmten Wallfahrtsorte an der holländischen Grenze, besuchten wir die einzig schöne Kirche. Heinrich leitet in dieser Stadt jetzt einen sehr schönen Betrieb, der sich auf Eriken umstellen möchte.

Wie aber habe ich mich in Asperden gefreut über die Kinder, die mich jubelnd empfingen und abends alle bei mir schlafen wollten. Den Fronleichnamstag verlebten wir dort. Hannerle und Gabrielchen gingen beide als „Bräutchen“ mit in der Prozession. Es war sehr feierlich. Es war dann einzig schön, wie mir die Kinder zum Geburtstage gratulierten.

Hannerle:

„Wir bringen Dir, Du Jubilar
Heut’ unser’n schönsten Glückwunsch dar.
Der liebe Gott erhalt’ Dich so
Wie heut’ noch viele Jahre froh!“

Heinzi:

„In aller Früh’ komm’ ich ins Haus
Mit einem frischen Blumenstrauß
Und einem Glückwunsch kurz und klein,
So wie ich selber bin, herein.
Und weil ein solcher kleiner Mann
Für sich noch nichts verschenken kann,
So nimm mich eben, wie ich bin,
Und, was ich wünsche, liebreich hin!“

Gabrielchen:

„Da heute alle – groß und klein –
Viel Liebe zu Dir tragen,
So will Dein jüngstes Enkelein
Auch einen Glückwunsch wagen.
Zwar mein Gedächtnis ist nicht lang,
Doch weißt Du’s ohne Worte:
Sei immer froh und niemals krank,
Und schenk mir ein Stück Torte!“

Dabei überreichte sie mir eine feine Torte. Es war direkt rührend. Die glückstrahlenden Augen der Kinder werde ich nicht vergessen.

In Asperden traf ich auch meine alte Jugendfreundin an, Frau Schrammel. Sie war dort bei einem Bauern beschäftigt. Wir haben manche schöne Erinnerungen wieder aufgefrischt. Am nächsten Tage waren wir in Goch bei Vater und Mutter. Maria fuhr dann zu Familie Koch nach Kempen, und ich habe noch zwei Tage lang recht frohe Stunden mit den Kindern verlebt. Am 4. Juni 1956 trat ich dann die lange Heimreise an. Leider war der Abendschnellzug von Dresden nach Zittau eingestellt worden, so daß ich mir die Nacht um die Ohren schlagen mußte. Erst um ½ vier Uhr früh fuhr ein Personenzug nach Zittau. Um ½ acht Uhr war ich daheim.

Anfang Dezember 1956 hatte ich wieder eine große Arbeit für die Volkssolidarität übernommen. Für den 17. Dezember war eine große Weihnachtsfeier für 150 alte, alleinstehende und bedürftige Rentner geplant. Wir erhielten Lebensmittel von den Bauern. Das mußte aber alles geholt, und die Teilnehmer mußten eingeladen werden. Da war ich tagelang unterwegs. Im Kretscham war der Saal und die Tafel herrlich geschmückt. Die strahlenden Gesichter waren der schönste Lohn für unsere Arbeit. Eine Musikkapelle, ein Gesangsquartett und die Kinder der Grundschule sorgten für Stimmung und Unterhaltung. Zum Schluß wurden unsere alten, schönen Weihnachtslieder gespielt und von allen mitgesungen. Auch für uns Volkshelfer war dieser Abend eine große Freude.

Am 4. März 1957 wurde Kleinmargits sechster Geburtstag feierlich begangen. Am 16. März hatte Georg seinen fünfzigsten Geburtstag. Von seinen Eltern erhielt er einen Fernsehapparat als Geschenk. Am 13. Juni 1957 bin ich mit Frau Jaschke und Margit nach Korntal gefahren. Georg holte uns abends in Stuttgart ab. Wie habe ich mich gefreut über das Wiedersehen, über meine Enkel und die schöne Wohnung! Am nächsten Tage besuchten wir den Fernsehturm, ein Wunderwerk moderner Baukunst, und das Kaufhaus Bräuniger. Frau Jaschke ist dann zu ihrer Schwägerin an die schweizer Grenze gefahren. Abends saßen wir vor dem Fernsehapparat.

Am 18. Juli 1957 haben Maria und Georg im Allgäu ihre Silberhochzeit gefeiert. Alle drei Kinder, Hermann, Herr Katechet Tietze und Herr Pfarrer Seidel waren anwesend. Ich leider nur im Geiste. Ein Bild von der Festtafel ist die einzige Erinnerung an dieses schöne Familienfest.

Ende August 1957 hat mich Hedi besucht. Wir haben zusammen schöne Tage verlebt. Wir waren zweimal in Zittau, dann in Oybin, Johnsdorf, Haim, am Hochwald und auf einem Volksfest.

Am 18. August 1958 kam Hermann nach Leutersdorf. Am nächsten Tage waren wir beim Silberteich in Seifhennersdorf, am 20. bei Mutters Grab, und am 21. war er mit beiden Frl. Weichhain bei unserem Sommerfeste im Garten. Er sagte beim Abschiede: „Vater, Euer Heim ist einmalig!“

Am 9. Oktober 1958 ist der Heilige Vater Papst Pius XII. in Rom gestorben. Er hatte uns ja bei unserer Wallfahrt die Hl. Communion gereicht. Wir werden es nie vergessen.

Am 3. Dezember 1958 ist Tante Rosa in Pernthon gestorben. Johanna ist nach Wien gefahren, kam aber nicht mehr rechtzeitig zum Begräbnisse. Es war eine Erlösung für die Rosa, die in der letzten Zeit viel gelitten hat.

Im Januar 1959 wurde ich mit allen Stimmen wieder in den Heimausschuß gewählt. Am 17. Mai 1959 hat mich Maria besucht. Es war meine schönste Freude zum 83. Geburtstage. Sie hat auch an unserem Heimausfluge nach Pillnitz und Dresden teilgenommen. Wir haben ein paar recht schöne Tage zusammen verlebt.

Am 10. August 1959 bin ich nach Neuhaus gefahren. Ich habe bei Hermann das Kirchenfest mitgefeiert. Der Altar war herrlich mit Blumen geschmückt. Sein musterhafter Garten stand trotz der großen Trockenheit im schönsten Blumenflor. Ein Besuch in Schwerin bildete den Abschluß.

 

In Niederoderwitz

 

Am 13. Feber 1960 ist Frau Schönfelder in unserem Heim gestorben. Wenige Tage später Frau Herold und Herr Dr. Tietze, und am 27.2.1960 Herr Dechant Sitte. Der Tod hat also reiche Ernte gehalten. Unsere beiden Heimatseelsorger wurden von allen tief betrauert.

Am Ostersonntag 1960 war Goldene Hochzeit bei der Selma. Mehr als zwanzig Personen waren in der Stube. Leider konnte Selma wegen ihrer Taubheit von all’ den vielen Reden, Wünschen und Vorträgen nichts hören.

Ende August 1960 war ich bei einer Arbeitstagung der Volkssolidarität. Im November 1960 war eine ganz besondere Feier: Die besten Volkshelfer bekamen die silberne Ehrennadel. Auch ich war dabei. Am 10. September 1960 hatten wir eine Trauerfeier für unseren am 7.9. verstorbenen Staatspräsidenten Wilhelm Pieck. Am 1. November 1960 wurde der 15. Geburtstag unsere Heimes festlich begangen. Beide Bürgermeister waren bei uns. Am 7. Oktober 1960 wurde das zehnjährige Bestehen unserer Republik auch in unserem Heime festlich begangen.

Am 11. November 1960 ist Oma Jaschke plötzlich gestorben. Der Tod war eine Erlösung. Am 17. November 1960 feierte Onkel Rudolf mit seiner lieben Johanna das Fest der Goldenen Hochzeit. Es war für mich schmerzlich, daß ich aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich teilnehmen konnte.

 

Niederoderwitz April 1961

 

19. Mai 1961: Zu meinem 85. Geburtstage habe ich mehr als 50 Briefe, Karten und Geschenke erhalten. Auch der Bürgermeister war da. Aber meine größte Geburtstagsfreude war der Besuch meiner Tochter Maria und meines Bruders. Sie waren schon am 10. Mai gekommen, weil bei dem großen Pfingstverkehr in den Zügen alles überfüllt ist. Unsere Heimbewohner waren wieder ganz begeistert vom Humor meines Bruders. Noch lange wurde davon erzählt. Es kamen zur Feier auch Herr und Frau Stieber aus Ebersbach und Frl. Weichhain.

Am 25. Juni 1961 ist nach längerem Leiden Hermann Clemenz gestorben. Es war ein schwerer Schlag für Tante Selma. Am 8. August 1961 waren Herr und Frau Winterling aus Könnern hier, und Frau Segeťová, geb. Heinrich, aus Troppau, die einmal bei uns daheim im Dienste war. Es war ein recht schöner Nachmittag.

Am 30. November 1961 bin ich beim Laubrechen an einer Böschung gestürzt. Brille entzwei, Bluterguß und Nasenbein verletzt. Da war ich ein paar Tage ohne Brille, und das war nicht schön. Aber es ist schneller geheilt, als ich zu hoffen wagte.

Am 15. Feber 1962 hatte ich einen ganz besonderen Gedenktag. Vor 60 Jahren bin ich mit meiner lieben, guten Schwester Emma nach Gabel gekommen. Es ist also der Gründungstag unserer Gärtnerei. Wie viel habe ich meiner Schwester für ihre nimmermüde Arbeit in Haushalt und Garten zu danken! Wir haben diesen Tag mit Kaffee und Kuchen, bei Wein und Gebäck im Heime gefeiert. Wie gerne hätte ich ihn im Kreise meiner Lieben verlebt!

Mitte Juni 1962 waren Maria und Georg vier Tage bei mir. Wir haben zusammen recht schöne Stunden verlebt. Auch die Neumann Lotte aus Gersdorf hatte sich mit eingefunden. Am 11. September 1962 haben mich Hermann und Frl. Liesl besucht. Das war für mich wieder eine große Freude.[207]

Am 1. Oktober 1962 verkündete Herr Verwalter feierlich zu Mittag: „Hermann tritt mit dem heutigen Tage in den Ruhestand.“ Seither mache ich nur noch das Notwendigste. Die Herbstarbeit ist ja getan, und es war mir auch manchmal schon recht schwer geworden. Bei kaltem Wetter bleibe ich nun im Zimmer und erledige meine umfangreiche Weihnachtspost.

Montag, 26. November 1962: Volkschor bei uns. Für’s Heim geschrieben.

Dienstag, 27. November: Im Block die letzten Chrysanthemen kassiert. Zwei Sorten Kunstdünger gestreut und umgegraben.

Montag, 3. Dezember: Für’s Heim geschrieben. Von Maria Paket erhalten. Stollen, Ananas, Crème, 2 Butter, 8 Orangen, 3 Cigaretten.

Dienstag, 4. Dezember: 14° kalt. Ich war bei Fiedler. 55 Mark Rente erhalten.

Sonntag, 16. Dezember: Frau Jaschke 70 Mark gegeben.

Dienstag, 25. Dezember: Erster Weihnachtstag. Ich war bei der Selma.

Dienstag, 1. Jänner 1963: 20° kalt.

Mittwoch, 2. Jänner: 21° kalt. Ich geschrieben an Kevelaer, Brief und Bild, Päckchen mit Buch und Pralinen. Rudolf/Pyrmont, Brief und Bild.

Donnerstag, 3. Jänner: Ich im Bett. Karte an Martha Weichhain geschrieben. Von Kevelaer Sammelbrief erhalten.

Freitag, 4. Jänner: Ich im Bett.

Samstag, 5. Jänner: Ich im Bett. Von Hermann Brief erhalten.[208]

 

 

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[1] In Ruppersdorf bei Reichenberg, später eingemeindet.

[2] Dĕtenitz liegt etwa 15 km südwestlich von Jičín.

[3] Kreuzer – Vom 13. bis zum 19. Jahrhundert in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz verbreitete Münze aus unedlem Metall mit einem aufgeprägten Kreuz.

[4] Joseph Ressel, Forstmann, * 29.6.1793 in Heinersdorf (Böhmen), † 10.10.1857 in Laibach, erfand 1826 die Schiffsschraube.

[5] Berzdorf liegt etwa fünf km östlich von Reichenberg.

[6] Cyclamen, nach dem griechischen kykláminos (vgl. „Zyklus“), wegen der runden Wurzelknolle: Alpenveilchen.

[7] Florinus (nach der florentinischen Wappenlilie) – Gulden.

[8] Myosotis, „Mäuseohr“ – Vergißmeinicht.

[9] Französisch remontant – wiederblühend (nach der Hauptblüte).

[10] Troppau – heute Opava, Stadt im tschechischen Teil Schlesiens, 1849-1918 Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Schlesien.

[11] Beseda (slavisch) – Gespräch, Unterhaltung. Tschechischer Salontanz mit Figuren, den vier Paare tanzen, wobei sie sich an den Ecken eines gedachten Quadrates gegenüberstehen, 1863 eingeführt (vgl. Brockhaus-Efron, Enciklopedičeskij slovar’, Bd. 6, St. Petersburg 1891, 630).

[12] Assentierung – Anwerbung zum Soldaten, Musterung.

[13] Turnau – etwa 100 km südwestlich von Wien.

[14] Schwerenöter – usprünglich jemand, dem man die schwere Not, d.h. die Epilepsie wünscht; jemand, der durch Charme und eine gewisse Durchtriebenheit Eindruck zu machen versteht. Hier scherzhaft.

[15] Amaryllis (Name einer griechischen Hirtin) – Narzissengewächs.

[16] Nach dem nordamerikanischen Entdecker J. R. Poinsett (1779-1851) benannt: Weihnachtsstern (Wolfsmilchgewächs).

[17] Asparagus plumosus ist Schnittgrün, A. officinalis ist Gemüsespargel.

[18] Adiantum, aus dem griechischen adíanton „Frauenhaar“ – Haarfarn.

[19] Elisabeth Amalia Eugenia („Sissi“), * 24. Dezember 1837 in München, Kaiserin von Österreich-Ungarn, wurde am 10. September 1898 in Genf von dem italienischen Anarchisten Luccheni ermordet.

[20] Kaiser Franz Joseph I. feierte seinen 70. Geburstag am 18. August 1900.

[21] Wallsee an der Donau: etwa 50 km östlich von Linz.

[22] Beim Namen „Gundacker“ (oberdeutsch/österreichisch) handelt es sich um den germanischen Personennamen Gundo-wakar, wackerer Kämpfer. Vgl. H.Bahlow, Deutsches Namenslexikon, Frankfurt/M. 1972, 191.

[23] Johann Nepomuk Gundacker, * 10. März 1844 in Pernthon, † 28. Mai 1899 in Pernthon.

[24] Schloß Laxenburg, südlich von Wien.

[25] Schloß Neufalkenburg wurde 1572 im Renaissance-Stil erbaut, 1759 im Rokoko-Stil umgestaltet, 1942 nach Deutsch-Gabel eingemeindet. Benennung nach der im 15. Jahrhundert auf dem nahen Falkenberge zerstörten Burg.

[26] Paulsdorf liegt nördlich von Reichenberg.

[27] Harzdorf – etwa drei km östlich von Reichenberg.

[28] Eine Ortschaft „Rosenthal“ ist am Nordende von Reichenberg gelegen, eine andere gleichen Namens etwa drei km südwestlich von Reichenberg.

[29] Kr. – österreichische Krone.

[30] Sie heirateten am 2. Juni 1902 in Schönbach/Niederösterreich.

[31] Das Binden von Kränzen, Grabgestecken und Blumensträußen.

[32] Hebeschmaus – Bewirtung der Bauarbeiter durch den Bauherrn beim Richtfest.

[33] Fraisen (althochdeutsch freisa: Gefahr, Not) – Krämpfe (bei kleinen Kindern).

[34] Theodor Holuscha aus Troppau.

[35] Die befreundete Familie Prade wohnte in Niemes.

[36] Herr Stieber war Schloßgärtner.

[37] Josef Kaluscha war bei ihm Gehilfe gewesen; später arbeitete er relativ selbständig bei Zimmermann in Habendorf.

[38] Schupfen – österreichisch und süddeutsch für Schuppen.

[39] Phillipsdorf liegt etwa 20 km nordwestlich von Zittau.

[40] Cinerarie (lateinisch cinis, Asche) – Korbblütler mit aschfarbenen Blätern.

[41] Calceolarien (lateinisch calceolus, kleiner Schuh) – Pantoffelblume.

[42] Johannesthal (heute Janov) im Bezirk Jägerndorf (heute Krnov) war eine mährische Enklave in Schlesien.

[43] Reichstadt, heute Zákupy, Bezirk Böhmisch Leipa.

[44] Haida, etwa 20 km westlich von Deutsch-Gabel gelegen, heute Nový Bor, war bekannt durch seine Glasindustrie. Zwischen Deutsch-Gabel und Haida liegen Schloß Schwoika, das in der Geschichte der sudetendeutschen Jugendbewegung eine Rolle spielte, Bürgstein und Kottowitz.

[45] Edmundsklamm, etwa 5 km südlich von Bad Schandau gelegen, heute Souteška. Benannt ist dieser vordere Teil des romantischen Tales der Kamnitz nahe der Elbe bei Herrnskretschen mit schroffen Felswänden zu beiden Seiten nach dem Fürsten Edmund Clary, dessen Familie Eigentümerin dieses Gebietes war, und der 1890 die Klamm zugänglich machte. Sie gehört zu den zahlreichen Sehenswürdigkeiten des Elbsandsteingebirges. (Vgl. R. Hemmerle, Sudetenland Lexikon, Würzburg 41992, 122.)

[46] Otto wurde am 6.7.1918 aus der Knabenbürgerschule in Deutsch-Gabel entlassen. Er erhielt u.a. in französischer Sprache das Prädikat „lobenswert“, in Stenographie („Gabelsberger Kurzschrift“, vgl. Franz Xaver Gabelsberger, Anleitung zur deutschen Rede-Zeichen-Kunst oder Stenographie, München 1834) „vorzüglich“. In böhmischer Sprache hatte er hier offensichtlich keinen Unterricht erhalten.

[47] Kč. – tschechische Kronen.

[48] Raschheit – im Sinne von Übereiltheit (vgl. J. und W.Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1893, Sp. 130).

[49] Marksturz – Inflation.

[50] Bad Salzhausen – Stadtteil von Nidda in Hessen.

[51] Für Otto liegt das Reifezeugnis vom 21. Juni 1923 (sic) vor. Er wurde an der Reichenberger Handelsakademie in französischer und englischer Sprache und Korrespondenz ausgebildet und bestand die Prüfungen mit Auszeichnung.

[52] Dr. Tietze (* 15.3.1890). Er schenkte Maria eine hölzerne Marienstatue.

[53] Volksbund – Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen.

[54] Der heutige Name Sorrento geht auf den antiken Namen Surrentum und den Mythos der Sirenen zurück, die durch ihren Gesang die Seefahrer an sich lockten, um sie zu verderben. Dem Bericht bei Homer zufolge, konnte sich nur Odysseus dem Zauber des Sirenengesanges entziehen, indem er sich an den Mast des Schiffes binden ließ, worauf die Sirenen sich in den Felsen Li Galli verwandelten, der auf der Südseite der Halbinsel nahe Positano im Golf von Salerno gelegen ist.

[55] Nazdar – Glück! (Begrüßungsformel). Zdar – Erfolg, Gedeihen, Gelingen, Glück, Heil. Nazdar bedeutet wörtlich: Zum Erfolg, gutes Gelingen! Vgl. Jan Volný, Česko-nĕmecký slovník, Prag 1963, 620.1806. Zur Herkunft: sanskrit zdrav – gesund, wörtlich: aus gutem (s) Holz (dāru). Entsprechend das deutsche kerngesund. Vgl. Max Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, Heidelberg 1976, 450f. Siehe auch das slavische na zd(o)rov’e – zum Wohle, prosit!

[56] Pelargonien – Geranien.

[57] Ein Göpel ist eine Antriebsvorrichtung, die meist mit Pferden, seltener mit Ochsen, in Bewegung gesetzt wird. Die Zugtiere werden vor einen langen Hebearm gespannt und laufen immer im Kreis herum. Der Hebearm dreht eine Welle, welche die Kraft über ein Getriebe per Riemen oder Kardanwelle auf die Hebevorrichtung überträgt.

[58] Dieser Ausssichtspunkt heißt Belvedere. Hermann wird an die Sommerrestauration seines Vaters Stefan mit gleichem Namen gedacht haben. Siehe auch Karl Baedeker, Italien von den Alpen bis Neapel. Kurzes Reisehandbuch, Leipzig 1926, 397.

[59] Batzenhäuslein – traditionelles Weinlokal in Bozen. Usprünglich bedeutet das Wort ein einfaches Wirtshaus, in dem man nur für einen Batzen Verzehr hat (vgl. J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 1160). Der Batzen (wohl nach dem Berner Wappentier, dem Bären, Petz), eine silberne Münze im 15./16. Jahrhundert, entspricht vier Kreuzern.

[60] Welsch – Sammelbegriff für die romanischen Sprachen.

[61] Firma M.D.Urabin, Gablonz, 20.6.1924: „Zeugnis mittelst welchem ich bestätige, daß Herr Otto vom 13.12.1923 bis zum 30.6.1924 bei mir als Kontorist tätig war. Er fand bei der Erledigung der englischen Post nach meinem deutschen Diktate Verwendung und hat sich als gewissenhaft, fleißig und ehrlich erwiesen und kann ich ihn jedermann bestens anempfehlen.“

[62] Aus den Zeugnissen der Firma Zimmer & Schmidt in Gablonz vom 5.12.1925: „Herr Otto aus Deutsch-Gabel war vom 1.7.1924 bis zum heutigen Tage in unserem Hause als Kontorist in der Buchhaltungs-Abteilung in Verwendung, wo er hauptsächlich die mit der Buchhaltung zusammenhängenden fremdsprachigen Banken- und Vertreter-Korrespondenz, und zwar in englisch, französisch und spanisch, sowie des öfteren auch andere laufende Korrespondenz zu erledigen hatte.“ „Come impiegato il Sig. è di molto intelligenza e possiede buono cognizioni comerciali. Specialmente è ottimo corrispondente di lingue straniere conoscendo perfettamente il tedesco, il francese, l’inglese, lo spagnuolo ed il cecco, avendo anche qualche conoscenza della lingua italiana e come è dottata di una gran buona volontà non dubbiamo che fra poco non sarà maestro anche della lingua italiana.“

Für den 8.3.1926 bestätigt die Obsthandelsfirma Fratelli Jung (Palermo) seine Beschäftigung bei ihr. Nach der sprachlichen Fortbildung wird er dann ab dem 1.6.1926 bei ihr als Fremdsprachenkorrespondent eingesetzt.

[63] Ernennung durch den Bischof Joseph von Leitmeritz vom 13.8.1928.

[64] Heuer (österreichisch) – in diesem Jahre (vgl. Heuriger).

[65] Ab jetzt bezeichnet Hermann seine Frau mit „Mutter“.

[66] Ab dem 27.6.1928 lebte Otto in Syrakus. Er arbeitete seit dem 15.11.1928 bei der Firma Francesco Milazzo & Figli. Diese stellte ihm am 30.4.1929 ein Zeugnis aus, in dem es u.a. heißt, daß er in italienisch, französisch, englisch und spanisch auch stenographieren kann. Im Zeugnis vom 27.12.1929 schrieb diese Firma u.a., daß er Französisch, Englisch und Italienisch wie seine Muttersprache beherrscht.

[67] Pikieren: Vereinzeln, Sämlinge und Stecklinge zum 1. Mal auseinanderpflanzen.

[68] Dechant Hermann Sitte, * 15.11.1883.

[69] Die Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung (Berlin-Schöneberg) bestätigt Otto am 28.5.1930, daß er nach der Methode Toussaint-Langenscheidt die lateinischen Unterrichtsbriefe studiert und auf Grund einer gestellten Prüfungsaufgabe für eine schriftliche Arbeit das Prädikat „Gut“ erhalten habe. Im Reifezeugnis des Bischöflichen Gymnasiums in Mariaschein vom 24.9.1931 werden ihm in den Sprachen folgende Zensuren verliehen: Čechoslovakische Sprache: sehr gut, Lateinische Sprache: gut, Griechische Sprache: genügend.

[70] Am 8.9.1934 wurde er Kaplan zur Aushilfe in Wiese, am 31.1.1935 von Bischof Antonius Aloisius von Leitmeritz zum Pfarrer, und am 22.11.1943 zum Canonicus ernannt.

[71] Anna Herold hatte ein Geschäft in Deutsch-Gabel.

[72] Marta Neumann, * 1903, 1945 in Röchlitz, später Atting über Straubing, Pfarrhof 29, Niederbayern.

[73] Dazu eine spätere Eintragung: „Ende Juli 1949 hat mich meine Jugendfreundin Frau Schrammel aus Leipzig besucht. Leider geht es ihr gesundheiltich gar nicht gut.“

[74] Hermann scheint in den Jahren 1936 bis 1938 zwischen die Mühlsteine der Großen Politik geraten zu sein: Die Tschechen verdächtigten ihn, separatistischen Bewegungen Vorschub zu leisten; während die Sudetendeutsche Partei ihm vorwarf, mit den Tschechen gemeinsame Sache zu machen.

[75] Im theologischen Examen erhielt Otto in allen Fächern ein „Sehr gut“. In Leitmeritz hatte er sich mit hebräischer und aramäischer, sowie etwas mit arabischer Sprache beschäftigt. Er interessierte sich auch für Esperanto und Russisch.

[76] Ottos Primiz fand am 16. März 1936 in Deutsch-Gabel statt. Das Gebet auf seinem Primizbild lautet: „O Jesus Christus, ich huldige Dir als dem König der Welt. Alles, was geschaffen ist, wurde für Dich gemacht. Verfüge über mich als über Dein Eigentum. Ich erneuere mein Taufgelübde und widersage dem Teufel, seiner Pracht und seinen Werken und verspreche, als guter Christ zu leben. Ganz besonders verpflichte ich mich, alle Kräfte aufzubieten, um den Rechten Gottes und Deiner Kirche zum Siege zu verhelfen. Göttliches Herz Jesu, Dir übergebe ich meine armseligen Handlungen in der Absicht, daß alle Herzen Dein heiliges Königtum anerkennen und so Dein Friedensreich auf der ganzen Welt fest begründet werde. Amen.“ – Anzumerken ist, daß die Christus-König-Frömmigkeit seit den 1930er Jahren gepflegt wurde, um staatlichen „theokratischen“ Ideen entgegenzuwirken.

[77] Dechant Hermann Sitte, * 15.11.1883, wurde am 9.7.1930 in Deutsch-Gabel in sein Amt eingeführt. Möglicherweise sind die Behinderungen kirchlicher Verbandsarbeit durch die Sudetendeutsche Partei der Grund seiner Bitte um Versetzung. Er tat später Dienst in der Gemeinde Ludenhausen bei Issing (Obverbayern) und starb am 27.2.1960.

[78] Am 15.3.1938 war Hermann von seinem Amt als Bürgermeister der Stadt Deutsch-Gabel zurückgetreten. Da alle Versuche, ihn von seinem Entschluß abzubringen, erfolglos blieben, drückte ihm der stellvertretende Bürgermeister am 3.6.1938 „wärmsten Dank“ für seine „umsichtige Amtsführung“ aus und schrieb: „Während Ihrer Amtsführung als Bürgermeister der Stadt Deutsch-Gabel wurden einige, für die Gemeinde sehr wichtige und dem Allgemeinwohl dienende Investitionen durchgeführt, deren Verwirklichung Ihrer Initiative zu verdanken ist. Die friedliche Zusammenarbeit in der Gemeindevertretung unter den politischen Gruppen ist ebenfalls Ihr ausschliessliches Verdienst, weil Sie während Ihrer Amtsführung nur immer das Wohl der Gemeinde im Auge hatten und daher politische Auseinandersetzungen nie Platz fanden.“ Eine dieser „Investitionen“ war die Errichtung eines Bades in der Stadt. Er hatte sich auch engagiert für die Armen eingesetzt.

[79] Hier liegt offensichtlich ein Irrtum vor; denn der Totenbrief vom 17.4.1942 spricht vom Il’mensee, südlich Novgorod.

[80] Aus seinem Brief vom 11.1.1941: „Sicher werdet Ihr erfahren haben, daß ich unter den Glücklichen war, die Weihnachten daheim sein konnten. Aber das wurde eben nur möglich, weil wir nicht mehr im Einsatz stehen und – Gott sei Dank – auch Rußland verlassen haben. So hat es in letzter Stunde noch mit dem Urlaub geklappt. Die Freude daheim könnt Ihr Euch vorstellen! Und nun sitze ich in Frankreich wieder bei meiner Kompanie und wir bereiten uns vor zu neuem Einsatz. Denn ein Ausruhen gibt es heutzutage nicht mehr. Den Hansjörg möchte ich ja gern mal sehen, ich kenne ihn doch nur von Bildern. Und Agnes muß ja auch schon ein großes Mädel sein. Ja, daran sieht man, wie die Zeit verrinnt, und wenn ich mich betrachte, so stehe ich immer noch am Anfang. Aber nach dieser Zeit kommt auch mal eine andere, und wir wollen den Glauben an sie nicht verlieren. Und nun grüße ich Euch alle, Euer Walter.“

Die Mitteilung: „Nun ist das Grausige, vor dem wir seit Anfang des Krieges jeden Tag neu zitterten, doch eingetreten. Unser lieber lieber Junge, unser Walter, ist nicht mehr! Am 1. März wurde seine Truppe, die seit Anfang Dezember zur Sonderausbildung im Elsaß weilte, wieder nach Rußland beordert. Dort trafen sie am 9. 3. ein und nach den wenigen Zeilen, die er uns von R. sandte, muß es ein mörderisches Ringen gewesen sein. Nur 16 Tage währte sein Einsatz; dann traf ihn die erbarmungslose Kugel! Wir sind alle wie niedergeschmettert, namentlich Tante Johanna! Gott gebe uns Kraft, dieses Kreuz zu tragen. In unsagbarem Leid, Eure Landecker. Bad Landeck, 18.4.42.“

Der Totenbrief: „Wir erhielten heute die für uns unfaßbare Nachricht, daß unser lieber einziger Sohn, Bruder und Schwager Walter, Unteroffizier in einem Pionier-Bat., Inh. des E.K. II und and. Ehrenzeichen, bei den schweren Kämpfen am Ilmensee, am 25. März im Alter von 23 Jahren den Heldentod gefunden hat. Nach glücklich bestandenem Einsatz in Polen und Frankreich und nach 2maliger Verwundung ist seine und unsere Hoffnung auf eine glückliche Wiederkehr nicht erfüllt worden. Nur wer ihn gekannt hat, weiß was wir verloren haben. In tiefem Schmerz. Bad Landeck, 17. April 1942. Hl. Requiem Montag, den 20.4.42 um 715 Uhr in der Pfarrkirche.“

Text auf der Rückseite des Totenbildchens: „Uffz. Walter * 15.1.1919 fiel im Osten † 25.3.1942. Ich bin der Herr dein Gott, der deine rechte Hand ergreift und zu dir spricht: Sei ohne Furcht, Ich bin es, der dir hilft. Is. 41.“

[81] Jakobus Johannes Heinrich  (* 17.12.1919 Goch, † 6.2.1998 Kevelaer).

[82] Gertruda geb. Rutten. Dieser Familienname wird vom Vornamen „Rutger“ (Rüttger), abgekürzt „Rutt“ hergeleitet. Zugrunde liegt eine militärische Bezeichnung: entweder Rotte (eine Abteilung Soldaten), ruiter (Reiter) oder Rüdiger (ruhmvoller Speerkämpfer: hruod + gêr).

Der älteste bekannte Träger dieses Namens ist in dieser Genealogie-Linie Rutt Roevers, geb. um 1430, Sohn von Wilhelm Roever, geb. um 1400, der mit einer Tochter von Herman van Os (geb. um 1370) verheiratet war. Der Familienname in der heutigen Form taucht bei Hendrik Rutten (= Sohn von Rutt), geb. um 1540, auf. Die Familie ist im Gelderland (Gelre) ansässig. In Aijen, Gemeinde Bergen (Niederlande), leben zahlreiche Verwandte.

[83] In Markersdorf (östlich von Deutsch-Gabel) half Hermann bei Frau Richter mit.

[84] Die Tagebücher Hermanns werden nun auch hinzugezogen, soweit sie vorliegen.

[85] Stecklinge: Die Stengel werden zwischen den Blattachsen mit einem scharfem Messer schräg geschnitten, dicht ins Erdbeet dicht gesteckt und mit Folie abgedeckt.

[86] Umstellen: Der Abstand zwischen den Töpfen wird vergrößert. Die Pflanzen brauchen zum Wachsen Kontakt zur Gruppe; deshalb ist mehrmaliges Umstellen erforderlich.

[87] Topfen.

[88] Petunien (aus der südamerikanischen Indianersprache Tupi: petyn, Tabak) – eine Balkonpflanze mit Trichterblüten, die der Tabakpflanze ähnelt.

[89] Erde wird mittels Maschensieb (in Holz gespannt) von Steinen etc. bereinigt.

[90] Saxa – Kartoffelsorte.

[91] Karfiol – Blumenkohl (österreichisch).

[92] Sprossenkohl – Rosenkohl (Brassica var. gemmifera).

[93] Kapuste – Blattkohl (slavisch).

[94] Národni Výbor – Nationalausschuß.

[95] Wirsing.

[96] Kasten – Beet, mit ca. 50 cm hohen Bretter- oder Betonwänden umgeben, und mit einzelnen Glasfenstern abgedeckt.

[97] Am 30.12.1945 schreibt Gertruda in einem Brief: „Hier ist alles kaputt, in ganz Goch steht kein einziges Haus mehr, das noch ganz ist. Die ganze Stadt nebst Kirche und Bahnhof, alles ist hin. Es gibt keinen Handel und keinen Verkehr. Es ist eine ganz tote und verlassene Stadt! Vater hat jetzt viel mit Bauen zu tun. Marga hat sich ans Stricken gemacht, die anderen helfen im Haushalt mit.“ Nachschrift: „Wenn einer von Euch kommt, bringt bitte Bobby mit!“ Thea.

[98] Anhäufeln – die Pflanze mit Erde umgeben, damit die Kartoffelfrucht unter der Erde bleibt und nicht grün wird.

[99] Jauche – natürlicher Volldünger mit N, P, K und Spurenelementen.

[100] Pflanzen fruchten nur senkrecht, daher werden alle Triebe abgeschnitten bzw. aus den Blattachseln (Winkel zwischen der Sproßachse und dem Blatt) gebrochen.

[101] Überzählige Triebe, die die Frucht beschatten, werden abgeschnitten.

[102] Nährsalz – Mineraldünger.

[103] Pan Jiří, u fy. Jindřich Brosche, Starý Habendorf u Liberec, Telefon 4663. Die Familie mußte Habendorf Mitte September 1946 verlassen.

[104] Dr. med. Eugen Sturm, später in Weeze, Kevelaerer Straße.

[105] Jauchen – mit Kuhjauche düngen.

[106] Personensuchstelle des Roten Kreuzes, Schirgiswalde, Sachsen, Oberlausitz.

[107] Gartenbau Jauch, Gartenstr. 57, Niederoderwitz. Dann: Gärtnerei Heiko Jauch, Straße der Republik 67a.

[108] Fritz Palme, Gartenbau, Seifhennersdorf, Nordstr. 56 (dann: Gartenbau Gunter Paul), Telefon 4396, Amt Neugersdorf.

[109] Zeitweise wohnhaft in Zittau, bei Frau Göttlich, Kasernenstr. 68, I. Stock.

[110] Hedwig, Flüchtlingslager Fischendorf, bei Leisnig, Sachsen.

[111] Heinrich, bei Höyer, Gartenbau, Leisnig, Sachsen, Niederlanggasse 28.

[112] Der neue Besitzer: Pan (Herr) Dostal, dřive (früher) Hermann zahradnik (Gärtner), Jablonné pod Ještědem (Deutsch-Gabel).

[113] Reichenau, heute Rychnov, Bezirk Gablonz.

[114] Dr. Rudolf Tietze, Kölleda bei Erfurt, Saarlandstr. 2.

[115] Blanche Poitevine – Weiße Chrysanthemenart aus Poitiers (Nordwestfrankreich).

[116] Kalthaus – Gewächshaus ohne Heizung.

[117] Grete, bei Frau Leonhardt, Kahla, Rudolstädterstr. 2, Thüringen.

[118] Hermann, Umsiedlerlager in Brahlstorf, Baracke 12, Kreis Hagenow, Mecklenburg.

[119] Dechant Hermann Sitte, Erfurt, Kresseweg 6.

[120] Lucius-Hebbel-Stiftung, Kartäuserstr. 63, Erfurt.

[121] Die Botrytis-Blätter werden entfernt.

[122] Sedum – Fetthenne.

[123] Marg. Herbig, Eilsleben, Bezirk Magdeburg, Bauerweiden 3.

[124] Hängebretter sind zusätzliche Stellagen unter dem Dach des Gewächshauses.

[125] Gegen Botrytis, Schimmelpilz. Er ruft Graufäule hervor.

[126] Vgl. Buchtel – österreichisch für süßes Hefegebäck.

[127] Arabisch ﺭﻳﺒﺎﺱ rībās (eine Art Rhabarber) > mittellateinisch ribēs > italienisch rìbes: Johannisbeere.

[128] Im Winter erfolgt ein radikaler Rückschnitt, um einen vielsprossigen Austrieb im Frühling zu ermöglichen.

[129] Pani H. Schrammelova, Janóv Důl 17, über Liberec, ČSSR; später in Leipzig. Dann: Hermine Schrammel, Grebben, Bezirk Aachen, Heinzberger Str. 13, Rheinland. * 24.6.1877. Später in Hückelhoven im Altersheim. Frau Schrammel war 1934 Firmpatin von Hedi.

[130] Anna Hollmann, Viersenerstr. 39, dann: Beethovenstr. 2, Dülken, Rheinland.

[131] An diesem Tag erhält Hermann vom Arbeitsamt Zittau, Nebenstelle Seifhennersdorf, einen Arbeitsausweis in russischer und deutscher Sprache, der die Bitte enthält, ihn passieren zu lassen. (Просят его пропускать).

[132] Epiphyllum – Gliederkaktus.

[133] Anna Herold (* 5.3.1867), bei Frau Eckart, Kurort Jonsdorf, № B 158, bei Zittau. Dann in Köthen, dort auch Emmi Herold.

[134] Heinrich Brabetz (* 16.12.1897), Freyburg a.d. Unstrut, Hinterm Schlag 3. Er leitet später in München die Sudetendeutsche Landsmannschaft. Jährliches Treffen ist am Laurentitag (um den 10. August).

[135] Salat Maikönig Freiland.

[136] Zur Isolierung werden nachts Strohmatten über die Fenster der Kästen gerollt.

[137] Anna Hollmann, Gölsdorf 51, über Jüterbog II.

[138] Hedwig, bei Herrn Schwade, Brauerei in Leisnig, Bahnhofstr. 14.

[139] Susanne Weber (* 7.1.1912), geb., Hohenlimburg, Kaiserstr. 27 (mit Dr. med. Johanna, * 15.11.1914,  † 15.7.1993, beerdigt 23.7.1993 in Emsdetten). Später Neubrückenstr. 29a, Emsdetten.

[140] Heinrich, Goch, Asperdenerstr. 219, Jägerhof, Rheinland.

[141] Deutsche Fenster sind 1 m breit, holländische 80 cm und viel leichter.

[142] Luftfenster – beweglicher Dachteil, über eine Kurbelmechanik zu öffnen.

[143] Familie Clemenz gehört der nahegelegenen Evangelischen Brüder-Unität-Herrnhuter-Brüdergemeinde an (Zittauer Str. 20, Herrnhut).

[144] Begonia semperflorens, Strauch- oder auch Glasbegonie.

[145] Aussaat und Pikieren unter Glas.

[146] Reseda – Wau oder Resede. Die Gartenresede (Reseda odorata) ist eine Zierpflanze mit gelben oder rotbraunen duftenden Blüten.

[147] Winde – Convolvulus, z.B. Ackerwinde mit Trichterblüten.

[148] Gugelhupf – „Hüpfende Kugel“, wohl wegen der sich wölbenden Oberfläche.

[149] Hermann, Kath. Pfarramt in Boizenburg an der Elbe, Kreis Hagenow, Bahnhofstr. 53, Mecklenburg.

[150] Rudolf, Ladek Zdraj, Slowackiego 1, Polen.

[151] Anna Siegel (* 14.12.1871), bei August Seifert, Hünfeld. Dann Frielendorf, Bahnhofstr. 121, Kreis Ziegenhain. Frl. Siegel war von 1928 bis 1944 Haushälterin bei Hermann junior. Sie starb am 11.8.1955 im Altersheim in Leonberg.

[152] Rudolf, Dresden, Industriegelände, Baracke 6 I.

[153] Anna Moureaud, Burgau bei Jena, Reißleinweg 6.

[154] Heinrich, Gärtnerei Ahnert, Mochau bei Döbeln, Sachsen.

[155] Hedwig, bei Frau Hempel, Gasthof Scheergrund, Klosterbuch bei Leisnig, Sachsen.

[156] Grete, Kahla in Thüringen, Burg 10. Emma Maier, Kahla, Rudolstätterstr. 2.

[157] Militärzüge hatten Vorfahrt. Außerdem war zu dieser Zeit das Streckennetz wegen der Kriegsbombardierungen noch an zahlreichen Stellen unterbrochen bzw. in Reparatur.

[158] Rosina Fichtinger, geb. Gundacker, † 1.12.1957 in Pernthon.

[159] Text im Totenzettel: „Zur Erinnerung im Gebete an Herrn Florian Fichtinger, Gast- und Landwirt in Spielberg 3, welcher am 3. Juni 1946 um 13 Uhr in Wien im 38. Lebensjahre an den Folgen der im Kriegseinsatz erlittenen Verwundung plötzlich gestorben ist.“

[160] Dechant Hermann Sitte, Kath. Pfarramt Ludenhausen, Post Issing, Oberbayern.

[161] Karl Kuba, Kreisumsiedlungslager Kiefernheide, Neustrelitz.

[162] Karl Kuba, bei August Wegner, Peetsch, Post Mirow, Mecklenburg.

[163] Rudolf, Красный Крест, Почтовый ящик, Москва, СССР.

[164] Kassieren – ausgeizen: Die Seitentriebe werden herausgebrochen, damit alle Nährstoffe dem Fruchtwachstum zugute kommen.

[165] Maria, Flüchtlingslager Bobingen, An der Lindauerstraße, Landkreis Schwab­münchen, Amerikanische Zone.

[166] Mit Strohmatten.

[167] Brief vom Bischöflichen Kommissariat für Mecklenburg, Pfarrer Dr. Schröder, Klosterstr. 13, Schwerin, 8.9.1946: „Da durch den Zustrom zahlreicher umgesiedelter Sudetendeutschen die Zahl der Katholiken in Neuhaus/Elbe stark angestiegen ist, ist es notwendig geworden, einen eigenen Seelsorger für Neuhaus und Umgebung zu bestellen.

Ich bitte Sie daher, in Neuhaus und Umgebung den Gottesdienst und die Seelsorge für die Katholiken zu übernehmen und übertrage Ihnen namens des Hochw. Herrn Bischofs von Osnabrück alle dazu erforderlichen Vollmachten.“

[168] Adolf Jaschke.

[169] Villa Rolle.

[170] Kosa ist die Schokoladenfabrik in Niederoderwitz gegenüber dem Feierabendheim, während DDR-Zeiten in „Bergland“ umbenannt, und dann in Katlan.

[171] Elisabeth Faist (* 27.5.1909) war Haushälterin von Pfr. Hermann in Neuhaus/Elbe.

[172] Hermann, Kath. Pfarramt, Lange Reihe 2, Neuhaus/Elbe, Kreis Hagenow, Mecklenburg.

[173] Polizeiliches Führungszeugnis.

[174] Großaitingen 153, Landkreis Schwabmünchen, Gau Schwaben. Dann: Schwabmünchen, Taubental, Alpenstr. 21.

[175] Ein Blick in den Speiseplan des Altenheims Niederoderwitz. 2.10.1949 Mittagskost: Gulasch, Rotkraut, Salzkartoffeln, Kürbiskompott. Abendkost: Mehlsuppe. 4.10.1949 Mittagskost: Schnittbohneneintopf. Abendkost: Gemüsesuppe. 10.10.1049 Mittagskost: Nudeln mit Rindfleisch, Kompott. Abendkost: Kürbissuppe.

[176] „Wer einen hohen Berg erklommen,/ Der bleibt am Gipfel sicher steh’n,/ Um sich den Weg, den er erklommen,/ Besinnlich nochmals anzuseh’n./ Er sieht am Fuß des Berges liegen/ Die Heimat und das Vaterhaus,/ Wo einstmals stand der Kinder Wiegen,/ Umhüllet von dem Weltgebraus./ Er sieht den Weg sich mählich heben,/ Er sieht der Gattin treue Hand,/ Die ihm verbunden war im Leben, –/ Bis einst der Tod zerriß das Band./ Er sieht die Schründen und die Klüfte,/ Der Felsen Grat und manches Tod,/ Er sieht die Gräber und die Grüfte,/ Und viel, das sich im Dunst verlor. –/ So manche Brücke mußt’ er schreiten,/ Die kühn sich über Tiefen spann’,/ Manch treues Herz konnt’ ihn geleiten,/ Das er sich in der Zeit gewann./ Doch: Der und jener blieb zurücke/ Freiwillig oder gottgebannt,/ Zum Leide teils und teils zum Glücke./ Allein ist heute seine Hand./ Allein ist er am Gipfel droben/ Und schaut ins Tal beschaulich still:/ Soll seinen Herrgott er heut loben,/ Der nahm und gab, wie Er es will?

Du zählst heut fünfundsiebzig Jahre –/ Und stehest heute auch allein,/ Und hoffst, daß Gott dich doch bewahre/ Vor Krankheit, Kummer, Sorge, Pein!/ Vor gleichem Leid, das Dich betroffen,/ In all der kriegerischen Zeit,/ Die Dir genommen manches Hoffen,/ Die Lieben Dein verstreuet weit.

Und dennoch ist des Berges Gipfel,/ Den Du erklommen, stolze Rast:/ Weil Du Dein Haupt gleich Baumeswipfel/ In keinem Sturm verloren hast./ Den Deinen warst Du treuer Vater,/ Hast stets das Beste nur gewollt,/ Manch zagem Herz warst Du Bewahrer;/ Drum wurd’ Dir Liebe nur gezollt./ Heut kannst Du von des Gipfels Höhe/ Getrost und froh den Weg beseh’n,/ Den Du erstiegst in Gottes Nähe,/ Schwer war Dein Leben, aber schön!

Mög’ Dir der Herrgott Deine Tage,/ Die Dir auf Erden noch beschieden,/ Verschönen – ohn’ Leid und Plage –/ Mit Sonnenschein und echtem Frieden!

Zu Deinem 75. Geburtstage grüßt Dich in alter, treuer, unwandelbarer Bruderliebe:

Rudolf“.

[177] „Altbürgermeister Hermann vollendet am 19. Mai 1951 sein 75. Lebensjahr. In Reichenberg geboren, errichtete er um die Jahrhundertwende in Deutsch-Gabel eine Handelsgärtnerei, die er durch unendlichen Fleiß und Schaffensfreude zu einem der modernsten Betriebe dieser Art ausgestaltete. […] Schon als Stadtrat und Bürgermeisterstellvertreter galt seine erste besondere Fürsorge den Ortsarmen und den Pfleglingen in den Altersheimen. Als Oberhaupt der Stadt hat er seine soziale Einstellung erst recht unter Beweis stellen können. Seine Aufwandsentschädigung als Bürgermeister widmete er ausschließlich sozialen Zwecken. […] Und heute, trotz seiner 75 Jahre, führt und betreut er im Altersheime in Niederoderwitz den ganzen Gartenbetrieb und fühlt sich ohne Arbeit überhaupt nicht recht wohl.“

[178] Krapfen ist eigentlich der Haken, an dem dieses Gebäck ins siedende Fett getaucht wird: althochdeutsch krāpho, verwandt mit Krampe, mittelhochdeutsch krāpfe.

[179] Diese Fragebogen wurden an das Außenministerium zurückgesandt.

[180] Beifuß, appetitanregende Medizin.

[181] Aspidistra – Schildblume, auch „Schusterpalme“ genannt.

[182] Nephrolepis – Farn.

[183] Rex – Blattbegonie.

[184] Aus einer Liste im Tagebuch geht hervor, daß bei der Sammlung pro Person entweder 0,30 oder 0,50 Mark gegeben wurde. Hermann selbst gab 0,50 Mark.

[185] Frau von Gottberg starb am 16. April 1952 und wurde am 19. April begraben. Sie war eine Schloß- und Gutsbesitzerin aus Westpreußen, heimatvertrieben. In Niederoderwitz lebte sie von der Sozialfürsorge.

[186] Myosotis Ruth Fischer – Vergißmeinichtart.

[187] Myosotis indigo – Vergißmeinichtart.

[188] Marianne und Adolf Jaschke.

[189] Auf die Bleiche, ein Wiesenstück, wurde die Wäsche zum Bleichen (aufhellen) ausgelegt.

[190] Adele Kral. In Neuhaus wohnen: Hulda Matzig und Gertrud Bartosch.

[191] Tagetes – Studentenblume.

[192] Giltig (österreichisch) – gültig.

[193] Fuchsienstämmchen.

[194] Grossaitingen 153, Pfarrhof, Landkreis Schwabmünchen, Gau Schwaben. Georg senior starb am 7.2.1958.

[195] Emma war am 14.2.1951 verstorben.

[196] Nierswalde, Rodenwalde und Reichswalde.

[197] Geschnitten.

[198] Hier Kostproben: „Willste woas warn,/ doarfste ne mahrn./ Gibst dr Mihe,/ gitt’s a de Hihe./ Biste ne munter,/ do gitt’s bargunter./ De Ogen uffe,/ do bleibste druffe!“ (Hermann Klippel).

„Unse Sproche hirrt’sch moanchmal a brinkl groob oan fer dan, dar ne aus dr Äberlausitz is. Aber’s ju goar ne su gemeent.“

(Hinweise: mahrn – sich Zeit lassen; hirrt’sch – hört sich; brinkl – bißchen.)

[199] Auswahl aus der Leseliste.

[200] Auswahl von Gedichten aus dem Tagebuch 1952.

[201] Von der damaligen Haus- und Hofdichterin Martha Meschke zu Sylvester 1949, auf die Melodie von „Horch’, was kommt von draßen ‚rein“.

[202] Dieses Gedicht schrieb Hermann am 16. März 1950.

[203] Düte – Diese Form begegnet in der klassischen Literatur für das landschaftliche „Tüte“.

[204] Im Altersheim Niederoderwitz wurde erzählt, daß Hermann am nächsten Tage auf dem Klavier die schönsten Arien dieser Oper aus dem Gedächtnis spielen konnte.

[205] Kretscham ist die in jedem Ort befindliche Gaststätte in der Oberlausitz. Vgl. tschechisch krčma und polnisch karczma (Schenke).

[206] Rudolf schrieb am 1.6.1956 darüber ein Gedicht „An alle lieben Heiminsassen!“: Wie ich dort es vorgenommen,/ Ist es heut’ mir liebe Pflicht,/ Daß ich sende von der Heimfahrt/ Den versprochenen Bericht!/ Schwer nur trennten wir uns alle./ „Niederoderwitz – ade!“,/ Hieß es Dienstag früh nach Pfingsten./ Schon in Zittau gab es Weh;/ Denn das Zügelein nach Dresden/ War schon beinah’ vollgestoppt./ In den Gang der ersten Klasse/ Sind wir schnell noch ’reingehoppt./ Vater Hermann wurd’ auf Polstern/ Hübsch verstaut, wie sich’s gebührt./ Leider hat der böse Schaffner/ Dann den Zuschlag noch kassiert!/ Wie in Zittau, war’s in Dresden;/ Denn vom Hauptbahnhof kam her/ Unser Anschlußzug nach Norden,/ Und kein Plätzchen war da leer!/ In ’nem Halbabteil da mußten/ Wir mit unser’n Koffern steh’n!/ Erst in Magdeburg gab’s Plätze./ Nee! Die Reise war nich’ schön!/ Müd’, verdreckt, da sind wir schließlich/ Dort in Neuhaus eingerückt,/ Wo man Herz und auch den Magen/ Überreichlich uns erquickt!/ Schöne Stunden, schöne Tage –/ Haben wir dann zugebracht,/ Und oft, g’rad wie im Heime,/ Viel erzählt und viel gelacht!/ Wie in Neuhaus, war’s in Grießem./ Und die Zeit verging zu schnell! –/ Seit vier Tagen bin ich endlich/ Nach der langen Reis’ zur Stell. –/ Lang noch werd’ der Zeit ich denken,/ An die Stunden, die wir dort/ All’ verbrachten. Und das Heim ist/ Stets lieber Erinn’rungsort!/ Schön war die Geburtstagsfeier,/ Schön war es im lust’gen Kranz./ Doch es wurmt mich: Mit den Damen/ Macht’ ich keinen einz’gen Tanz!/ Das ist Grund zum Wiederkommen!/ Gibt Gesundheit Gott – und Geld,/ Meine bess’re Ehehälfte/ Dann mich nicht zurückehält!/ Ja, dann tanz’ ich manche Runde,/ Flott und langsam. Ei, wie schön!/ Freu’ mich heut’ schon wie ein König!/ Also: Frohes Wiederse’hn!“

[207] Frl. Elisabeth Faist schrieb am 15.1.1963: „Hermann mochte wohl schon ahnen, daß seine Tage gezählt sind; denn der Abschied fiel ihm sehr schwer vom Herrn Pfarrer im September. Immer wieder hat er ihn umarmt und geküßt; er konnte sich nicht trennen. Herr Pfarrer ist sonst nicht für solche Liebesäußerungen, aber da ließ er ihn gewähren.“

[208] Am 6.1.1963 schrieb Herr Jaschke an Maria und Georg: „Hoffentlich ist es wieder einmal blinder Alarm von uns, aber Hermann geht es nicht gut, es ist zwar der erste Tag, daß er nicht aufstehen kann, aber er ist so schwach, daß er allein gar nicht aufstehen kann. Wir möchten Sie keinesfalls beunruhigen, andererseits möchten wir Sie doch von dem augenblicklichen Gesundheitszustand unterrichten. Morgen kommt der Arzt, ich schreibe Ihnen morgen gleich seine Meinung.“

Hermann starb am Dienstag, 8. Jänner 1963. Er wurde 86 Jahre alt. Aus dem Brief von Georg vom 8.1.1963: „Gestern nachmittags kam von Herrn Jaschke eine Depesche, daß Vater ernstlich erkrankt ist. Ich habe dann abends gegen ½ 10 noch mit Frau Jaschke telefoniert, wobei sie mir sagte, daß es mit Vater schlecht steht. Heute abends kam ein Anruf von Herrn Jaschke mit der Nachricht, daß Vater um ½ 5 nachm. sanft und ruhig entschlafen ist. Herr und Frau Jaschke waren bei ihm, als er starb.“

Margit erzählt: Es war bei der Beerdigung so kalt, daß ihre Tränen im Mantel gefroren. Die Blumen auf dem Grab hielten sich wegen der großen Kälte noch wochenlang.