Die Lehre von Ungrund und Freiheit 3

 

Böhmes Idee vom Ungrund wurde in der deutschen Identitätsphilosophie, die von den Quellen der christlichen Offenbarung, vom christlichen Realismus abgerückt war, nicht nur entfaltet, sondern auch entstellt. Darum neigte die deutsche Metyphysik zum Impersonalismus, zum Monismus, und lehrte von Gott als einem Werdenden im Weltprozess. Aber Böhmes Voluntarismus war für die Philosophie sehr befruchtend, ebenso wie die Lehre vom Kampf der entgegengesetzten Prinzipien, des Lichtes und der Finsternis, und von der Notwendigkeit des Gegenwurfes für die Offenbarung der positiven Prinzipien. Böhmes Metaphysik ist eine musikalische christliche Metaphysik, und darin ist sie für den deutschen Geist charakteristisch. Hierin besteht ihr Unterschied zur architektonischen christlichen Metaphysik des Thomas von Aquin, die für den lateinischen Geist charakteristisch ist. Die deutschen Metaphysiker des 19. Jahrhunderts machten den Versuch, ein musikalisches Thema durch ein System von Begriffen auszudrücken. Darin liegt die Großartigkeit ihres Unterfangens, und darin liegt auch der Grund des Zusammenbruches dieser Systeme. Gegenwärtig ist eine Böhme-Renaissance möglich. Es werden über ihn eine Reihe neuer Bücher geschrieben. Er könnte dazu beitragen, dass nicht nur die Gewohnheiten griechischen Denkens und mittelalterlicher Scholastik, sondern auch jener deutsche Idealismus überwunden werden, auf den er selber einen inneren Einfluss ausgeübt hat. Uns Russen müssen Böhme wie auch Fr. Baader näher stehen als andere westliche Denker. Unseren geistigen Eigenschaften entsprechend, sind wir berufen, eine Philosophie der Tragödie aufzubauen. Der optimistische Rationalismus europäischen Denkens ist uns fremd. Böhme liebte die Freiheit so sehr, dass er die wahre Kirche nur dort sah, wo Freiheit ist. Böhme beeinflusste russische mystische Strömungen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, [S. 78] aber man machte ihn sich in naiver Weise und ohne schöpferische Verarbeitung zu eigen. Er wurde ins Russische übersetzt und drang sogar in einfache Volksschichten, in die Volkstheosophie durch, wo man ihn fast als Kirchenvater verehrte. Es ist interessant, dass Alexander Herzen in seinen Briefen über das Studium der Natur mit Begeisterung von Böhme sprach. Später lässt sich Böhmes Einfluss bei Vl. Solov'ev feststellen, aber er ist bei ihm von rationalistischer Schematik verdeckt. Vl. Solov'evs Philosophie kann nicht als eine Philosophie der Freiheit und Philosophie der Tragödie anerkannt werden. Im russischen Denken zu Anfang des 20. Jahrhunderts steht der Schreiber dieser Zeilen Böhme am nächsten. Die Hüter der Orthodoxie, die an der Entlarvung von Häresien einen besonderen Geschmack finden, fürchten den Einfluss Böhmes als eines Nichtorthodoxen, als eines Protestanten, Gnostikers und Theosophen. Da aber die ganze westliche Welt nicht orthodox, das ganze Denken Westeuropas kein orthodoxes Denken ist, muss unter diesem Gesichtspunkt jede Berührung mit dem westlichen Denken vermieden und als Ärgernis und Übel bekämpft werden. Das ist reinstes Obskurantentum und die Forderung, zu unserer alten Denkarmut zurückzukehren. Die christliche Welt nährte sich in ihrer schöpferischsten Periode vom antiken heidnischen Denken. Böhme ist jedenfalls mehr Christ gewesen als Platon, der bei uns nach patristischer Tradition sehr geschätzt wird, mehr noch als Kant, den viele orthodoxe Theologen verehren, wie z.B. Metropolit Antonij. (f) Böhme ist sehr schwer verständlich, und es lassen sich aus ihm sehr verschiedenartige und einander entgegengesetzte Schlüsse ziehen. Die Bedeutung Böhmes für die christliche Philosophie und christliche Theosophie sehe ich darin, dass er bemüht war, den machtvollen Einfluss, den das griechische und lateinische Denken auf das christliche Bewusstsein ausübte, durch sein schauendes Denken zu brechen, und dass er sich in das Urmysterium des Lebens versenkte, das vom antiken Denken verdeckt wurde. Die christliche Theologie, [S. 79] und zwar nicht nur die katholische, ist derart mit dem griechischen Denken, mit dem Platonismus, dem Aristotelismus und Stoizismus verwachsen, dass ein Attentat auf die Gewohnheiten dieses Denkens als Attentat auf die christliche Offenbarung erscheint. Waren doch auch die griechischen Kirchenlehrer Schüler der griechischen Philosophie, sie waren Platoniker, und ihr Denken hatte das Gepräge der Beschränktheit des griechischen Rationalismus. Diesem Denken gelang es nicht, das Problem der Persönlichkeit, das Problem der Freiheit, das Problem der schöpferischen Dynamik zu lösen. Böhme ist nicht nur kein Aristoteliker, sondern auch kein Platoniker, und sein Einfluss liegt außerhalb des Kampfes zwischen östlichem Platonismus und westlichem Aristotelismus. Böhme steht nur Heraklit nahe. Ich bin der Ansicht, dass in der christlichen Philosophie nicht nur der Aristotelismus, sondern auch der Platonismus zu überwinden ist, als statische und die Welt zerspaltende Philosophie, die unfähig ist, die Geheimnisse der Freiheit und des Schöpfertums zu begreifen. Böhmes Lehre von der Sophia, der Göttlichen Weisheit, zu der ich in meiner zweiten Studie übergehe, ist kein christlicher Platonismus, ihr Sinn ist, wie die russische Sophiologie sich zu Bewusstsein zu bringen bemüht ist, gänzlich anders. Böhmes Lehre von Ungrund und Freiheit indes ist in Richtung einer Unterscheidung zwischen göttlichem Abgrund und göttlicher Freiheit einerseits und meontischem Abgrund und meontischer Freiheit andererseits zu entfalten. (17) Im letzten unaussprechlichen Geheimnis wird auch dieser Unterschied aufgehoben, aber an der Schwelle dieses Geheimnisses ist diese Unterscheidung noch zu machen.

Anmerkungen von Nikolaj A. Berdjaev

(1) Die Ausgabe, die ich benutze und nach der ich die Zitate anführe, ist: Jakob Böhme's sämmtliche Werke hg. v. K.W.Schiebler, 7 Bde., Leipzig 1831-1847. (g) Von den Büchern über Böhme benutzte ich [Ergänzungen der Angaben durch Heinrich Michael Knechten]: Franz von Baader, Vorlesungen über J.Böhme's Theologumena und Philosopheme, Sämmtliche Werke, hg. v. F.Hoffmann, Bd. 3, Leipzig 1852 [Zweiter Nachdruck: Aalen 1987]; Ders., Vorlesungen und Erläuterungen zu Jacob Böhme's Lehre, hg. v. J.Hamberger, Sämmtliche Werke, Bd. 13, Leipzig 1855 [Zweiter Nachdruck: Aalen 1987]; Moriz Carrière, Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart, Stuttgart 1847 (darin gibt es ein umfangreiches Kapitel über Böhme); Hans Lassen Martensen, Jakob Böhme. Theosophische Studien, Leipzig 1882; Gottlieb Christoph Adolf von Harless, Jakob Böhme und die Alchymisten, Berlin 1870, zweite Auflage Leipzig 1882; Émile Boutroux, Études d'histoire de la philosophie. Le philosophe allemand Jacob Boehme, vierte Auflage Paris 1925; Paul Deussen, Jacob Boehme, dritte Auflage Leipzig 1922; Werner Elert, Die voluntaristische Mystik Jakob Böhmes, Berlin 1913; Heinrich Bornkamm, Luther und Böhme, Bonn 1925; P.Hankammer, Jakob Böhme, Bonn 1924; Jakob Böhme und Görlitz. Ein Bildwerk. Gedenkgabe der Stadt Görlitz zu seinem 300jährigen Todestage, im Namen des Görlitzer Magistrats hg. v. Richard Jecht, Görlitz 1924; Rufus M.Jones, Geistige Reformatoren des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, autorisierte Übers. v. E.C.Werthenau, Berlin 1925, Quäkerverlag (der Autor ist Amerikaner); Rudolf Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens, Berlin 1901 [fünfte Auflage: Dornach 1960]; und die zuletzt erschienene, sehr gründliche Untersuchung über Böhme: Alexandre Koyré, La philosophie de Jacob Boehme, Paris 1929 [dritte Auflage: Paris 1979].

(2) Ich halte es für unrichtig, die alten Gnostiker als christliche Häretiker zu bezeichnen. Aus dem religiösen Synkretismus der hellenistischen Epoche hervorgegangen, entstellten sie nicht so sehr das Christentum durch die heidnische Weisheit des Ostens und Griechenlands, als sie diese Weisheit durch das Christentum bereicherten.

(3) Der J.Böhme nahestehende christliche Theosoph des 18. Jahrhunderts Oetinger sagte von J.Böhme, "Gott habe ihm durch Offenbarung gezeigt, welche diejenige Grundweisheit sei, welche zur hl. Schrift gehört". (Carl August Auberlen, Die Theosophie Fr. Chr. Oetingers nach ihren Grundzügen, Tübingen 1847, S. 113.)

(4) Hierauf weist ganz richtig Bornkamm in seinem Buch "Luther und Böhme" hin, obwohl er die Verwandtschaft Böhmes mit Luther übertreibt.

(5) A.Koyré, La philosophie de Jacob Boehme, Paris 1929, S. 25 u. 30.

(6) Sehr gut ausgedrückt ist dies bei Valentin Weigel, in: Deutsche Frömmigkeit. Stimmen deutscher Gottesfreunde, Jena 1917, 183 [korrigiert und vervollständigt nach dieser Ausgabe. H.M.Knechten].
"Gott ist in sich selber einig und hat keinen Namen. Er heißt gut, und niemand ist gut, denn allein er, Gott. Er wird aber entweder für sich selbst, absolute, betrachtet, ohne alle Kreaturen, wie er in seiner verborgenen Einigkeit ist, oder respectu creaturarum, wie er sich hält und erzeigt in der Offenbarung mit seiner Kreatur. Absolute, allein für sich selbst, ohne alle Kreatur, ist und bleibt Gott personlos, zeitlos, stättelos, wirkungslos, willenlos, affektlos,
und also ist er weder Vater noch Sohn noch heiliger Geist, er ist die Ewigkeit selber ohne Zeit, er schwebt und wohnt in sich selber an jedem Ort, er wirkt nichts, will auch nichts, begehrt auch nichts. Denn was sollte er wirken, begehren oder wollen? Ist er doch mit seiner seligen Ruhe und Ewigkeit das vollkommene All, es ist ihm alles gegenwärtig und nichts zukünftig noch vergangen, darum begehrt er nichts, darum hofft er nichts, er besitzt alle Dinge in sich selbst, und ist keines Dinges bedürftig. Deus potentia quidem semper, sed affectu non semper pater fuit, et antequam genuerat non erat pater, sed omnipotens Deus [Gott war von seiner Potentialität her immer, doch vom Affekt her nicht immer Vater, und bevor er (den Sohn) zeugte, war er nicht Vater, sondern allmächtiger Gott. H.M.K.]
Aber respektive d.i. in, mit und durch die Kreatur wird er persönlich, wirkend, wollend, begehrend, nimmt Affekte an sich, oder läßt sich unserthalben Personen und Affekte zuschreiben. Da wird er zum Vater und wird zum Sohne und ist der Sohn selber, er wird zum hl. Geiste und ist selber der hl. Geist, er will, wirkt und schafft alle Dinge
und ist alle Dinge, er ist aller Wesen Wesen, aller Lebendigen Leben, aller Lichter Licht, aller Weisen Weisheit, aller Vermögenden Vermögen."

(7) Ein Nachfolger Böhmes, der Engländer John Pordage [1607-1681], spricht vom "Auge des Ungrundes aus der Ewigkeit". Vgl. seine Theologia Mystica, London 1683. [Siehe auch: John Pordage, Sophia, Amsterdam 1699].

(8) Das Nichts im Sinne eines μη ον (me on), nicht eines ουκ ον (ouk on).

(9) Elemente des Voluntarismus finden sich auch bei Duns Scotus, aber sie sind ganz anderer Art als bei Böhme.

(10) In seiner letzten Periode, der Periode der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung, verdankt Schelling seine grundlegenden Ideen Böhme, aber er war sehr ungerecht gegen ihn und fällte über ihn Urteile, zu denen er nicht berechtigt war.
[Die folgenden Zitate, die innerhalb des russischen Textes fehlerhaft und unvollständig wiedergegeben sind, wurden berichtigt und ergänzt nach: Schellings Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hg. v. M.Schröter, 6. Ergänzungsband: Philosophie der Offenbarung. Erstes und Zweites Buch. 1858, München 1954, 121.123-126. H.M.Kn.].
"Was dem Theosophismus zu Grunde liegt, wo er immer zu einer wenigstens materiell wissenschaftlichen oder speculativen Bedeutung
gelangt – was namentlich dem Theosophismus Jakob Böhmes zu Grunde liegt, ist das an sich anerkennenswerthe Bestreben, das Hervorgehen der Dinge aus Gott als einen wirklichen Hergang zu begreifen. Dieß weiß nun aber Jakob Böhme nicht anders zu bewerkstelligen, als indem er die Gottheit selbst in eine Art von Naturproceß verwickelt. Das Eigenthümliche der positiven Philosophie besteht aber gerade darin, daß sie allen Proceß in diesem Sinne verwirft, in welchem nämlich Gott das nicht bloß logische, sondern wirkliche Resultat eines Processes wäre. Positive Philosophie ist insofern vielmehr in direktem Gegensatz mit allem und jedem theosophischen Bestreben." (S. 121).
"J.Böhme ist wirklich eine theogonische Natur, aber eben dieß hinderte ihn, sich zur
freien Weltschöpfung, und eben damit auch zur Freiheit der positiven Philosophie zu erheben. J.Böhme spricht bekanntlich viel von einem Rad der Natur oder der Geburt, einer seiner tiefsten Apperceptionen, wodurch er den Dualismus der Kräfte in der mit sich selbst ringenden, sich selbst gebären wollenden aber nicht könnenden Natur ausdrückt. Aber eben er selbst ist eigentlich dieses Rad, er selbst diese Wissenschaft gebären wollende, aber nicht könnende Natur." (S. 123).
"Diese Rotation seines Geistes zeigt sich äußerlich auch dadurch, daß J.Böhme in jeder seiner Schriften wieder von vorn anfängt, die oft genug erklärten Anfänge immer wieder exponiert, ohne je weiter oder von der Stelle zu kommen. In diesen Anfängen ist er immer bewundernswürdig, ein wahres Schauspiel der mit sich selbst ringenden, nach Freiheit und Besonnenheit verlangenden Natur, die aber, unfähig, in wirkliche Bewegung überzugehen, immer auf demselben Punkt rotatorisch sich um sich selbst bewegt. Sowie J.Böhme über die Anfänge der Natur hinaus und ins
Concrete geht, kann man ihm nicht mehr folgen; hier verliert sich alle Spur, und es wird stets ein vergebliches Bemühen bleiben, ihn aus dem verworrenen Concept seiner Anschauungen ins Reine zu schreiben, wenn man auch nacheinander Kantsche, Fichtesche, naturphilosophische, zuletzt sogar Hegelsche Begriffe dazu anwendet." (S. 124).
"Dem Rationalismus kann nichts durch eine That, z.B. durch freie Schöpfung, entstehen, er kennt bloß
wesentliche Verhältnisse. Alles folgt ihm bloß modo aeterno, ewiger, d.h. bloß logischer Weise, durch immanente Bewegung; denn das ist nur ein verfälschter Rationalismus, der z.B. die Entstehung der Welt durch eine freie Entäußerung des absoluten Geistes erklären, der überhaupt thätliche Schöpfung behaupten will. Der falsche Rationalismus nähert sich eben darum dem Theosophismus, der nicht weniger als jener im bloß substantiellen Wissen gefangen ist; der Theosophismus will es wohl überwinden, aber es gelingt ihm nicht, wie am deutlichsten an J.Böhme zu sehen. Wohl kaum hat je ein anderer Geist in der Glut dieses bloß substantiellen Wissens so ausgehalten wie J.Böhme; offenbar ist ihm Gott die unmittelbare Substanz der Welt; ein freies Verhältniß Gottes zu der Welt, eine freie Schöpfung will er zwar, aber er kann sie nicht herausbringen. Obgleich er sich Theosophie nennt, also Anspruch macht, Wissenschaft des Göttlichen zu seyn, ist der Inhalt, zu dem der Theosophismus es bringt doch nur die substantielle Bewegung, und er stellt Gott nur in substantieller Bewegung dar. Der Theosophismus ist seiner Natur nach nicht minder ungeschichtlich als der Rationalismus. Aber der Gott einer wahrhaft geschichtlichen und positiven Philosophie bewegt sich nicht, er handelt. Die substantielle Bewegung, in welcher der Rationalismus befangen ist, geht von einem negativen Prius, d.h. von einem nichtseyenden aus, das sich erst ins Seyn zu bewegen hat; aber die geschichtliche Philosophie geht von einem positiven, d.h. von dem seyenden Prius aus, das sich nicht erst ins Seyn zu bewegen hat, also nur mit vollkommener Freiheit, ohne irgendwie durch sich selbst dazu genöthigt zu seyn, ein Seyn setzt, und zwar nicht sein eignes unmittelbar, sondern ein von seinem Seyn verschiedenes Seyn, in welchem jenes vielmehr negirt oder suspendirt als gesetzt, also jedenfalls nur mittelbar gesetzt ist. Es geziemt Gott, gleichgültig gegen sein eignes Seyn zu seyn, nicht geziemt ihm aber, sich um sein eignes Seyn zu bemühen, sich ein Seyn zu geben, sich in ein Seyn zu gebären, wie J.Böhme dieß ausdrückt, der als Inhalt der höchsten Wissenschaft, d.h. der Theosophie, eben die Geburt des göttlichen Wesens, die göttliche Geburt ausspricht, also eine eigentliche Theogonie. Demgemäß war es wohl begründet, wenn wir das Phänomen des Theosophismus (denn ein Phänomen ist er auf jeden Fall, besonders in J.Böhme) als ein Zurückfallen in den der Wissenschaft vorausgegangenen Proceß erklärten, als Versuch, sich in den vorwissenschaftlichen theogonischen Proceß zurückzuversetzen. Daß nun freilich die positive Philosophie nicht Theosophismus seyn könne, dieß liegt schon darin, daß sie eben als Philosophie und als Wissenschaft bestimmt worden; indeß jener sich selbst nicht Philosophie nennen und auf Wissenschaft verzichtend aus unmittelbarem Schauen reden will." (S. 124-126).
Man könnte Schelling selber viel mehr als Böhme der Neigung zu Naturalismus und Rationalismus bezichtigen. Schellings Intuitionen, die hauptsächlich philosophischen Charakter trugen, waren weniger ursprünglich als die Intuitionen Böhmes. Aber Schellings Bemerkung, dass der Theosophismus unhistorisch und für das Verständnis der Geschichte ungünstig sei, trifft zu.

(11) Vgl. Franz von Baaders Sämmtliche Werke, Bd. 13, Vorlesungen und Erläuterungen zu Jakob Böhmes Lehre, hg. v. J.Hamberger, Leipzig 1855 [Zweiter Nachdruck: Aalen 1987], S. 65.

(12) Dies hebt A.Koyré, La philosophie de Jacob Boehme, Paris 1929, 158, sehr hervor.

(13) Dies legt Koyré in seinem Buch, S. 395f, gut dar.

(14) Vgl. Charles Secrétan, La philosophie de la liberté, 2 Bde., Paris 1849.

(15) Die vortreffliche Geschichte des deutschen Idealismus: Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde., Tübingen 1921/1924 [zweite Auflage in einem Bd. 1961], weist neben Eckehart und Luther auch auf Böhme als Quelle der deutschen Philosophie hin.

(16) Vgl. das kürzlich erschienene, in seinem Material sehr interessante zweibändige Werk von Auguste Viatte, Les sources occultes du Romantisme. Illuminisme, théosophie, 1770-1820, Paris 1928 [Nachdruck: Paris 1979], worin überall der ungeheure Einfluss Böhmes festgestellt wird.

(17) Die moderne Psychologie und Psychopathologie decken wissenschaftlich den Ungrund in der menschlichen Seele auf und nennen ihn das Unbewusste. Aber sie machen keinen genügenden Unterschied zwischen dem Unterbewussten und dem Überbewussten, zwischen dem unteren und dem oberen Abgrund. Vgl. die Zusammenfassung in: Georges Dwelshauvers, L'inconcient, Paris 1925.
Mit dem Ungrund hängt auch der archaische Mensch zusammen. In dieser Hinsicht ist Bachofen besonders wichtig. (h)

Anmerkungen von Heinrich Michael Knechten

(a) Russisches Original: Из этюдов о Яковe Беме. Этюд I. Учение об Ungrund'е и свободе, Путь № 20, 1930, 47-79 (Klepinina, Bibliographie, Nr. 349).

Übersetzt von Heinrich Michael Knechten. Hierfür wurde die Übertragung von Hans Ruoff, Jakob Böhmes Lehre von Ungrund und Freiheit, in: Blätter für Deutsche Philosophie 6 (1932/1933), 315-336 (Klepinina, Bibliographie, Paris 1978, Nr. 349a), vervollständigt und korrigiert.
Französische Übersetzung in: Jacob Boehme, Mysterium magnum, 2 Bde., Paris 1946, 5-28 (L'«Ungrund» et la liberté; Klepinina, Bibliographie, Nr. 47,1)

(b) Angelus Silesius (Johann Scheffler), Sämtliche poetische Werke, hg. v. H.L.Held, Bd. 2: Jugend- und Gelegenheitsgedichte, dritte Auflage München 1949 (Nachdruck: Wiesbaden 2002), 27 ("Unter einem Bildnis Jakob Böhmes").
Siehe auch: Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe, hg. v. L.Gnädinger, Stuttgart 1984, bibliographisch ergänzte Ausgabe 2000, Erstes Buch, Nr. 80, 39 ("Ein jedes in dem seinigen"):
"Der Vogel in der Lufft / der Stein ruht auff dem Land /
Jm Wasser lebt der Fisch / mein Geist in GOttes Hand."
Sowie: Cherubinischer Wandersmann, hg. v. L.Gnädinger, Stuttgart 1984, Vierdtes Buch, Nr. 32, 156 ("Eins jeden Element"):
"Jm Wasser lebt der Fisch / die
Pflantzen in der Erden /
Der Vogel in der Lufft / die Sonn im Firmament:
Der Salamander muß im Feur erhalten werden:
Jm Hertzen JESU ich / als meinem Element."

(c) Das Denken Eckeharts wird von den Dominikanern Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg (um 1240 - um 1318/1320) angeregt. Es stützt sich auf Augustinus, Dionysios Areopagita sowie auf jüdische und arabische Philosophie und Theologie.

(d) Ivan Karamazov fragt, ob die höhere Harmonie, die Erkenntnis von Gut und Böse, das Glück der Menschheit die Tränen eines einzigen Kindes wert sind. Vgl. F.M.Dostoevskij, Brat'ja Karamazovy, 5. Buch, 4. Kapitel (Bunt – Die Auflehnung).

(e) Wörtlich: er wirkt wie ein innerliches Dazutrinken (vnutrennja pripivka). H.Ruoff übersetzt: "er wirkt wie ein Serum". Fr. Stephen Janos übersetzt: "acting moreso like an inner engrafting".

(f) Antonij (Chrapovickij), Metropolit von Kiev und Galič (1863-1936), Ersthierarch der Russischen Orthodoxen Auslandskirche. Berdjaev denkt vor allem an seine später in der Orthodoxie umstrittene Magisterdissertation: Psychologische Daten zu Gunsten der Willensfreiheit und der Sittlichkeit, St. Petersburg 1887, zweite Auflage 1888.

(g) Da die Böhme-Zitate innerhalb des russischen Textes außerordentlich fehlerhaft wiedergegeben sind, wird korrigiert nach: Jakob Böhme's sämmtliche Werke hg. v. K.W.Schiebler, Bd. 1, zweite Auflage, Leipzig 1860, Bde. 2-7, erste Auflage, Leipzig 1832-1847.

(h) Johann Jakob Bachofen (1815-1887), Soziologe, Geschichtsphilosoph und Mythenforscher, Gesammelte Werke, 10 Bde., Basel 1943-1967. Siehe auch Claude Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962.

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