Glaube und Wissen bei A.M.Bucharev

Heinrich Michael Knechten

 

Der russische Schriftsteller F.M.Dostoevskij gestaltet die Romanfigur Alëša in "Die Brüder Karamazov" nach einem russischen Philosophen, der im Westen kaum bekannt ist. Wer ist diese Gestalt?

Aleksandr Matfeevič Búcharev wird 1822 oder 1824 im Dorfe Fёdorov (Gouvernement Tver') als Sohn eines armen Diakons geboren. Von seinem Vater bekommt er folgende Gleichniserzählung mit auf den Lebensweg: "Du stehst am Fenster und siehst einen Menschen, der eine schwere Last trägt. Doch er bricht unter ihr zusammen. Du stürzt hinaus und nimmst seine Last auf deine Schultern als wäre es deine eigene. So liebt Gott uns Arme, die wir Ihn brauchen."

Um eine Lebensentscheidung zu treffen, schlägt Aleksandr den Psalter auf. Sein Blick fällt auf Ps 75,12: "Bringet dem Herrn unserm Gott Gelübde dar." Er spürt innerlichen Frieden und entscheidet sich, Mönch zu werden. Man gibt ihm bei der Mönchsweihe (1847) den Namen Feodor (Theodor). An der Geistlichen Akademie Moskau lehrt er biblische Geschichte und Hermeneutik. 1853 wird er Archimandrit, allerdings 1855 nach Kazan' versetzt, weil dem Metropoliten Filaret (Drozdov) von Moskau und Kolomenskoe sein Interesse an weltlicher Kultur sowie sein "zu selbständiges Denken" missfällt. Auch gilt er als "Mystiker" – dies empfiehlt ihn nicht unbedingt seinen Vorgesetzten. In Kazan' lehrt er Dogmatik und Missionswissenschaft. 1858 wird er nach St. Petersburg gerufen, und zwar als Mitglied des Komitees für Geistliche Zensur.

Feodor veröffentlicht in verschiedenen Zeitschriften Aufsätze, ohne dass dies Kritik hervorgerufen hätte. 1860 fasst er sie in einem Buch unter dem Titel "Die Orthodoxie im Verhältnis zur Gegenwart" zusammen. Daraufhin bezeichnet ihn der gefürchtete Kritiker Viktor Ipat'evič Askočenskij (1820-1879) als "Neuen Arius", als Irrlehrer und Verräter an der Orthodoxen Kirche. Askočenskij genießt das Vertrauen des Zaren Aleksandr II. Es entbehrt nicht der Ironie, dass es Bucharev als Mitglied der Zensurbehörde durchaus möglich gewesen wäre, diese Kritik Askočenskijs gar nicht erst drucken zu lassen. Es ist umstritten, warum er nicht einschritt. Ist es Naivität oder Demut? Jedenfalls begnügt er sich mit einer (wirkungslosen) Gegendarstellung in einer Zeitschrift.

Archimandrit Feodor wird 1862 entlassen. Er entschließt sich nach schwerem inneren Kampf, um Rückkehr in den Laienstand zu bitten, und heiratet 1863. Seine Frau Anna Sergeevna Rodyševskaja steht treu zu ihm und zu seinen Auffassungen. Er stirbt, noch nicht fünfzig Jahre alt, am Großen Donnerstag (2.4.) des Jahres 1871 an Tuberkulose, arm und verlassen.

Bucharev geht es vor allem um das Verhältnis von Glauben und Wissen. Der Katechismus scheint in beiden einen Gegensatz zu sehen: "Das Wissen hat zu seinem Gegenstand das Sichtbare und Ergründbare, der Glaube aber das Unsichtbare und Unergründliche (nepostižimoe)."

In der Gestalt des Starez Johannes (hieraus hat V.S.Solov'ëv wohl Anregung für seine "Kurze Erzählung vom Antichrist" erhalten) erklärt Bucharev, dass es sich hier keineswegs um Gegensätze handelt. Er geht dialektisch vor:

Der Glaube kann sich als eine sehr grundlegende Weise der Erkenntnis zeigen, die sich bis in die Unendlichkeit erstreckt, wie auch umgekehrt sich das Wissen als eine der Weisen zur Aufdeckung der unermeßlichen Geheimnisse des Glaubens zeigen kann.

Jedes Ding, jede Kraft, jedes Gesetz stellen im Bereich der Natur oder unseres Denkens ihrem Wesen und ihrem letzten Grund nach ein für das Wissen allein unerforschbares Geheimnis dar. Jeder Denker oder Diener der Wissenschaft ist frei, auf seine Weise dieses Geheimnis darzulegen, indem er es entweder einfach in die Bedingungen der Materialität, die gleichsam anfanglos ist und sich unendlich verändert, einschließt, wie dies die Materialisten darlegen, oder indem er es in der Identität des Seins und Nichtseins, wie Hegel, oder in der Identität unseres eigenen inneren Denkens und des äußeren Seins wie Schelling einschließt, oder indem er das Wesen an sich in jedem Gegenstande der Außenwelt als geistig anerkennt, wie Kant u.s.w. Aber in jeder dieser Vorstellungen bleibt gleichwohl etwas Geheimnisvolles (tajnstvennost'), das insgesamt unerforschlich und folglich auf Glauben angenommen wird.

Wie das Wissen, das sich in den Grund und das Wesen seiner Gegenstände vertieft, zum Charakter des Glaubens gelangt, und zwar bei richtiger Intention (napravlenie) zum Charakter eines wahren und lichtvollen Glaubens, oder doch zumindest zu einem Glauben an das Unerfahrbare, einem dunklen Glauben, so gelangt auch der rechte und Licht bringende Glaube an Christus, wenn er in die gesamte Macht seines unerforschlichen Gegenstandes eingeht, zur Entdeckung des Charakters des Wissens in sich.

Dies entspricht der Art unserer geistigen Natur. Insofern der menschliche Geist sich um die Wahrheit bemüht, richtet er sich auf den Geist der Wahrheit, den Heiligen Geist aus. Dies gilt auch umgekehrt: Gibt sich der Mensch dem Gottmenschen Christus und in Ihm dem Heiligen Geist hin, ist sein Geist gemäß seinem gottähnlichen Wesen wirksam.

Sieht man Wissen nur als Errungenschaft des menschlichen Verstandes an, wird man sich nicht der Einseitigkeit des Wissens bewußt. Zu umfassendem Wissen kann man nur mit Verstand und Herz gelangen.

Der positivistische Historiker Henry T.Buckle (1821-1862) schließt aus dem Missbrauch der Religion, in deren Namen Menschen gequält und verbrannt wurden, dass das zivilisatorische Prinzip nicht in der Religion, sondern im Wissen besteht. Dabei übersieht er, dass während der Französischen Revolution im Namen der Vernunft Terror ausgeübt wurde.

Das Agens des Wissens ist der Verstand, aber nur durch das Herz kann das Wissen angeeignet und sozusagen in lebendiges Fleisch und Blut unseres geistigen Organismus verwandelt werden. Es gilt, wie der hl. Nil Sorskij († 1508) lehrt, im geistlichen Tun (duchovnoe delanie) den Verstand gleichsam in das Herz einzuführen.

Der Streiter des Geistes und Asket (podvižnik) wirkt durch den lebenspendenden Namen des Herrn Jesus. Dadurch wird in ihm innerlich alles Licht, welches dem Licht der Verklärung auf dem Berge Tabor gleichartig und verbunden ist. Dies ist der Weg des Glaubens.

Soweit ein kurzes Referat der Gedanken des Starez Johannes. Bucharev möchte mit Menschen in ein Gespräch eintreten, die im Glauben "Ammenmärchen" und im Wissen den Fortschritt des menschlichen Geistes sehen und sich daher von Gott abwenden. Daher schreibt er an seinen Schüler Valerian Lavrskij:

Die Wahrheit ist der Herr. Arbeite in Ihm, mit Ihm, für Ihn, am Werke der Wahrheit. Unterwirf Dich keinem fremden Gewissen, sondern urteile selbst, aber vor dem Antlitz des Herrn! Zu oft schließen sich Christen in ihren Glauben wie in eine belagerte Festung ein. Der wahrhaft Gläubige hat jedoch von wissenschaftlicher Forschung nichts zu fürchten. Getrieben durch das aus dem Logos ausstrahlende Licht, das zugleich die Strukturen der Welt und die Tiefen des menschlichen Geistes durchschaut, führt solche Wissenschaft zur Entdeckung der göttlichen Ideen über die Schöpfung, wenn auch in ihren Gesetzen noch der Sünde unterworfenen Zustand.

"Ist Gott arm?", fragt der junge Aleksandr seinen Vater. In seinem Werk gibt der Schriftsteller darauf eine Antwort: Die lebendige Wahrheit ist Christus selbst in Seiner Gottmenschlichkeit, in Seinem kenotischen Abstieg in unsere dunkle, sündige Welt, um alles Menschliche in das göttliche Reich der Heiligen, lebenspendenden Dreieinigkeit einzuführen.

Die Berufung des Christen in einer ungläubigen Welt ist, das Mysterium der Gottmenschlichkeit praktisch zu bekennen. Er ist dazu berufen, Christus zu folgen in Seinem kenotischen Niedersteigen in unsere dunkle Welt, deren Schuld und Leid mitzutragen, um dem unbewußten Streben der Menschen nach Gott nahe zu sein.

 

Literaturhinweise

 

Der "zeitgenössische Arianismus" bei A.M.Bucharev

Der Mensch vermag sich nicht selbst zu offenbaren, sondern er wird in der Inkarnation, der Menschwerdung Christi, offenbar. Die „seismographische“ Struktur der Inkarnationstheologie äußert sich dabei darin, dass das berühmte chalzedonensische Gedankenmodell (451) auf Veränderungen und Unausgewogenheiten innerhalb seiner Aufbauelemente überaus empfindlich reagiert. Oder anders ausgedrückt: Ein Zuviel oder Zuwenig an göttlicher bzw. menschlicher Wirklichkeit funktionierte den Gottmenschen Christus sofort zu einer menschlichen bzw. göttlichen Unwirklichkeit um und machte damit seine Heilsmittlerschaft illusorisch.

Bucharevs kühner Plan eines „zeitgenössischen Arianismus“ bedeutete nicht etwa die Ablösung der orthodoxen Christologie durch diese altkirchliche Ketzerei, sondern das zeitlich begrenzte „Einfrieren“ des Dogmas von der Göttlichkeit Christi zugunsten seiner Menschlichkeit.

Im Sinne eines so verstandenen Arianismus wendet sich Bucharev gegen die „Verzagtheit gegenüber dem Göttlichen“, polemisiert gegen die theologische Auffassung, nach der in Christus „die Kräfte und die kreativen Gedanken nichts anderes seien als Reflexe des Logos Gottes selbst“.

Fast 2000 Jahre hatte die Theologie alle Kräfte des Verstandes darauf verwendet, unter immer neuen Aspekten und mit immer anderen Argumenten die göttliche Natur Christi zu beweisen. Nach Bucharev wäre es an der Zeit, mit demselben intellektuellen Aufwand und ohne Zweifel im Kontext seiner Gottheit die ideale Menschlichkeit Christi nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch praktisch nachzuweisen und sozial fruchtbar zu machen.

Die Befreiung der wahren und wirklichen Menschheit Christi als der einen seiner wesenseigenen Proprietäten von der „Angst“ vor der anderen, machtvoll-düsteren seiner Göttlichkeit begründet nicht nur die „gnadenhafte Freiheit und die geistliche Selbständigkeit der Gläubigen in Christus“, sondern hebt auch den nur scheinbaren Gegensatz zwischen Orthodoxie und Kultur auf, begründet die „göttliche Liturgie des Gedankens und des Herzens“. Diese Öffnung der menschlichen Wirklichkeit Christi (die zugleich ihre Wahrheit demonstriert und damit Wirklichkeit und Wahrheit des Menschen möglich macht) erfasst in einem breiten Strom nicht nur die geistigen Höhen von Literatur und Kunst, sondern auch die zwischenmenschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fragen in ihrer unerbittlichen Wirklichkeit. Wo anders als hier in diesen Bereichen zeigt sich, ob die Kirche und ob die Christen jenen aus der Menschheit Christi allein ableitbaren Organismus bilden, durch den die Welt Heil erwarten darf.

(Vgl. Konrad Onasch, Die alternative Orthodoxie, Paderborn u.a. 1993, 94-105.)

 

Inkarnation und Hadesfahrt

Grundlegend für das Denken Bucharevs sind Inkarnation, Tod und Hadesfahrt Jesu Christi: Er möchte die Menschen nicht durch Appelle oder Moralpredigten retten, sondern, indem Er ihre Natur annimmt. Er stirbt (Bucharev schreibt drastisch: "Er wird zunichte") für das Heil der Menschen. Seine Hadesfahrt, das Hinabsteigen in das Reich des Todes, geschieht, um die Menschen in Sein Reich des Lichtes hinaufzuführen.

Bucharev spricht davon, dass die Russische Orthodoxie ein verborgener Schatz sei. Es gelte, den toten Buchstaben vom Geist her zu lesen. Es geht um Gemeinschaft mit dem menschgewordenen Wort Gottes. Die Gnade möchte den Menschen in die inneren Geheimnisse der Gottheit einführen, vor allem in das Geheimnis der Erlösung der sündigen Menschheit.

(vgl. Paul Valliere, Modern Russian Theology. Bukharev Soloviev Bulgakov. Orthodox Theology in a New Key, Edinburgh u. Grand Rapids 2000, 17-106.)

 

Der Sinn der Inkarnation

Die Christenheit stirbt, wenn sie vergisst, dass Gott Mensch geworden ist, damit der Mensch Gott werde.

Das Christentum geht zugrunde, wenn es aus den Augen verliert, dass das Wort Mensch wurde, damit der Mensch Träger des Geistes (pneumatophóros) werde.

Vgl. Elisabeth Behr-Sigel († 26.11.2005 in Paris im Alter von 97 Jahren), Alexander Bucharew. Ein orthodoxer Theologe im Dialog mit der modernen Welt, in: Orthodoxie Heute 14 (1977), Nr. 59, S. 11-13.

 

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