Gebet und inneres Leben in der orthodoxen Tradition, Bobrinskoy 2

 

[S. 217] des Schülers drangen, vermittelte ihm dieser doch die Erfahrung des Heiligen Geistes, indem er sagte: „Mein Freund, wir sind alle beide, du und ich, im Heiligen Geist. Warum schaust du mich nicht an?" "Vater, ich kann euch nicht anblicken, denn euer Antlitz ist heller als die Sonne geworden, meine Augen werden davon geblendet." – "Danke Gott für seine unaussprechliche Barmherzigkeit. Du hast bemerken können, dass ich mich nicht mal bekreuzigt habe, jedoch in meinem Herzen habe ich den Herrn mit diesen Worten gebeten: Herr, mache ihn würdig, deutlich und mit den Augen des Fleisches zu sehen, lass herabsteigen deinen Geist, dessen du Deine Diener würdig machst, wenn du dich herablässt, in deinem Ruhm zu erscheinen".

Die Fortsetzung dieser recht außergewöhnlichen Unterhaltung zeigt uns, wie der ganze Mensch an dieser Erkenntnis des Heiligen Geistes teilhat. Diese Tatsache erklärt uns auch, mit welchem Ernst wir das Wort des Glaubensbekenntnisses aufzunehmen haben: Christus ist nicht nur Geist geworden, sondern "er ist Fleisch geworden", um den ganzen Menschen zu retten.

Das Gebet ist also nur durch die Wiederherstellung der wahren Hierarchie der Verfassung der menschlichen Natur möglich, durch die Unterwerfung des Körpers unter die Seele und dieser unter den Geist, durch die Aufgabe des Ichs, die "Armut im Geiste", d. h. die Armut als die geistliche Selbstverleugnung. Der Zustand des Gebetes und der Gemeinschaft mit Gott fordert die Absage an alle zeitlichen und untergeordneten Werte und ihre Unterwerfung unter die einzige bedeutende Realität, die in dem Kommen des Gottesreiches besteht.

2. Die Theologie der Sünde und des Sündenfalles

Wegen der Sünde des ersten Menschen sind der Tod und die Sünde erblich geworden (Röm. 5, 12). Die Wirklichkeit des Bösen legt sich auf den inneren Menschen und unterstellt ihn ihrer destruktiven Macht.

Das Christentum zur Zeit der Renaissance und in der Neuzeit zeigte zu sehr die Neigung, das Böse auf eine reine Abstraktion des Geistes zurückzuführen, deren Wirklichkeit aber vor der begrifflichen Analyse verblasste; man fasste es auch entweder als ein Nichtsein oder, noch genauer, als eine Minderung an Gutsein auf. Die alte christliche Vorstellung des Bösen verstand darunter eine Person, sah in ihm ein Antlitz, das des Bösen. Das "Böse", so schreibt Pater Bouyer, ist nicht eine schlechte Sache an sich (Manichäismus) und noch weniger eine Idee des Bösen (griechische Philosophen), es ist vielmehr eine Freiheit, die sich selbst verdorben hat"3)

Das Leben und die Lehre Christi sagen über die Person Satans, seine böse Gewalt, seinen Hass gegen Gott und die Menschen, besonders vieles aus. Während das Alte Testament nur die Tiefe der höllischen Abgründe erahnt (Hiob), hat das Neue Testament die Macht Satans "des Fürsten der Welt" entdeckt, der seinen wütenden Ansturm enthüllt, und die Tiefe seines Hasses weist auch schon auf seine Niederlage hin.4) Es gibt also im Neuen Testament eine "Offenbarung" des Teufels, der satanischen Mächte. Gerade auf dem Hintergrunde dieser Enthüllung wird die vom Heiland [S. 218] vollbrachte Erlösung erst in ihrer Bedeutung als Sieg, als Heil und Befreiung wirklich offenbar.

Bei Paulus z. B. sind die Welt und die Menschen tief in die Sklaverei versunken (Röm. 6,; 15, 21, Gal. 4, 3, 8, 9, 24-25). Angesichts der königlichen Herrschaft Christi spricht aber der Apostel Paulus von einer geheimnisvollen "Macht der Finsternis" (Kol. 1,13-14) oder von "Fürstentümern, Mächten und Herrschern dieser Welt in der Finsternis" (Eph. 6,12).

Aber die satanischen Mächte enthüllen ihr Antlitz nicht freiwillig. Indem sie ganz und gar im Schatten bleiben, ist ihre Gegenwart nicht bemerkbar. Sie tritt durch verschiedenartige Hilfskräfte in Erscheinung, die den Menschen zu unterjochen trachten und ihn von Gott zu entfernen suchen. Diese feindlichen Mächte, hinter deren Wirken sich der Schatten Satans abzeichnet, sind in allererster Linie die Sünde und der Tod, sodann das Fleisch und die Welt.

Die Macht des Satans ist zuerst der Tod und das Verderben (Hebr. 2, 7, 14). Durch das Verderben und den Tod sind die ganze Menschheit und auch die Schöpfung unter der Herrschaft Satans und immerfort der Sünde geneigt. Der Mensch stirbt nicht deshalb, weil er der Sünde Adams schuldig ist; im Gegenteil, er begeht die Sünde, weil er durch den Tod, der in die Welt gekommen ist (Röm. 5, 12) und der ihn beherrscht, der satanischen Gefangenschaft unterworfen ist.

In der Tat, bei dem Apostel Paulus und den Kirchenvätern sind die Knechtschaft der Sünde, die Herrschaft des Todes, die Gewalt des Starken und andere ähnliche Ausdrücke von vornherein untrennbar; sie bezeichnen eine totale, unteilbare Lebenshaltung von innerem Verfall und Knechtschaft, der das ganze Menschengeschlecht unterliegt. Die Sünde selbst ist also nicht eine Abstraktion oder nur eine besondere Handlung des einzelnen Menschen; sie ist vor allem ein Geknechtetsein der menschlichen Natur unter die Herrschaft Satans. Es gibt außerhalb der persönlichen Sünden einen ontologischen Zustand der Sünde, der Knechtschaft und des Todes, dem wir schon vom Augenblick unserer Geburt an unterworfen sind. Aus diesem sündigen Zustande gehen alle unsere persönlichen Sünden hervor. Es ist also wichtig, diesen allgemeinen Sündenzustand in der Heiligen Schrift klar zu erkennen, um zu verstehen, dass die Buße sich nicht nur auf diese oder jene schlechte Handlung bezieht. Sie ist keine "Buchhalterei der Sünde". Sie ist vielmehr ein Geist der Reue, ein Sichbewusstwerden des Zustandes der Sünde, des inneren Verfalls und der Entfernung von Gott, welche die Reue und Gottes Verzeihung allein heilen können.

Der Mensch ist grundsätzlich von der Sünde durch das am Kreuz vollbrachte Erlösungswerk Christi befreit: "Unser Herr hat gekämpft und gesiegt", sagt Irenäus von Lyon. Er hat den Starken gebunden, die Schwachen befreit und das Heil durch das Werk seiner Hände verschafft, indem er die Sünde zerstörte"5). In dieser Gesamtperspektive der Sünde und des Todes als einer Unterwerfung unter den Satan können wir noch mehr das Gefühl der Freude über die Auferstehung erkennen, die die Grunderfahrung der frühen Kirche darstellt, diese überwältigende Freude des Sieges [S. 219] Christi, über die Mächte des Bösen, des Lichtes über die Finsternis, die der Gottesdienst der Kirche im besonderen in der Osternacht erfüllt.

Neben der unversöhnlichen Feindschaft der Sünde und des Todes, die selbst Feinde Gottes sind, ist der Mensch der Wirkung der gechaffenen Elemente ausgeliefert, die an sich gut sind, aber auch dem Reiche des Dämons, also dem Fleische der Welt dienen. Diese Begriffe sind in der Hl. Schrift zweideutig. Auf der einen Seite verurteilt Jesus das Fleisch, oder er warnt vor ihm: "Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach" Matth. 26, 41, vgl. Joh. 1, 13; 8,5); "wandelt nicht nach dem Fleisch", sagt Paulus (Röm. 8, 4), das Verlangen des Fleisches ist der Tod' (Röm 8, 5; 1. Kor. 1, 26; 10, 18; Gal. 4, 29; Eph. 2, 3 usw.). Selbst die "Welt" oder die gegenwärtige Weltzeit ist das Instrument der Mächte der Finsternis. "Die Welt hat ihn nicht begriffen" (Joh. 1, 10). Das Lamm Gottes trägt die Sünde der Welt (Joh. 1, 29). Jetzt wird die Welt gerichtet (Joh. 12,31). Wie das Gesetz des Fleisches dem des Geistes zuwider ist, so ist die Welt dem Reiche Gottes, der kommenden Welt, entgegengesetzt (Gal. 1, 4). Aber wenn das Fleisch und die Welt Instrumente Satans und seiner Mächte sind, so sind sie doch keineswegs selbst schlecht. "Also hat Gott die Welt geliebt . . ." (Joh. 3, 16). "Ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern damit die Welt gerettet werde" (Joh. 3, 17). Christus ist das Licht der Welt (Joh 8, 13). Das Herabsteigen des Wortes Gottes führt bis zur Fleischwerdung, bis zur Annahme des "menschlichen Fleisches", um es zu retten und zu verklären.

Diese biblischen Aussagen über die Natur der Sünde und des Bösen können uns dazu verhelfen, das ganze Problem des inneren Lebens, der persönlichen Heiligung und des Gebetes im eigentlichen Sinne in seinen wahren Zusammenhang zu stellen.

3. Die Askese im christlichen Leben

Das Ziel der Askese ist es, den Primat des Geistlichen wieder über das "natürliche" Leben des Menschen herzustellen. Die Sünde und die Verderbnis, so lehrt die orthodoxe Kirdie, können doch niemals gänzlich das Bild Gottes im Menschen, solange er noch am Leben ist, zerstören und infolgedessen ihm auch nicht eine gewisse natürliche Erkenntnis und ein natürliches, ihm freilich oft unbewusstes oder von ihm nicht eingestandenes Verlangen nach Gott, nach dem Guten, nach der Wahrheit, nach dem Schönen nehmen.

Aber in dem Maße, als der Mensch realisiert, dass diese Erkenntnis und diese Gemeinschaft nur in Christus und durch die Kirche Wirklichkeit sind, nimmt von diesem Augenblick an die Askese eine immer größere Bedeutung in der innerlichen Welt des Menschen ein. Askese bedeutet wörtlich "Übung", "Gymnastik". Wir finden sie nur einmal im Neuen Testament erwähnt, und zwar bei Paulus, der, auf dem Prätorium des Herodes in Cäsarea festgehalten, sich an den römischen Statthalter Felix mit folgenden Worten wendet: "Auch ich übe mich, alle Zeit ein untadeliges Gewissen vor Gott und vor den Menschen zu haben" (Apg 24, 16). Dieser Ausdruck erinnert uns an den Befehl, zu wachen und unaufhörlich zu beten, den uns unser Herr selbst gegeben hat (Mt 24, 32. [S. 220] Mk 13, 33-37; Lk 12, 37-40, 21, 36). Die Askese wird in den Evangelien durch die enge Pforte bezeichnet, durch die wir uns "anstrengen" müssen, einzutreten (Lk 13, 24). Schon in den paulinischen Briefen ist diese asketische Theologie besonders entwickelt. "Wachet", so sagt der Apostel den Korinthern, "stehet fest im Glauben, seid männlich, seid stark" (l. Kor. 16, 13; vgl. Kol. 4, 2; Eph. 6,1 8). "Ich laufe, um es zu ergreifen, nachdem ich selbst von Jesus Christus ergriffen bin . . . und vergesse, was dahinten ist, ich gehe geradewegs in die Zukunft, ausgestreckt mit meinem ganzen Wesen und ich laufe dem Ziel entgegen, welches mir die himmlische Berufung Gottes in Christus Jesus vorhält" (Phil. 3, 12-14). "Lasset uns nicht schlafen, sondern wachsam und nüchtern sein" (1. Thess. 5, 6; vgl. 2. Tim. 2, 3-6). "Ich selbst", so sagt er kurz vor seinem Tode, "ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe meinen Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten und hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit (2. Tim. 4, 7-8).

Das innere Leben ist also eine Askese, ein zeitlicher Kampf-, der sich vor allem auf dem innersten Grunde des menschlichen Herzens abspielt. "Diesen geistlichen Kampf", so schreibt Bischof Theophan der Einsiedler, "darf man niemals unterbrechen, sondern muss man unaufhörlich wieder aufnehmen. Wenn du gefallen bist, so verzweifle nicht, erhebe dich alsbald wieder mit dem festen Vorsatz, nicht wieder zu fallen und setze den Kampf fort".

Wenn in der christlichen Überlieferung die Mönche sich in die Einsamkeit der Wüste zurückgezogen haben, so geschah dieses nicht aus Verachtung der Welt, sondern in dem Bewusstsein, dass dieser Rückzug in die Wüste ein Verlangen nach dem Kampfe war, der dort geführt werden sollte, wo er am härtesten ist, an den Orten, die als die bevorzugten Wohnstätten Satans und der Dämonen angesehen wurde. Die Einsamkeit überhaupt, wie wir schon gesehen haben, ist eine innere Bedingung für den geistlichen Kampf. Jeder Christ muss sie suchen, um von dort seinen Aufstieg zu Gott zu nehmen. Folglich ist das Mönchtum nicht nur eine außergewöhnliche Art des Lebens und des inneren Kampfes; es hat vielmehr einen für alle Christen normativen Wert, denn es bemüht sich, nichts anderes als das absolute Vollkommenheitsideal des Evangeliums, das allen Christen gilt, einzulösen, das unaufhörliche Gebet, das Wachen, die innere Zucht und die Armut.

Dieser geistliche Aufstieg beginnt mit der Buße, der Bekehrung zu Gott, mit dem Bewusstsein, dass man ein Sünder ist. Diese Erkenntnis der Sünden ist schon ein Gottesgeschenk: "Ja, mein Gott und Köng", so heißt es in einem Gebet der Großen Fastenzeit, lass mich meine eigenen Sünden erkennen und meinen Bruder nicht verurteilen"."Glücklich ist", so sagt Joh. Klimakos, "der, der einen Engel gesehen hat; hundertmal glücklicher ist der, der sich selbst gesehen hat". Der hl. Antonius sagte im Augenblick seines Sterbens, schon ganz durch das göttliche Licht verklärt: "Ich habe noch nicht einmal mit der Buße begonnen."

Die Erkenntnis der Sünden bedeutet nicht einfach die quantitative Erinnerung an seine Werke. Es handelt sich dabei nicht um die krankhafte Einkehr eines skrupulösen Gewissens, das [S. 221] unter dem Gewicht und der Fülle seiner Unvollkommenheiten zusammengebrochen ist. Die Erkenntnis seiner Sünde ist vor allem ein umfassendes Bewusstsein vom Zustand der Sünde, von der krankhaften und verderbten Verfassung der Seele, von der Schwäche und der geistlichen Unordnung infolge der Entfernung von Gott. In diesem Zusammeng bedeutet die Reue den Abscheu über diesen Zustand der Knechtschaft und das aufrichtige und entschiedene Verlangen, in der göttlichen Verzeihung die Befreiung und das neue Leben zu erfahren. Die Buße und die Beichte der Sünden nehmen eine hervorragende Stelle in den orthodoxen Gebeten ein. "Gott reinige mich Sünder", so wiederholen wir das Gebet des Zöllners bei jeder Gelegenheit.

Aber diese Buße beschränkt sich nicht auf das Bekennen und die bloßen Worte der orthodoxen Gebete. Die Kirche schlägt uns zahlreiche Mittel vor, um die Reue auszudrücken und die Verzeihung zu erflehen, um das Fleisch und die Seele vom Schmutz der Leidenschaften, die sich tief in das Herz des Menschen gegraben haben, zu reinigen.

Das Fasten, d. h. die Tötung des Fleisches durch den ganzen oder teilweisen Entzug der Nahrung zu gewissen Zeiten des Jahres, ist nur eines dieser Mittel. Man unterscheidet im allgemeinen zwischen dem eucharistischen Fasten, das die vollkommene Enthaltsamkeit von Speisen von Mitternacht an vor der eucharistischen Kommunion verlangt (mit Ausnahme der Kinder und der Kranken) und dem kirchlichen Fasten, das einen Entzug von gewissen Arten von Speisen während der Fasttage (Mittwoch, Freitag sowie andere, durch den liturgischen Kalender festgesetzte Fasttage) und während der besonderen Fastenzeiten (Vorweihnachtszeit, Osterzeit, Fastenzeit der heiligen Apostel nach dem Pfingstfest, Fastenzeit vor dem Fest des Entschlafens der Gottesmutter) darstellt.

Das Fasten findet seine Begründung in einer doppelten Tatsache, einmal darin, dass jede seelische Aktivität eine leibliche Rückwirkung hat, zum anderen in der geistleiblichen Einheit, die der Mensch ist. Die körperliche Anstrengung, Hunger, Müdigkeit, Eindrücke und Bestrebungen, die im Namen Gottes angenommen und gewollt sind, haben eine tiefe Rückwirkung auf das Niveau des inneren Lebens. Die Sünde ist weder körperlicher noch materieller, sondern geistlicher Art. So ist auch die körperliche Askese nicht eine Züchtigung, welche die Seele dem Körper zufügt. Im Gegenteil, der Christ bemüht sich, durch körperliche Mittel die Seele zu erreichen, durch ein Aufsichnehmen des Leidens und durch die Anstrengung, zu einer inneren Reinigung zu gelangen, zu einem Einswerden seiner geistlichen Kräfte, zu ihrer Konzentration für ein vollkommeneres, reineres Beten und für den Umgang mit Gott zu kommen. Das Fasten stellt einen wichtigen Teil der geistlichen Tradition der Kirche dar. Es macht also die Aufgabe einer ganzen Erziehung aus, vor allem in der Familie. In den orthodoxen Familien gewöhnen sich die Kinder unter erleichterten Formen an das Fasten oder lernen es doch zum mindesten durch das selbstverständliche Beispiel ihrer Eltern lieben. Es gibt eine ganze Theologie des Fastens, die das westliche Christentum allmählich wiederentdeckt, und zwar in dem Maße, als es sich einer biblischen und patristischen Erneuerung öffnet. Aber wenn die Väter die Praxis des Fastens vorschreiben, so legen sie allen

 

Fortsetzung