Das Sakrament der Heilung

Verherrlicht Gott mit Euerem Leibe

Bischof Kallistos (Ware)*

aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen in [...] versehen von Klaus Bambauer

 

Im April 1999 am Ende der Hellen Woche leitete Bischof Kallistos von Diokleia eine Retraite für Mitglieder der Orthodox Peace Fellowship. Unser Gastgeber war die Gemeinde von St. Etienne und St. Germain in dem Dorf Vézelay, Frankreich. Dies ist der erste von sechs Vorträgen. Bischof Kallistos ist Spalding-Dozent für Östliche Orthodoxe Studien an der Universität Oxford und leitet die griechische Gemeinde in der gleichen Stadt. Er schrieb u.a. Die Orthodoxe Kirche und Der Orthodoxe Weg.1)

 

Zunächst muss ich mich für mein Zuspätkommen entschuldigen. Ich versäumte meinen Zug am Gare de Lyon, und dann stieg ich in den falschen Zug, einen, der nicht in La Roche-Migennes anhalten wollte, sondern nach Dijon fuhr. Sie hielten extra für mich in La Roche-Migennes an. Das ist das erste Mal, dass ich diese Erfahrung machte. Ich denke sehr hoch von der französischen Eisenbahn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die englische Eisenbahn einen unfahrplanmäßigen Halt eingelegt hätte.

Unser Thema in unserer Zusammenkunft hier in Vézelay ist das Sakrament der Heilung. Bitte denken Sie an das Wort Sakrament und was es bedeutet. Der Hl. Nicholas Cabasilas sagt: "Es sind die Sakramente, die unser Leben in Christus begründen". Lasst uns an diesem Wochenende unser Denken in den Sakramenten verwurzeln. Der Hl. Nicholas Cabasilas nannte die Sakramente auch "Fenster in diese dunkle Welt".

Ja, es ist eine dunkle Welt. Aber obwohl wir in einer dunklen Welt leben, gibt es Fenster in ihr. Wir wollen uns an den griechischen Begriff für Sakrament erinnern – mysterion, Geheimnis. Dies ist eine ganze Reihe von Assoziationen, die das lateinische Wort sacramentum nicht besitzt. Ein Geheimnis, im wahren religiösen Sinne, ist nicht einfach ein Rätsel, ein ungeklärtes Problem. Ein Geheimnis ist etwas, das offenbart ist für unser Verstehen, jedoch niemals vollständig offenbart, weil es in die Unendlichkeit Gottes reicht. Das Geheimnis aller Geheimnisse ist die Menschwerdung Christi; deshalb sind alle anderen Sakramente der Kirche darauf gegründet.

Der zweite Begriff in meinem Titel, den wir während dieser Tage in Erinnerung behalten sollten ist Heilung – Sakramente der Heilung. Heilung meint Ganzheit. Ich bin gebrochen und zerteilt. Heilung bedeutet eine Wiederentdeckung von Einheit. Lasst uns alle denken, dass ich der Welt nicht Frieden und Einheit bringe, wenn ich nicht in Frieden und Einheit mit mir selbst bin. "Erwirb den Geist des Friedens", sagt der Hl. Seraphim von Sarov "und Tausende um dich herum werden Rettung finden". Wenn ich nicht den Geist des Friedens in mir habe, wenn ich inwendig geteilt bin, werde ich diese Trennung rund um mich auf andere ausbreiten. Große Trennungen in der Welt zwischen Nationen und Staaten erwachsen aus vielen Trennungen innerhalb des menschlichen Herzens von jedem von uns.

Heute Abend werde ich bei der menschlichen Person beginnen. Wie habe ich meine Einheit als eine Person zu verstehen? Welche Modelle habe ich, wenn ich über die Heilung von mir selbst nachdenke?

Ich möchte mit Ihnen eine patristische Vorstellung teilen, ein wiederkehrendes Muster bei den Vätern, das in den Worten Mikrokosmos und Vermittlung (Bindeglied) zusammengefasst werden kann.2) Menschen sind eine komplexe Einheit. Meine Persönlichkeit ist ein einziges Ganzes, aber ein Ganzes, das viele Aspekte umfasst. Als Menschen stehen wir im Zentrum und auf den Kreuzungslinien der Schöpfung. St. Johannes Chrysostomus denkt von der menschlichen Person als einer Brücke und einem Band (Bindeglied). In einem Sufiwort, zitiert von Pico della Mirandola ist die menschliche Person "das Hochzeitslied der Welt". Jeder von uns ist dann ein kleines Universum, ein Mikrokosmos, jeder von uns ist imago mundi – eine Ikone der Welt. Jeder spiegelt in sich die mannigfaltige Verschiedenheit der geschaffenen Ordnung. Dies war ein sich wiederholendes Thema bei verschiedenen heidnischen Autoren, und es wurde von den frühen Vätern übernommen.

"Verstehe", sagt Origenes, "dass du in dir selbst ein kleines Modell eines zweiten Universums hast. Innerhalb von dir ist die Sonne, dort ist ein Mond, dort sind auch Sterne". Dieses Thema wird in einer bekannten Passage von St. Gregor von Nazianz, dem Theologen entwickelt. In seiner 38. Rede unterscheidet er die beiden Stufen der geschaffenen Ordnung. Auf der einen Seite gibt es die spirituelle oder unsichtbare Ordnung, auf der anderen gibt es die materielle oder physikalische Ordnung. Die Engel gehören nur zu der ersten Ordnung. Sie sind unkörperlich, spirituelle Wesen. In St. Gregors Sicht gehören Tiere zu der zweiten Ordnung – der materiellen und physikalischen. Du, einzigartig in Gottes Schöpfung, existierst auf beiden Stufen zugleich. Anthropos, der Mensch, die menschliche Person allein, hat eine zwiefältige Natur, sowohl materielle und spirituelle [Natur]. St. Gregor fährt fort, von uns selbst als irdisch und dennoch himmlisch zu sprechen, zeitlich und unsterblich, sichtbar und unsichtbar, auf halbem Wege zwischen der Majestät und Niedrigkeit, eine seltsames Wesen, das sowohl Geist als auch Fleisch ist. Indem er wünschte, eine einzige Schöpfung von zwei Stufen der Schöpfung, von sowohl sichtbarer und unsichtbarer Natur zu gestalten, sagt Gregor, formte der schöpferische Logos [Creator Logos] die menschliche Person. Indem er einen Körper von Materie nahm, die Er zuvor geschaffen hatte und in sie den Atem des Lebens, der aus ihm selbst kommt, einhauchte, die die Schrift die vernünftige Seele und das Bildnis Gottes nennt, formte Er [den] Anthropos, die menschliche Person, als ein zweites Universum – ein großes Universum in einem kleinen.

Nun erhalten wir einen Standort auf diesem Weg in den Kreuzungslinien der Schöpfung, weil jeder von uns nach den Worten des Hl. Maximus Confessor ein Laboratorium oder [eine] Werkstatt ist, die alles in einer sehr gedrängten Weise in sich enthält; wir haben eine besondere Berufung und diese ist [es], zu vermitteln und zu vereinigen. Indem wir auf den Kreuzungslinien stehen, irdisch und doch himmlisch, körperlich und doch seelisch, ist unsere menschliche Berufung, die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit, an denen wir teilnehmen, zu versöhnen und zu harmonisieren. Unsere Berufung ist es, die Materie zu vergeistigen, ohne sie dabei zu entmaterialisieren. Deshalb sind Versöhnung und Friede solch ein fundamentaler Aspekt unserer Persönlichkeit.

Aber wenn wir gesagt haben, dass Menschen ein mikrokosmisches Bild in der Welt sind, haben wir dennoch das Wichtigste noch nicht ausgedrückt. Die wichtigste Sache über unsere Persönlichkeit ist nicht, dass wir ein Bild der Welt sind, sondern dies, dass wir in dem Bild Gottes geschaffen sind. Wir sind ein geschaffener Ausdruck von Gottes unendlichem und ungeschaffenem Selbst-Ausdruck. In der Tat drückt sogar St. Gregor von Nyssa Geringschätzung über die Idee des Menschen als ein Bild der Welt, als einen Mikrokosmos aus. Dies, sagt er, heißt die Menschen mit den Charakteristika der Mücke und des Flohes zu verherrlichen. Nein, sagt er, unsere wahre Herrlichkeit ist die, dass wir nach Gottes Bild geschaffen sind, dass wir das Göttliche widerspiegeln. Der Hl. Maximus Confessor entwickelt dies, indem er sagt, dass wir nicht nur berufen sind, die verschiedenen Ebenen der geschaffenen Ordnung zu vereinigen, sondern wir sind auch berufen, Himmel und Erde zu verbinden und das Geschaffene und Ungeschaffene zu vereinen.

So ist in dem göttlichen Bild jeder von uns nicht nur ein Mikrokosmos, sondern ein Mikrotheos, ein Wort, das von Nikolai Berdjajew benutzt wurde. Wir sind nicht nur imago mundi, sondern auch imago dei – Bildnis Gottes. Es gibt zwei Berufungen - nicht nur die Schöpfung zu vereinigen, sondern auch die Schöpfung Gott zurück zu geben. Als König und Priester der Schöpfung geformt zum Bildnis Gottes, gibt die menschliche Person Gott die Welt zurück und verklärt sie so.

Nun werden Sie bemerkt haben, dass, wenn ich Gregor von Nazianz zitierte, ich sagte, Gott bildete die menschliche Person als ein zweites Universum, als ein großes Universum in einem kleinen. "Er hat den falschen Umweg genommen, diese Person, die die französische Eisenbahn überredete, einen unplanmäßigen Halt einzulegen. Dieser Triumph über die Eisenbahn ist ihm zu Kopfe gestiegen!"

Aber das ist es tatsächlich, was Gregor sagte. Das große Universum ist nicht die Welt um uns herum, nicht die Galaxie, Lichtjahre entfernt von uns. Das große Universum ist der innere Raum des Herzens. Dies ist es, was Gregor sagte. Wir sind nicht so sehr Mikrokosmos als Megalokosmos. Unvergleichlich größer als das äußere Universum ist die Tiefe innerhalb jedes menschlichen Herzens.

Unsere Berufung ist nicht ein einfaches Vereinigen, sondern es ist unsere Aufgabe als ein Mikrotheos, als Bild Gottes, die Welt transparent zu gestalten – diaphanisch oder vielmehr theophanisch – Gottes Anwesenheit durch sie durchscheinen zu lassen.

Wenn wir jetzt diese Art von Ideal der menschlichen Persönlichkeit haben, welche praktischen Konsequenzen führt dies mit sich? Die innere Logik des Modells, das wir untersucht haben, erfordert sicherlich eine ganzheitliche Sicht der menschlichen Person. Wir können unsere Berufung als Brückenbauer, als Vereinigende, als kosmische Priester nicht erfüllen, wenn wir nicht uns selbst als ein einziges ungeteiltes Ganzes sehen. Genauer – wir können als Band und Vermittler innerhalb der Schöpfung handeln, indem wir das spirituelle Material nur zurückerstatten, wenn wir unseren Körper als einen wesentlichen Teil unserer selbst sehen, nur, wenn wir unsere Persönlichkeit als eine integrale Einheit von Körper und Seele schauen. Indem wir unsere Glieder von der materiellen Umgebung abtrennen, hören wir auf, zu vermitteln.

Hier sehen wir auf einmal die sehr ernsten spirituellen Verwicklungen der gegenwärtigen Verunreinigung der Umwelt, was wir Menschen gegenüber dem kosmischen Tempel tun, den Gott uns gegeben hat, um darin zu wohnen. Die Tatsache, dass wir die Welt um uns herum in alarmierender Weise erniedrigen, zeigt ein erschreckendes Versagen in unserer Berufung als Vermittler. So benötigen wir [es], um wahrhaft menschlich zu sein, um mit unserem Körper handelseinig zu werden – mit seinem Rhythmus, seinen Geheimnissen, seinen Träumen – und durch unseren Körper uns mit der materiellen Welt zu vereinigen.

Lasst uns für einen Augenblick über den Weg nachdenken, auf dem wir unseren Körper nutzen können und sollen und lasst uns darüber nachdenken, wie wir unseren Körper im Gottesdienst nutzen. Das Christentum ist eine liturgische Religion. Verehrung kommt zuerst, Lehre und moralische Regeln kommen danach. Sicherlich ist es eine der Stärken unserer orthodoxen Kirche, dass wir noch sehr große Wichtigkeit der symbolischen Handlung, die unseren Körper und materielle Dinge einbezieht, beimessen. Allzu oft in der westlichen Welt haben Menschen die Kraft des symbolischen Denkens verloren – nicht gänzlich, aber recht häufig. Es ist sicherlich eine tiefe Verarmung.

Ich würde geltend machen, dass wir als orthodoxe Christen uns nicht erlauben sollten, den Wert von Symbolen zu vermindern oder die Teilnahme unseres Körpers im Gottesdienst einzubüßen. Traurig – man findet Beispiele für solch einen Verlust. Ich war im letzten Monat in den Vereinigten Staaten und erfreute mich an diesem Besuch sehr, aber ich war betrübt zu sehen, dass viele orthodoxe Kirchen von Bankreihen (Kirchenstühlen) besetzt sind. Haben Sie einmal nachgedacht über den schrecklichen Effekt, den Bankreihen auf den Gottesdienst ausüben? Menschen in Bankreihen können weder Niederwerfungen vollziehen noch tiefe Verbeugungen machen. Sie stehen gerade oder sitzen, und so wird es eine Audienz anstelle von aktiven Teilnehmern. In einer Bank ist es nicht leicht, ein eigenes Zeichen des Kreuzes mit einer tiefen Verbeugung zu machen. Nun mögen Sie sagen, dass dies nicht so wichtig ist und dass Bankreihen dort sind zur Bequemlichkeit, und dass die Menschen heute nicht mehr so lange Zeit stehen können. Aber traditionell hat die Kirche Kirchenstühle und Bänke an den Seiten oder einige Stühle hier und da vorgesehen. Diejenigen, die sitzen müssen, können aufstehen und Prostrationen machen, wenn sie es wollen. Unsere Tradition ist nicht eine von übersichtlichen Sitzreihen.

Lasst uns auch Sorge tragen, unsere orthodoxe Tradition des Fastens nicht zu verringern. Das Fasten ist ein Weg, auf dem der Körper am Gebet teilnimmt. Fasten ist nicht einfach die Beobachtung von bestimmten strengen Regeln und Diät-Zurückhaltungen. Der wirkliche Zweck des Fastens ist die Erneuerung des Gebets und unserer persönlichen Beziehung zu Gott und unseren Mitmenschen. Zu fasten und einfach schlecht-gelaunt werden, besiegt den ganzen Zweck der Übung. "Was ist der Zweck, nichts zu essen", fragt der Hl. Basilius, "wenn du stattdessen deinen Bruder oder deine Schwester verschlingst?" Durch das Fasten, durch das Lernen, ohne Nahrungsaufnahme zu arbeiten. So erneuern wir unseren Körper. Er ist der Bote der Seele. Der Zweck des Fastens ist es, uns Freiheit zum Gebet zu geben. Fastenzeit ist eine Schule der Freiheit, eine Zeit, die uns befreit von der Abhängigkeit von der physikalischen Kraft. Wirklich werden wir durch das Fasten fähig, die Schönheit und das Wunder der Nahrung zu sehen, die wir essen. Fasten hilft uns, die Nahrung nicht als selbstverständlich hinzunehmen.

Betrachten Sie auch den physikalischen Aspekt der Taufe, den Akt der Untertauchung ins Wasser. Wir wollen nicht die Materialität dieses sakramentalen Zeichens vermindern. Die Taufe sollte den ganzen Körper einschließen. Es sollte das Ertränken darstellen – en "fröhliches, andächtiges Durchnässen," mit Philip Larkins Wort.3)

Und lasst uns nicht die Tatsache verkleinern, dass wir in der Eucharistie Brot und Wein gebrauchen.

Lasst uns für uns selbst ein Verständnis des sakramentalen Wertes des Öls in Beziehung zur Heilung erneuern. Dies mag schwierig sein für diejenigen, die aus Kulturen kommen, in denen Olivenöl nicht Teil des täglichen Lebens ist, entgegengesetzt zu denen, die im Mittelmeerraum leben. Wenn ich hinunter nach Frankreich reise und den ersten Olivenbaum sehe, erhebt sich mein Geist! Ich liebe den Gebrauch des Öls in unserer Vigil an Samstagabenden. Keine Pilgerschaft ist vollkommen, wenn Sie nicht eingesalbt sind mit dem Öl der Lampen an dem Altar. Sicherlich sollten wir die Kranken mehr als einmal jährlich während der Heiligen Woche salben.4)

Ich schätze sehr die Geste des Auflegens der Hände. Wir sehen dies bei der Ordination, aber auch in unserer orthodoxen Praxis der Beichte. Der Priester überträgt die Vergebung nicht aus der Entfernung, sondern indem er sein Epitrachelion über den Beichtenden und dann seine Hände auf den Kopf des Beichtenden legt. Dies ist eine alte Geste, verbunden mit der Heilung, die man häufig im Neuen Testament finden kann.5)

In der Frühzeit des siebten und achten Jahrhunderts haben wir das Zeugnis, dass diese Geste eine gegenteilige Form annahm. Im Moment der Absolution legte die Person, die beichtete, ihre Hände in den Nacken des Priesters, symbolisierend, dass die Bürde weggenommen, auf die Schultern eines anderen übertragen worden war. Der Priester nahm sie selbst auf sich. Es ist eine sehr ernste Sache, die Beichte von Menschen zu hören!6)

Ein anderer Weg, auf dem der Körper in der westlichen orthodoxen Praxis an manchen Orten vermindert worden ist, kann in modernen Trauersitten gesehen werden. Wenn ich eine Trauerfeier leite, werde ich manchmal gefragt, ob man nicht einen offenen Sarg haben dürfe. Es solle einen letzten Kuss geben. Sie ziehen es vor, den Körper im Trauerraum zu sehen – nicht ein eigentlich liturgischer Ort! Mir wurde gesagt, "Wir können dies nicht tun, es würde für Kinder zu erschreckend sein". Etwas ist bei unserem Verständnis des Todes schrecklich falsch gelaufen, wenn wir den Körper einer Person, die wir geliebt haben, irgendwie abstossend und erschreckend finden. Sicherlich soll der tote Körper von jemand, den wir lieben, in diesen letzten Stunden vor der Beisetzung nicht versteckt werden als etwas, das Schmerz und Abscheu verursacht. Sicherlich sollten wir den toten Körper mit Liebe umgeben. Ich bin sicher, dass Kinder nicht erschreckt werden, wenn unsere orthodoxen Totenriten genau erklärt werden. Die Praxis, den toten Körper zu küssen, ist extrem alt. Wir finden sie schließlich so früh wie im Jahr 500 in den Schriften des Dionysios des Areopagiten erwähnt [Kirchliche Hierarchie 7,2], und vielleicht ist dieser Brauch noch weiter älter als diese Erwähnung.7)

So lasst uns auf all diesen Wegen und vielen anderen unseren materiellen Körpern den vollen Wert und ihren Teil im Gottesdienst geben. "Der Körper wird zusammen mit der Seele vergöttlicht", sagt der Hl. Maximus Confessor. "Das Fleisch wird auch verklärt", sagt der Hl. Gregor Palamas. "Er wird zusammen mit der Seele in die Höhe gehoben und zusammen mit der Seele erfreut er sich der Vereinigung mit Gott, indem er seine Sphäre und seinen Ruheplatz erhält." "In die Ewigkeit gekommen," fügt Palamas hinzu, "wird der Körper mit der Seele unaussprechliche Segnungen teilen".

Deutlich muss der Körper an diesen Segnungen teilnehmen, soweit wie möglich, hier und jetzt.

Von dem großen neu-platonischen Philosophen Plotin wird von seinem Biographen Porphyrius gesagt, das er "sich schämte, in einem Körper zu sein und nicht wollte, dass irgendjemand seinen Geburtstag feierte". Die Gelegenheit seines Geborenseins in einem Körper in diese Welt war für ihn mehr eine Ursache des Jammers als der Freude. Er wollte niemanden sein Portrait malen lassen. "Meine Erscheinung", sagte er "ist nicht wichtig".

Aber dies ist nicht die christliche Haltung. Ich bin mein Körper und mein Körper ist ich. Der Körper muss zusammen mit der Seele verklärt werden. Die göttliche Gnade muss in und durch unsere Körper gezeigt werden.

In der Universität London pflegte ein Professor der Religionsphilosophie, H.G.Lewis, nicht zu verwechseln mit C.S.Lewis, der sehr wohlwollend war, in einer platonischen Weise den Kontrast zwischen Körper und Seele zu betonen. Seine Studenten pflegten von ihm zu sagen dass "er nicht ging, um einen Spaziergang zu unternehmen, sondern vielmehr, dass er seinen Körper zu einem Spaziergang nahm".

Dies ist nicht die wahre christliche Sicht. Wir sind nicht ein Geist in einer Maschine, sondern im Gegenteil, wir werden berufen, Gott mit unserem Körper zu verherrlichen. "Euer Leib ist der Tempel des Heiligen Geistes", schreibt der hl. Paulus (1 Kor 6,19f). In Röm 12 sagt er, "Opfert eueren Körper als ein lebendiges Opfer für Gott".

Mit den Worten des großen Propheten William Blake "Der Mensch hat keinen von seiner Seele unterschiedenen Körper, denn der so genannte ‚Körper’ ist der Teil der Seele, unterschieden durch die fünf Sinne".

Lasst mich einen weiteren Kommentar hinzufügen. Unsere menschliche Persönlichkeit ist ein Geheimnis. Wir verstehen uns selbst nicht völlig. Sophokles beobachtete in der Antigone "Es gibt viele fremde Dinge und nichts ist fremder als die menschliche Person". Nicht nur in unserer Theologie benötigen wir eine apophatische Dimension, sondern wir brauchen sie auch in unserer Anthropologie.

Der hl. Gregor von Nyssa gibt einen besonderen Grund an für die Tatsache, dass wir uns selbst nicht verstehen. Er verbindet es mit der Wahrheit, dass der Mensch im Bild und Gleichnis Gottes gemacht ist, und das Bild, sagt er, ist nur wahr, insofern es die Attribute des Archetypus ausdrückt. Eines der Charakteristika der Gottheit ist, in ihrem Wesen jenseits unseres Verstehens zu sein. Die menschliche Person ist eine geschaffene Ikone des ungeschaffenen Gottes, und weil Gott unbegreiflich ist, so ist es [auch] die menschliche Person.

So bitte ich Sie an diesem Abend, in Ihrem Herzen Ihren Sinn des Wunders vor dem Mysterium Ihrer eigenen Persönlichkeit zu erneuern. Wie es in Psalm 138 heißt: "Ich lobe Dich, denn ich bin wunderbar gemacht. Wunderbar sind Deine Werke, und meine Seele erkennt dies sehr wohl".

Anmerkungen

*[Kallistos Ware ist griechisch-orthodoxer Bischof. In England geboren, zählt er zu den besten Kennern der östlichen Spiritualität. Er ist Mitherausgeber der ersten vollständigen, kritisch bearbeiteten Übersetzung ins Englische der "Philokalie", des maßgebenden mehrbändigen Quellenwerks ostkirchlicher Spiritualität, erschienen London 1979-1995].

1) [Deutsche Ausgabe: Kallistos Ware, Der Aufstieg zu Gott, Freiburg 1983. Zit. Der Aufstieg zu Gott. Zusammen mit Emmanuel Jungclausen von der Benediktinerabtei Niederaltaich erschien außerdem deutsch von Bischof Kallistos: "Hinführung zum Herzensgebet", Herder-Vlg. Freiburg.]

2) [Der Aufstieg zu Gott S. 68ff.]

3) [Mysterium der Anbetung III, Köln 1988, hg. von S. Heitz u. S. Hausammann, S. 19-58, zit. Mysterium der Anbetung].

4) [Mysterium der Anbetung S. 131-178].

5) [Mysterium der Anbetung S. 207-234].

6) [Mysterium der Anbetung S. 97-130].

7) [Mysterium der Anbetung S. 291-366].

 

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