In memoriam des hochwürdigsten Herrn Bischof Kassian von Katanien

Redaktion des "Kyrios"

[S. 103] Monsignore Kassian, Bischof von Katanien, Rektor des St.-Sergius-Instituts für orthodoxe Theologie, Doktor der Theologie, Ehrendoktor der Universität Thessaloniki, mit weltlichem Namen Sergej [Sergeevič] Bezobrazov, wurde am 29. Februar 1892 in St. Petersburg in der Familie eines Senators (Mitglied des Obersten Gerichts des alten Russlands) geboren. Er besuchte das Erste Gymnasium in St. Petersburg und betrieb sein Studium an der Universität derselben Stadt. Am Ende des Ersten Weltkrieges war er an der Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg beschäftigt, und zwar für religiöses Schrifttum (an ihrer Spitze stand Prof. A.V.Kartašov). Während der ersten Revolutionsjahre (1918-1922), aber zu Zeitpunkten, die schwer genau zu ermitteln sind, legte er die Magisterexamen an der Universität Petrograd ab, wurde zum Dozenten auf den religionsgeschichtlichen Lehrstuhl derselben Universität berufen, beteiligte sich nach der Schließung aller Priesterseminare, der theologischen Akademien und anderer geistlicher Schulen durch die Sovjetregierung an der Einrichtung höherer theologischer Kurse in Petrograd, die aber bald danach auch geschlossen wurden. Er lehrte als Professor an der Universität von Taschkent, verließ Russland schließlich über die Grenze eines benachbarten Staates und fand Asyl in Beograd in Jugoslavien.

Im Jahre 1925 wirkte er in Paris an der Gründung des Orthodox-Theologischen St.-Sergius-Instituts mit und erhielt den Lehrstuhl für Neues Testament, den er bis zu seinem Tode innehatte. 1931 legte er vor dem Metropoliten Eulogius sein Mönchsgelübde ab, der ihm den Namen Kassian gab. Bald danach wurde er zum Priester geweiht. Vom Juli 1939 bis zum Oktober 1945 hielt er sich auf dem Athos auf, wo er in die "Bruderschaft vom Heiligen Berge" aufgenommen wurde. Danach nahm er seine Lehrtätigkeit in Serge wieder auf und verteidigte 1947 seine Doktorarbeit über die sakramentale Interpretation des Vierten Evangeliums. Am 28. Juli 1947 empfing er die Bischofsweihe durch den Metropoliten Vladimir. Im September desselben Jahres wurde er Rektor des St.-Sergius-Instituts in Paris und blieb es bis zu seinem Tode am 4. Februar 1965.

Anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten zu Ehren des hl. Gregor Palamas erhielt er 1959 von der Universität Thessaloniki den Titel eines Ehrendoktors. Auf Grund einer Einladung des "Sekretariats für die Einheit der Christen" in Rom nahm Bischof Kassian an den drei ersten Sessionen des Zweiten Vatikanischen Konzils als persönlicher Beobachter teil. In der orthodoxen Welt war er unbestreitbar der größte neutestamentliche Exeget der Moderne.

[S. 104] Zu seinen Werken zählen neben unzähligen Artikeln in Zeitschriften, Mitteilungen u.s.w.: Das Johanneische Pfingsten, 1937; Was nach dem Urteil Christi dem Kaiser gehört, 1949 (russisch); Christus und die erste Generation der Christen, 1952 (russisch). Mgr. Kassian war außerdem der Verfasser einer neuen russischen Übersetzung des Neuen Testaments (die vorhergehende Übersetzung stammte aus dem Jahr 1875 und war auf Anweisung des Hl. Synods der russischen Kirche von den Theologischen Akademien durchgeführt worden). Bischofs Kassians Übersetzung entstand unter der Schirmherrschaft der Britischen Bibelgesellschaft. Bisher wurden die vier Evangelien und die Apostelgeschichte veröffentlicht. Außerdem hinterließ Bischof Kassian noch einen vollständigen Kursus über das Neue Testament; einen Kommentar zum 4. Evangelium, dessen Veröffentlichung vorgesehen ist, sowie seine Doktorarbeit: "Durch das Wasser, das Blut und den Geist" und ein Manuskript über "Gottvater".

Wir geben im folgenden zur Würdigung dieser seltenen wahrhaft geistlichen Persönlichkeit die Traueransprache seines Freundes und Nachfolgers wieder.

Zum Gedächtnis von Bischof Kassian von Katanien

Traueransprache des neuen Rektors des Orthodoxen Theologischen Instituts St. Serge, Erzpriester Alexis Kniazeff

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!

Hochverehrter und teurer Monsignore Kassian!

Vor kaum anderthalb Monaten sagten wir Deinem alten, treuen Freund Leo Zander, einem Deiner Dir am meisten ergebenen geistlichen Söhne, das letzte Lebewohl. Und nun verlässt Du uns heute selbst. Nach langer, schmerzensreicher Krankheit ruft Dich der Herr zu sich, obwohl alles versucht worden war, Dein Leben zu verlängern. Doch auch Deine optimistischen Prognosen konnten nichts mehr daran ändern, dass sich Dein Hinscheiden immer deutlicher ankündigte. Aber jetzt, wo Du uns tatsächlich verlassen hast, empfinden wir eine Leere, die noch viel größer ist, als wir jemals hätten ahnen oder voraussehen können.

Mit Dir geht eine ganze Epoche zu Ende; denn Du bist tatsächlich der letzte "Arbeiter der ersten Stunde", wie Du alle die so gern nanntest, die das St.-Sergius-Institut mitgegründet haben und von denen nun keiner mehr lebt. Aber mit Dir verlieren wir auch unseren Rektor. Deine Kollegen, die Professoren und der verstorbene Metropolit Vladimir, hatten Dich 1947 auf diesen Posten berufen. Seither hattest Du es verstanden, im wahrsten Sinn des Wortes Leiter dieses Hauses zu sein, das seine Berühmtheit dem Ansehen eines Bulgakov, eines Vyschesslavzev, eines Fedotov, eines Kartaschov, eines Zen'kovskij und all derer, die außerdem hier gelehrt haben, verdankt. Durch Deine Familie zähltest Du auch zur geistigen Elite von St. Petersburg, und als Student an der Universität dieser Stadt fühltest Du Dich durch Deine Lehrer zur Professorenlauf- [S. 105] bahn hingezogen. Ohne die tragischen Ereignisse, die in Deinem Vaterland dem Ersten Weltkrieg folgten, wärest Du dort auf dem für Dich vorgesehenen Lehrstuhl Deinen Aufgaben sicher auch glänzend gerecht geworden. Mit Deinen Hochschulerfahrungen hast Du es verstanden, das St.-Sergius-Institut wahrhaft zu vertreten: Mit Deinen Arbeiten, die Dir den theologischen Doktor, in Thessaloniki einen Ehrendoktor und die Einladung, als Gast des Sekretariats für die Einheit der Christen zum Vatikanischen Konzil zu kommen, einbrachten, hast Du zum Ruhme des Instituts beigetragen und es geehrt.

Du wirst uns auch als unbestrittener Meister der neutestamentlichen Exegese fehlen. In Petersburg haben Dich Deine Lehrer auf das Fach Religionsgeschichte vorbereitet. Als Du dann von Belgrad kommend in Paris eintrafst, vertraute man Dir den Lehrstuhl für Neues Testament an. Dank dem scharfen wissenschaftlichen Geist, der unfehlbaren Methode und einer bemerkenswerten Sprachbegabung, mit der Du die alten und den größten Teil der modernen europäischen Sprachen beherrschtest und ständig zu vervollkommnen suchtest, hast Du in sehr kurzer Zeit eine Meisterschaft in der Kunst wortgetreuer Exegese erreicht. Du warst einer der ersten orthodoxen Exegeten, der freimütig und vollgültig die historische Methode anwandte, wie es der verstorbene Vater Kyprian Kern gerade während Deiner Doktorandenzeit herausgestellt hatte. Eine ziemlich lange Zeit hindurch hast Du Dich mit diesem Studium der Textwissenschaft begnügt, womit Du Deiner Zeit Tribut zolltest. Nach und nach lerntest Du den Text so gut kennen, dass Du sogar die Versnummern zitieren konntest. Du wusstest über alle möglichen Bedeutungen grammatischer Formen des neutestamentlichen Griechisch und die Lesarten aller Manuskripte Bescheid. Du beherrschtest die moderne exegetische Literatur bis in die Einzelheiten.

Kein anderer war besser geeignet, unter der Schirmherrschaft der Britischen Bibelgesellschaft das Neue Testament neu ins Russische zu übertragen, was abgesehen von einigen privaten Versuchen die erste Übersetzung seit der vom Hl. Synod 1875 geschaffenen gewesen ist, die der russischen Kirche geschenkt worden wäre. Etwa in der Mitte Deiner Laufbahn als Exeget, zwischen 1945 und 1950, hast Du als einer der ersten die Existenz von echten theologischen Themen festgestellt, die von den Autoren der Hl. Schrift immer wieder aufgenommen und weitergeführt wurden. So bist Du dazu gebracht worden, neutestamentliche Theologie zu treiben. Und sobald Du Dich in dieses Gebiet hineingefunden hattest, hörten hervorragende Spezialisten aufmerksam auf Deine Stimme.

Mit dem Gelehrten verlieren wir auch den Menschen, der Du gewesen bist. Du warst eine anziehende Persönlichkeit. Zwar hast Du uns manches Mal verwirrt, ja sogar aus der Fassung gebracht, doch nur deshalb, weil Du ein Kämpfer warst. Das hast Du besonders gezeigt, als Du dem Übel, dem Du unterliegen solltest, bis aufs Äußerste entgegentratest und als Du, nachdem es Dich zu Boden geworfen hatte, in Deiner langen Agonie dem Tod die Stirn geboten hast, ganz wie der andere große Kämpfer, der so kurze Zeit vor Dir von uns ging. Du zeigtest es aber auch bereits als junger Mensch, da Du Deine physischen Unzulänglich- [S. 106] keiten besiegtest, besonders die ungewandte Ausdrucksweise, die Dich, als Du Dich über sie hinweggesetzt hattest, nicht mehr daran hinderte, der verdiente religiöse Redner zu werden, den wir alle bewunderten. Dein Kampf hat sich aber ganz und gar nicht nur auf Deinen Körper beschränkt, denn – bedingt durch die geschichtlichen Verhältnisse, in die Du hineingeboren warst – musstest Du Dein ganzes Leben lang kämpfen, damit sich Dein Ideal, Gott und den Menschen zu dienen, erfüllen konnte.

Im Unterschied zu den Älteren hast Du Deine volle Entfaltung nicht inmitten des gewaltigen Aufschwungs religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Denkens im Russland des anbrechenden Jahrhunderts erreichen können. Im Gegenteil, Du hast unmittelbarer als viele andere erleben müssen, wie die Revolution diesem Aufschwung mit Gewalt ein Ende setzte. Du warst Zeuge der ersten Kirchenverfolgungen, der Schließung der Theologischen Schulen und der ersten Prozesse, die den Gläubigen widerrechtlich gemacht wurden; Du sahst die ersten Märtyrer fallen. Auf keinen Fall wolltest Du Dich der neuen Ordnung beugen, hast bewusst das Exil gewählt und alle Entbehrungen auf Dich genommen. Nach 1945 ergriff das gleiche Chaos auch den Teil Europas, wo Du Dich niedergelassen hattest, und in diesem neuen Unwetter gingen die letzten unter, die Dir auf dieser Erde noch am nächsten gewesen waren. Aus all diesen Prüfungen blieben Dir die Tapferkeit, ein unbezähmbarer Wille und eine Redlichkeit, die keine Macht beugen konnte. Sie alle haben aber auch dazu beigetragen, Dich leidenschaftlich, unnachgiebig, ja sogar aggressiv zu machen, was manchmal bis zur Blindheit ging. Glücklicherweise waren diese Regungen bei Dir von Demut und grenzenloser Güte, von Nachsicht und einer unerschöpflichen Milde, ganz besonders aber vom christlichen Glauben gemäßigt. Dieser Glaube, mit Herzensgüte gepaart, hat aus Dir einen Seelenhirten und hervorragenden geistlichen Vater gemacht. Unzählige kamen zu Dir, ihre Sünden zu beichten. Nicht zu zählen sind auch Deine Freunde: Unter ihnen sind Patriarchen, Bischöfe, Kardinäle, Gelehrte, hervorragende Vertreter der ökumenischen Bewegung und daneben eine Menge von einfachen Gläubigen, ergebenen Mönchen und Kindern. Viele Familien werden um Dich weinen, hier und anderswo, und mit ihnen ganze Gemeinden.

Verehrter Lehrer und Vater, lieber Monsignore Kassian, lieber alter Freund! Es war Dir geschenkt, eine der größten Gestalten des orthodoxen Episkopats unserer Zeit wie des ökumenischen Gedankens in der Welt zu werden. Aber in allen Situationen hast Du es verstanden, bescheiden zu bleiben, so wie Du auch immer bewundernswürdig dem einfachen Menschen nahe sein wolltest. Ärmlich hast Du gelebt und arm bist Du gestorben. Der Herr aber hat Dich mit seiner Gnade überhäuft. Vor ihm hast Du Dein Kreuz getragen: Das Kreuz Deines schmerzlichen Schicksals wie das der Widersprüche, die in Deiner Seele wohnten. Christus hat Dir geantwortet: Er hat Dich zum Mönchsleben berufen, später zum Bischofsamt, und vor allem hat er Dir sein Wort zugänglich gemacht. Du warst sein Freund, wie er der Deine. Das können alle die bezeugen, die mit Dir gebetet, mit Dir zusammen zelebriert und bei Deinen eucharistischen Feiern gedient haben. Und – was für einen neutestamentlichen Exegeten bemerkenswert ist – der Herr hat Dich an dem Tag zu sich gerufen, [S. 107] an dem unsere Kirche des Apostels Timotheus, des Lieblingsschülers des hl. Paulus gedenkt. Du weißt, was Paulus am Ende seines Lebens im zweiten Brief sagt: "Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieb haben" (2 Tim 4,7f). Möge Gott der Herr Dir jetzt geben, Deinerseits die hohen Worte nachzusprechen!

Aus: Kyrios 1965, S. 103-107.

Ergänzung aus: Bischof Kassian zum Gedächtnis, in: Kirche im Osten  9 (1966), hg. v. R.Stupperich, 10-12:

Als Priestermönch Kassian im Sommer 1939 eine Pilgerreise auf den Athos unternahm, überraschte ihn dort der Ausbruch des 2. Weltkrieges, so dass er nicht nach Paris zurückkehren konnte. Im Pantelejmon-Kloster verbrachte er sieben Jahre und arbeitete dort an seiner Doktorarbeit über den Heiligen Geist im johanneischen Schrifttum, die er am 29.7.1947 im Theologischen Institut in Paris erfolgreich verteidigte. Einen Tag zuvor war er zum Bischof geweiht und mit der Leitung des Instituts beauftragt worden. Kirchlich verkörperte er die Anhänglichkeit der russischen Emigranten in Paris an den Patriarchen von Konstantinopel.

 

Bibliographie (H.M.Knechten)

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o       Christos i pervoe christianskoe pokolenie, Paris 1950; Paris 1992; Moskau 2003; Moskau 2006.

o       Da priidet carstvie tvoe. Sbornik statej, Vorwort v. B.Bobrinskoj, Paris 2003.

o       La Pentecôte Johannique: Jo XX,19-23, Valence-sur Rhône 1939.

o       La Prière des heures, hg. v. Cassien [Kassian] Bezobrazov u. Bernard Botte, Lex orandi 35, Paris 1963.

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o       Novyj Zavet Gospoda našego Iisusa Christa. Novyj perevod s grečeskogo podlinnika, s parallel’nymi mestami, London 1964; London 1970; Moskau 1994; Moskau 2001.

o       Poslanie k Rimljanam apostola Pavla. Novyj perevod s grečeskogo V.N.Kuznecovoj. Apostol Pavel v russkoj bibleistike. Lekcija i stat’i protoiereja Aleksandra Menja i episkopa Kassiana (Bezobrazova), Moskau 1993.

o       Vodoju i kroviju i duchom. Tolkovanie na Evangelie ot Ioanna, Bibliothèque slave, Meudon 1996; Puškino 2004.

 

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