Gedanken zur christlichen Spiritualität aus östlicher und westlicher Sicht (Berdjaev/Bambauer) 3

 

Offenbarung und Bewusstseinsstufen

Dass Berdjajew in seinem Verständnis von Offenbarung neue und recht ungewohnte Wege der Interpretation zu beschreiten sucht, wird rasch ins Auge fallen, zumal er es sich zum Ziel gesetzt hat, sowohl hier als auch in seinem Spätwerk ("Existenzielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen" als auch "Wahrheit und Offenbarung") die im Werk der mittleren Schaffensperiode "Die Philosophie des freien Geistes" angezeigten Linien noch weiter auszuziehen bzw. die Tendenz seiner Aussagen noch zu präzisieren und zu vertiefen. Wie er schon im Hinblick auf "Wahrheit und Offenbarung" in seiner "Existenziellen Dialektik des Göttlichen und Menschlichen" andeutete, war sein Ziel eine Studie mit dem von ihm nachstehend beschriebenen Inhalt: "Bis heute besitzen wir noch keine Kritik der Offenbarung als Gegenstück zu Kants Kritik der reinen und praktischen Vernunft. Gegenstand dieser Kritik wäre es, den Anteil des Menschen an der Offenbarung herauszuarbeiten"21). Berdjajew stellt fest, dass die Offenbarung kein äußerlich-transzendentes Ereignis ist, das sich in objektiv-natürlicher Wirklichkeit, d.h. in der natürlichen Welt vollzieht. Es ist kein beobachtbares Licht, das von außen in die Welt hineindringt, sondern: "Die Offenbarung ist ein Ereignis, das sich in der inneren Welt, in der geistigen Welt vollzieht, ist ein Licht, das aus der tiefsten Tiefe hervordringt. Die Offenbarung ist ein Ereignis des geistigen Lebens, das der Aufnahme äußerer Realitäten gar nicht gleicht"22). Der Autor wird nicht müde, die Phänomenologie des Einbrechens der Offenbarung zu beschreiben: sie ist ein Durchbruch aus der geistigen Welt in unsere Welt, dem nur die symbolische Auffassung gerecht werden kann. Hört Mose die Stimme Gottes vom Sinai, so ist dies ein naturalistisches Projizieren und Objektivieren eines Vorgangs, der sich in seiner geistigen Tiefe vollzog, gleichsam von ihm als eine Spiegelung der alten Natur Adams, der mit Gott im Paradies wandelte, wahrgenommen. "Der Vater erschließt sich in der objektiven Natur früher als Er sich durch den Sohn in der Tiefe des Geistes offenbart. Er erschließt sich vor allen Dingen als Macht, nicht aber als Wahrheit. Die Macht ist eine natürliche Kategorie; die Wahrheit aber ist eine geistige Kategorie. Nur in dem Sohn, nur in Christus wird die innere Natur des Himmlischen Vaters erschlossen". Freilich ist hier zuzugestehen: Den Sohn, den inkarnierten Gott, "kann man nur in objektiven, natürlich-historischen Ereignissen des Evangeliums kennen lernen" (S. 112). Wie hätte sonst die Vermittlung der göttlichen Offenbarung in Wort und Tat stattfinden sollen? Aber vielleicht sollte man schon an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass der Sohn sich sehr real auch in der historischen Wirklichkeit und unter ganz bestimmten Bedingungen erschließt.

Bei aller von uns zu diesem Thema vorgetragenen Kritik ist sicher mit Berdjajew festzuhalten: Es gab und gibt wichtige Momente in der Geschichte des Geistes, in der Entwicklung des Bewusstseins, Momente der Offenbarung des Göttlichen in der Welt [als auch in Einzelindividuen]. "Aber auch im Christentum selber gibt es Stufen der Offenbarung, Altersstufen, Epochen des Christentums, verschiedene Äonen in den Geschicken der christlichen Welt. Die verschiedene Tiefe und Fülle der christlichen Wahrheit wird von verschiedenen Bewusstseinsstrukturen und von verschiedenen Stufen der Geistigkeit erschafft. Die christliche Wahrheit erschließt sich in einem dynamischen, schöpferischen Prozess, und dieser Prozess ist in der Welt noch nicht zum Abschluss gelangt und kann auch bis ans Ende der Welt nicht zum Abschluss gelangen" (S. 136).

Dennoch kritisiert Berdjajew: Aber eben diese natürliche Welt, in die ein historisch-metahistorisches Ereignis mit Jesus Christus einbricht, "prägt der Offenbarung des Geistes im Geiste das Siegel der Beschränktheit, der Endlichkeit auf". So sorgt diese historische und zeitgebundene Begrenztheit der Annahme und Aufnahme der Offenbarung für eine Strahlenbrechung, eben bedingt durch die natürliche Welt. Das Prisma bricht die Strahlen der gleichsam "reinen Offenbarung", die schon dadurch nicht mehr "rein" bleiben kann, dass sie sich – aus der Unendlichkeit kommend – freiwillig verendlicht und damit beschränkt hat auf die natürliche Welt und ihre jeweiligen zeitgebundenen, sozialen, ethnischen und kulturellen Strukturen. Damit entstehen Stufen der Offenbarung. Diese Abstufung und die Differenzierung in unterschiedliche Verständnisdimensionen können zweifellos einer gnostischen Denkweise zugeordnet werden, die der Erniedrigung des Geistes ins "Fleisch", in die "Endlichkeit" nichts abgewinnen kann.

Dieser Sicht ist freilich entgegenzuhalten, dass die Offenbarung Gottes sich im geistgebundenen Wort auch weiter im Sinne einer creatio continua bis ans Ende der Zeit in zahllosen Sprachen, Ländern, Zeiten und Kulturen an Menschen mit unterschiedlichster Auffassungsgabe vermitteln wird. Im Sinne dieser creatio continua, die durch die Offenbarung ergeht, sieht Berdjajew auch den Weltenprozess als den "achten Schöpfungstag" und als fortgesetzte Schöpfung (Der Sinn des Schaffens, S. 142). So erwartet – nach Berdjajew – Gott vom Menschen die höchste Freiheit, die Freiheit des achten Schöpfungstages.

Stets wird das "reine Licht" der Offenbarung einer Strahlenbrechung unterzogen, ohne dass es möglich ist – wie schon Hegel für philosophisches Erkennen zeigte – das Werkzeug der Vermittlung, nämlich die Brechung durch unser endliches Verstehen als Werkzeug des Verstehens abzuziehen, um dann ein "reines Ergebnis" von Ursprünglichkeit zu erhalten. Auch das Werkzeug des Verstehens bzw. Erkennens gehört hinein in diesen Prozess, dass Erkennender, Erkanntes und das Erkennen selbst eine Identität bilden. Ähnlich hat es auch Sri Aurobindo ausgedrückt, wenn er vom höchsten Wahrheitsbewusstsein sagt, dass in diesem Bewusstsein "der Wissende, das Wissen und das Gewusste keine verschiedenen Begriffe, sondern fundamental eins" sind. Zwar unterscheide unsere Mentalität zwischen ihnen, "denn sie kann nicht ohne Unterscheiden funktionieren". Dennoch ist in Übereinstimmung mit Hegel die Feststellung Aurobindos aufzunehmen: "In Wirklichkeit bin ich, der Erkennende, auch das Bewusstsein, das erkennt. Und die Erkenntnis ist ebenfalls jenes Bewusstsein, nämlich ich selbst als Bewirkender der Erkenntnis. Das Erkannte ist ebenfalls ich selbst, eine Form oder Bewegung desselben Bewusstseins. Die drei sind deutlich ein einziges Sein, eine einzige Bewegung, unteilbar, obwohl sie getrennt zu sein scheinen"23). Ist in diesem Sinne der Mensch das Objekt und das Subjekt und der Erkenntnisprozess zugleich und in einem, so legt es sich nahe, mit Berdjajew die Sicht Aurobindos zu präzisieren und ihn auch in die Nähe des hegelschen Verständnisses von der Wirkungsweise des absoluten Geistes zu stellen: Hegel sieht es so, dass dieser absolute Geist sich in endlichen Geistwesen verkörpern und verwirklichen will, um sich somit selbst zu erkennen. "Um verkörpert zu werden, benötigt der Geist [...] Gegenständlichkeit, Äußerlichkeit, Ausdehnung in Raum und Zeit, er benötigt Leben, bewusstes Leben" (Taylor, Hegel, Frankfurt 1983, S. 131). Eine ähnliche Sicht vermittelt Aurobindo durch Berdjajew: "Der bemerkenswerte der indischen Religionsphilosophen der Gegenwart, Aurobindo, lehrt, dass man die Vorstellung aufgeben müsse, wonach wir die Urheber unserer Taten sind, denn es sei das Allgemeine, das vermittelst unserer Person handle. Die Unpersönlichkeit ist die Voraussetzung für die Vereinigung mit der Gottheit, und wir müssen danach streben, uns in einen Zustand der Unpersönlichkeit und der Gleichgültigkeit zu versenken. Die Seele ist ein Teil der Gottheit"24).

Kommen sich, wie oben gezeigt, Hegel und Aurobindo in der Beurteilung der Mitwirkung des Mediums bei der Selbstverwirklichung des göttlichen Weltgeistes (des Absoluten) sehr nahe, so sieht Berdjajew aus seiner streng personalistischen Sicht: "Bei Hegel erkennt überhaupt nicht der Mensch, sondern die Weltvernunft, der Weltgeist, letzten Endes die Gottheit selbst. Wohl behauptet er, dass Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis Gottes sich im Menschen und durch den Menschen vollziehen. Was habe ich aber davon? Was soll sich der Mensch mit der Erkenntnis brüsten, dass die Gottheit im Menschen zum Selbstbewusstsein gelangt, dass der absolute Geist seinen Gipfel in der Philosophie erreicht, die Menschenwerk ist: die menschliche Selbständigkeit geht doch dabei verloren, der Mensch wird zur Funktion des absoluten Geistes, der Weltvernunft, der Gottheit, zum Mittel, Werkzeug und Wege der Erfüllung außermenschlicher Ziele"25).

Solange Menschen leben, wird die Offenbarung stets der "Brechung" durch die Beschränkung der Endlichkeit unterworfen bleiben, "weil das Wort Fleisch wurde" (Joh 1,14). Bedeutende Denker kommen häufig zu gleichen oder ähnlichen Einsichten. Der neohinduistische Philosoph und Weise Sri Aurobindo formuliert, dass eine Einsicht, die auf Evidenz beruht "der Dinge unmittelbar durch eine Art von Identität mit ihnen inne" wird. "Wir sind uns ebenso unseres eigenen Daseins bewusst, und hier wird die Natur der Erfahrung als eine Erkenntnis durch Identität sichtbar. In Wirklichkeit ist jede Erfahrung ihrer geheimen Natur nach eine Erkenntnis durch Identität. Ihr wahrer Charakter bleibt aber vor uns verborgen, da wir uns von der übrigen Welt durch Ausschließung, durch die Unterscheidung zwischen uns selbst als dem Subjekt [das wir uns vorstellen als Ding, so sieht es K.Nishitani] und allem anderen als dem Objekt, abgesondert haben. So müssen wir nun Verfahren und Organe entwickeln, durch die wir wieder in eine Kommunikation mit allem eintreten können, was wir ausgeschlossen haben. Wir müssen das unmittelbare Erkennen mittels bewusster Identität ersetzen durch ein indirektes Erkennen, das durch physischen Kontakt und mentale Sympathie verursacht zu sein scheint. Diese Einschränkung ist eine fundamentale Schöpfung des Ichs"26).

Offenbarung als unabgeschlossener geschichtlicher Prozess

Diese Begrenzungen der Offenbarung erzeugen – nach Berdjajew – einen Exoterismus. Es kann zunächst nicht von der Hand gewiesen werden und ist ein faszinierender Gedanke: "Die absolute Wahrheit und das Licht brechen ihre Strahlen in dem natürlichen Menschen, gehen durch eine dunkle Schicht hindurch, die das Licht trübe erscheinen lässt. Nicht vollendet und nicht bis ans Ende adäquat sind alle Worte, die die Wahrheit der Offenbarung zum Ausdruck bringen" (S. 112). Aber dieser Vorgang der Strahlenbrechung wird sich in der Geschichte und in allen Zeitepochen der Geistesgeschichte stets wiederholen. Denn die Offenbarung des göttlichen Wortes wird ja zu allen Zeiten – je nach kultureller und sonstiger Ausprägung – immer wieder ihre sehr eigentümliche Gestalt erhalten. Sie wird stets in den verschiedenen Sprachen verkündigt werden und wird dadurch – auch bei aller vermeintlichen Strahlenbrechung – nichts von ihrem Glanz und ihrer Qualität verlieren. Es gehört sehr wohl zur Inkarnation des Logos, "dass das Wort Fleisch wird", d.h. eine historische und endliche Gestalt annimmt (Joh 1,14). Es ist der göttliche Akt der bewussten Erniedrigung und Kenosis des Absoluten, um es philosophisch zu formulieren, dass der Logos in der Offenbarung sich der Endlichkeit, der Begrenztheit eines je unterschiedlichen menschlichen Horizontes und auch einer individuellen sprachlichen Ausprägung bewusst und freiwillig unterwirft und sich nicht – im Sinne Berdjajews – "rein erhält". Dann wäre der Logos nicht "Fleisch" geworden, sondern "Logos" geblieben. Wenn Berdjajew annimmt, dass Gott genötigt sei, sich vor der natürlichen Welt zu verbergen, so passt diese Aussage nur bedingt. Gott verbirgt sich nicht vor der Welt, sondern die Fleischwerdung des Logos, das Inkarnationsgeschehen sorgt von selbst dafür, dass das göttliche Licht den natürlichen Blick nicht blendet. Das Licht bricht sich am Unverständnis derer, die die Worte Jesu Christi zwar hören, ihnen aber verständnislos gegenüber stehen "und [es] erhält damit das Gepräge der Begrenztheit". Berdjajew setzt so etwas wie eine hierarchische Struktur des Verstehens voraus, weil keine nur endliche Bewusstseinsstufe offen zum Empfang der höheren Wahrheiten sein wird. Die letzte Wahrheit entspricht nicht dem durchschnittlich-normalen Bewusstsein, da dieses als beweglich und dynamisch angenommen werden darf.

Stufen des Bewusstseins und der Gedanke des "Nichts"

"Die Geschichte der Menschheitsentwicklung hat es deutlich gemacht, dass in der Tat das menschliche Bewusstsein nicht eine konstante Größe ist, sondern der Ausdehnung in verschiedenen Richtungen oder Dimensionen fähig ist – ja mehr noch – nicht nur fähig ist, sondern einem inneren Gesetz folgend, notwendigermaßen von einer Dimension zur anderen sich entfaltet" (Lama A.Govinda).

Berdjajew stellt die in der Selbsterfahrung erkannte These auf, dass die dem Menschen geschenkte Offenbarung eine Zustandsveränderung des Bewusstseins mit sich bringe, "eine Veränderung seiner Struktur, Bildung neuer Bewusstseinsorgane, die der anderen Welt zugewandt sind, eine Katastrophe des Bewusstseins". An dieser Stelle führt der Autor neue Begriffe ein, wenn er die Offenbarung als die Ursache der "Veränderung des wechselseitigen Verhältnisses zwischen dem Unterbewussten oder Überbewussten und dem Bewussten" ansieht. Sri Aurobindo sieht das Transzendente oder Suprakosmische so, dass es im Kosmos, d.h. unter den Bedingungen von Raum und Zeit seine Selbst-Gestaltung in den Begriffen von Einheit und Vielheit dergestalt strukturiert, dass es diese vielfältige Einheit "in den drei Bewusstseinsformen des Unterbewussten, des Bewussten und des Überbewussten" aus sich heraussetzt (Das göttliche Leben I, 1, S. 55). Die biblische Selbstoffenbarung gestaltet sich so, dass Gottes Selbst-Offenbaren auch ein ständiges Sich-Verhüllen ist. In ähnlicher Weise beschreibt Sri Aurobindo dieses Phänomen aus seiner Sicht: "Dieses Herabkommen der höchsten Wirklichkeit ist seiner Natur nach Selbst-Verhüllung [Gott enthüllt sich in der Wolke]. Bei dem Herabkommen entstehen aufeinanderfolgende Ebenen, bei der Verhüllung immer weitere Schleier. Notwendigerweise nimmt die Enthüllung die Form eines Aufstiegs an, und ebenso müssen Aufstieg und Enthüllung beide progressiv sein. Denn jede der aufeinanderfolgenden Ebenen des Herniederkommens des Göttlichen Wesens wird für den Menschen zur Stufe eines Aufstiegs. Jede Hülle, die den unbekannten Gott verbirgt, wird für den Gott-Liebenden und Gott-Suchenden zum Anlass, ihn zu enthüllen"27). Wir finden hier bemerkenswerte Annäherungen an das Strukturmodell der Bewusstseinsebenen unseres russischen Denkers.

Berdjajew geht davon aus, dass der Eintritt und Empfang der Offenbarung für das menschliche Bewusstsein so etwas wie eine qualitative Veränderung mit sich bringt dahingehend, dass die bis dahin im Unbewussten liegenden geistigen Bereiche und Dimensionen dem Bewusstsein zugeführt werden, sodass dieses sich selbst als ein neues, erweitertes Bewusstsein – als "Überbewusstsein" – wahrnimmt, dem nun neue Dimensionen der Welt erschlossen werden. E.Ott beschreibt diesen schöpferischen Wiedergeburts-Vorgang so: "Der 'neue Mensch' muss ja der Mensch sein, in dem das Unbewusste im Ich (besser: im Selbst, in der Person, im Ebenbild) integriert, 'enthalten' ist, bei dem die Rückkehr in den Anfang sich öffnet für das Geschenk der Zukunft"28).

 

Fortsetzung