Christliche Mystik 3

 

 

C. Berdjajews realistische Erkenntnistheorie

 

1. Eine existentielle Antwort auf die Kritik Kants

 

Berdjajew versichert die Unzugänglichkeit des christlichen Dogmas durch wissenschaftliche Methode in dem Kontext seiner Kritik der kantischen und neu-kantischen Erkenntnistheorie. Fedor Stepun, ein führender russischer Neu-Kantianer und Herausgeber der internationalen neu-kantischen Zeitschrift Logos schrieb, dass die nach-solowjewsche russische religiöse Philosophie "allgemein Berdjajews Meinung teilte, dass das Interesse an erkenntnistheoretischen Themen sich entwickelt, wo der Zugang zur Existenz verloren ist" (56). Stepun vereinfacht die Materie jedoch, weil russische Denker eine Vielfalt der Kritik des Neu-Kantianismus anboten (57). Berdjajews existentielle Position in diesem Streit verdient nichtsdestoweniger besondere Aufmerksamkeit, weil er sie direkt mit der mystischen Theologie der Trinität verbindet.

 

In seiner Filosofiia svobody forderte Berdjajew kantische Kritik heraus als die eigentliche Begründung einer Lehre, die Hans Küng als dem gegenwärtigen Denken zentral betrachtete. In seiner Einsicht in den paradigmatischen Ort in der Theologie weist Küng darauf hin, dass heute die Erkenntnistheorie sich zu "einer Wissenschaft der Wissenschaft, zu einer Theorie der Theorie" erhebt. "Jetzt" stellt Küng fest, "kann nicht einmal in den Naturwissenschaften – absolute Objektivität durch Ausschluss des menschlichen Subjekts, des Forschers selbst gesucht werden" (58). Die Rolle des erkennenden Subjekts, in der heutigen Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis unterstrichen, wurde zuerst von Kant hervorgehoben, dann innerhalb des Rahmens der modernen Wissenschaft durch die Neu-Kantianer nochmals wahrgenommen. Jedoch Berdjajew konfrontierte die neu-kantianische Erkenntnistheorie mit dem, was er eine "realistische" Erkenntnistheorie nannte, die ein erkennendes Subjekt in der Ganzheit seiner Menschlichkeit charakterisiert, während er aufrecht erhält, dass die Existenz vor der Erkenntnis ist (59).

 

Indem er verteidigt, was er "erkenntnistheoretischen Realismus" (60) nennt, greift Berdjajew den Neu-Kantianismus als die eigentliche Form der modernen Scholastik an, feindlich gegenüber dem Leben und der spontanen Suche nach der Wahrheit. Indem er seinen philosophischen Stil unter dem Einfluss von Nietzsche entwickelt hat, bestand Berdjajew auf dem Recht eines Philosophen, direkt seine eigene existentielle Erfahrung eher auszusprechen als die traditionelle Art des spekulativen Denkens (61). Nach Berdjajew formulierte Kant den fatalen Bruch des philosophischen Denkens aus den Quellen des Seins. Nach ihm entwickelten die Neu-Kantianer bloß diesen fatalen Bruch durch Vervollständigung der Ersetzung der rein formalen Erkenntnis für "die wirkliche, lebendige Haltung" des Subjekts zum Objekt. Ihre kritische Erkenntnistheorie verneint radikal das ursprüngliche Ziel der Erkenntnis – die Vereinigung des erkennenden Subjekts mit dem Sein (62).

 

Getrennt vom Leben, kann die neu-kantianische Kritik nur illusorische und solipsistische Lehren erzeugen. Sie reduziert entweder die Existenz auf das Aufstellen von Normen und Werten oder löst die Existenz in eine transzendentale Methode auf, alles auf rationalistische Ideen zu reduzieren. Für Berdjajew ist eine philosophische Methode, die von psychologischen und ontologischen Voraussetzungen frei ist, lächerlich weil "es der Mensch ist, der philosophiert, und menschliche Erkenntnis nimmt ihren Platz innerhalb des anthropologischen Milieus ein". Indem sie sich bemühten, die Erkenntnis als transzendent gegenüber der menschlichen Person gegenüber darzustellen, gelang es den Neu-Kantianern, Erkenntnis als gänzlich unzugänglich für die menschliche Person zu konstruieren. Für Berdjajew wendet sich die kritische Erkenntnistheorie nur einer begrenzten Form von Erkenntnis zu, einer, die er erdichtet nennt, weil ein erkennendes Subjekt, das außerhalb der Existenz genommen ist, rein erdichtet ist (63). Die Neu-Kantianer artikulierten den Begriff der Erfahrung willkürlich, weil sie ihn durch rein formale und rationalistische Grenzen beschränkten.

Berdjajew gibt zu verstehen, dass der Widerspruch zwischen Denken und Existenz durch eine philosophische "Unterernährung" verursacht war (64). Philosophie muss von zwei Arten der Erfahrung, der wissenschaftlichen und der mystischen, ernährt werden (65). Er begründet seine Überzeugung in der Philosophie von Nikolai Losskij, William James und Henry Bergson. Losskij "verteidigte mystischen Empirismus" und dehnte das Reich möglicher Erfahrung weit jenseits der rationalen Grenzen aus. James und Bergson schauten nach der "existentiellen Rechtfertigung der Erkenntnis" (66). Sie alle widersetzten sich der reinen Erkenntnistheorie mit einer lebendigen und praktischen ganzheitlichen Philosophie (67). Macquarrie weist auch auf diese Nähe zwischen amerikanischem Pragmatismus und europäischem Existentialismus hin:

 

Jeder, der William James berühmten Aufsatz "Der Wille zum Glauben" gelesen hat, kann kaum zweifeln, dass es enge Beziehungen zwischen Existentialismus und Pragmatismus gibt. Beide stehen im Protest gegen abstrakten Intellektualismus, beide betonen die Beziehung des Glaubens zum Handeln, beide erkennen das Risiko des Glaubens als eine Haltung an, über welche wir gezwungen sind, durch die Forderungen der konkreten Existenz zu entscheiden, bevor wir bei theoretischen Gründen für unsere Entscheidungen ankommen, und beide schauen nach der Bestätigung oder nach dem Irrtum des Glaubens in Begriffen seiner Erfüllung oder Verminderung unserer Menschlichkeit (68).

 

In seinen The Varieties of Religious Experience [Vielfalt der religiösen Erfahrung] behandelt James mystische Erfahrungen als feste empirische Gegebenheiten. Die Veröffentlichung der russischen Übersetzung von James’ Studie versetzte dem überwältigenden Einfluss des wissenschaftlichen Positivismus und dem kantischen metaphysischen Agnostizismus in Russland einen Schlag (69). Es erschien genau zu einer Zeit, als das neue Interesse an der Mystik aus philosophischem Drängen entstand, um den primitiven und ziemlich stumpfsinnigen positivistischen Empirismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden.

 

Berdjajew nennt Losskijs Erkenntnistheorie "mystischen Empirismus" und traut ihm zu, den modernen Geist zurück zur Ganzheit des mittelalterlichen Realismus zu bringen (70). Er weist auch darauf hin, dass James wie Losskij Erfahrung jenseits der Grenzen des Rationalen anerkannte, indem er die Methode des Pragmatismus nutzte, und die Erfahrung der Heiligen und Mystiker als bewährt bewies. Berdjajew glaubt, dass Philosophie es nötig hat, wieder durch Verzicht auf die Forderungen der abstrakten Erkenntnistheorie und durch Rückkehr zum "mystischen Realismus", worin die Fülle der Existenz liegt, vollkommen gemacht zu werden (71).

 

Berdjajew fügt der wissenschaftlichen Behandlung der mystischen Erfahrung durch James seine eigene philosophische Interpretation hinzu, und er erhebt den Anspruch, dass die Mystiker Empiriker waren, weil sie über ihre eigene Erfahrung sprachen, obgleich eine innere. Diese mystische Erfahrung ist wissenschaftlich solide und erfordert dennoch notwendig eine religiöse Interpretation. Die Wissenschaft erweiterte den Begriff der Erfahrung durch das Einschließen der sinnlichen wie auch der mystischen Erfahrung (72). Wenn "man Erfahrung in ihrer Fülle nimmt", behauptet er, "gibt es keinen Grund, die Solidität der Erfahrung der Mystiker und Heiligen zurückzuweisen" (73). Indem er Kants Ratio "kleine Vernunft" nennt, stellt Berdjajew sie dem Logos gegenüber, der "großen Vernunft" der mystischen Philosophie von Augustin, Eriugena, Eckhart und Böhme und den anderen Mystikern, die genährt wurden durch die katholische, d.h. weltweite, sobornyi [allumfassende] Erfahrung der östlichen und westlichen Kirchen. Indem er diese Tradition der mystischen Philosophie auf russisches Denken ausdehnt, auf die Slawophilen und Solowjew, argumentiert Berdjajew, dass der Neu-Kantianismus nur einen sehr begrenzten, technischen Wert haben kann. Russische Philosophie erbte ein besonderes Vermächtnis des patristischen und mittelalterlichen Denkens: es ging vom abstrakten Idealismus zum "konkreten Idealismus" über und vom Rationalismus zur Mystik. Berdjajew gibt seine eigene Definition des "konkreten Idealismus" als einer Philosophie, die sich aus mystischer Erfahrung nährt und Erkenntnis mit Glauben und Philosophie mit Religion vereinigt (74).

 

2. Symbolische Erkenntnistheorie

 

Wie Stepun ausführt, benutzte Berdjajew den Begriff des Symbols, von Iwanow entliehen, in seiner Theorie der mystischen Erkenntnis (75). Das Dogma ist für Berdjajew nicht bloß Doktrin oder Lehre, sondern es ist "ein Symbol und Mythos" (76). Der Symbolismus passt sich der unendlichen Aufgabe der Erkenntnis an. Der Symbolismus besteht sowohl auf der Erkennbarkeit wie auf der Unerkennbarkeit Gottes. Er weist auf Gott als "das unbegrenzte und unausschöpfbare Objekt der Erkenntnis, stets in seiner Tiefe geheimnisvoll". Er stimmt nicht mit denen wie Solowjew überein, die zu beweisen versuchten, dass die Dreieinigkeit Gottes logisch ableitbar ist. Für Berdjajew schlüpft das innere Leben des dreieinigen Gottes durch das begriffliche Netz, und es kann nur durch das Symbol übermittelt werden, weil nur symbolische Philosophie sich der geheimnisvollen Tiefe der Existenz nähert und auf die via negativa angewendet werden kann (77). Sowohl symbolisch als auch mystisch – die via negativa gesteht es dem antinomischen Denken zu, das sich dem dreieinigen Gott zuwendet, der der Zusammenfall der Gegensätze ist. "Wo die Kompetenz des Begriffs endet, dort kommt das Symbol in sein Eigenes", stellt Berdjajew fest. Indem er Iwanows Unterscheidung folgt, stellt er idealistischen und realistischen Symbolismus einander gegenüber. Während idealistischer Symbolismus subjektiv und herkömmlich ist, ist realistischer Symbolismus mystisch (78).

Berdjajew weist auf den westlichen mittelalterlichen Symbolismus als ein vollkommenes Beispiel eines mystischen und realistischen Symbolismus und bezieht sich auf die Mystik von Hugo und Richard von St. Viktor als den charakteristischsten Ausdruck eines mittelalterlichen realistischen Symbolismus (79).

 

In seiner Diskussion der Trinität formuliert Berdjajew sein Verständnis des Symbols in der Kontinuität mit der viktorinischen Tradition. Indem er unterstreicht, dass das Wort "Symbol" im Griechischen sowohl "Zeichen" als auch "Einheit" bedeutet, behauptet Berdjajew, dass die Idee des Symbols die Existenz von zwei Reichen aussagt: des materiellen und des spirituellen. Ein Symbol vereinigt die beiden Reiche und bezeichnet das eine Reich durch das andere. Berdjajew versichert: Wenn es nur ein Reich gäbe, würde ein Symbol keinen Sinn haben. Ein Symbol sagt uns, dass der Sinn des einen Reiches im anderen liegt, dass Zeichen des Sinnes von diesem anderen Reich gegeben werden. Ein Symbol sagt uns nicht nur, dass ein anderes Reich existiert, dass Sein nicht auf unser Reich allein begrenzt ist, sondern es sagt uns auch, dass die Verbindung, die Einheit zwischen den beiden Reichen möglich ist, dass diese beiden Reiche nicht endgültig getrennt sind. Ein Symbol setzt die Grenzen dieser beiden Reiche und verbindet sie (80).

 

In der Tradition des christlichen Neuplatonismus behauptet Berdjajew, dass unsere natürliche, empirische Welt keinen Sinn in sich selbst trägt; sie empfängt ihren Sinn aus dem spirituellen Reich und symbolisiert ihn. "Alles, was Sinn und Wichtigkeit in unserem Leben hat, ist nur ein Zeichen, ein Symbol eines anderen Reiches", erklärt Berdjajew mit Solowjew (81). Wie es für die Viktoriner war, so ist es auch für Berdjajew, das materielle Reich ist erfüllt mit den Spuren des göttlichen Reiches. Die "göttliche Trinität wird überall in unserer Welt wiederholt […]; alles, was im himmlischen Reich geschieht, findet in dem unteren statt" (82).

 

Berdjajew jedoch personalisiert und humanisiert diese viktorinische Version des Symbolismus. Für ihn ist das Hauptsymbol des göttlichen Reiches in der materiellen Ordnung der Existenz die menschliche Person. Die menschliche Person, die "Bild und Abbild Gottes ist", ist das genaueste Symbol der Gottheit (83). Jeder von uns ist ein Mikrokosmos; wir finden die Erkenntnis Gottes und der Welt in unserer Tiefe (84). Symbolische Philosophie übermittelt auch die personalistische Wahrheit, dass wir in unserer Beziehungsfähigkeit und dem Schöpfertum dem dreieinigen Gott gleichen. Deshalb sind Gott und Mensch lebendige Personen, unsere Beziehungen konstituieren "das konkrete Drama von Liebe und Freiheit", das abstrakte Metaphysik unfähig ist, zu beschreiben. Die mythische und symbolische Sprache der hebräischen Propheten überbringt diese existentielle Wahrheit über den Bund zwischen Gott und den Menschen besser als die griechischen Philosophen (85). Die göttliche Dreieinigkeit wird auch im menschlichen Schaffen widergespiegelt, "die höchste anthropologische Offenbarung der Trinität" (86).

 

In Filosofiia svobodnogo dukha [Die Philosophie des freien Geistes] weicht Berdjajew diese Forderung auf. Es sind nicht wir in unserem gefallen Zustand, sondern der Gott-Mensch Jesus Christus, der das vollkommene Symbol Gottes ausmacht. "Die Geburt des Sohnes Gottes in diese Welt, sein Leben, sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung sind ein einzigartiges Symbol in seiner Bedeutung, ein zentrales, absolutes Symbol von Ereignissen in der spirituellen Welt" (87). Philosophie und Theologie müssen weder bei Gott noch beim Menschen, sondern beim Gott-Menschen beginnen, weil das Zusammentreffen und die Interaktion Gottes und des Menschen das ursprüngliche Phänomen des religiösen Lebens ist. Das Mysterium der Trinität und der trinitarischen Liebe, das Mysterium der Schöpfung als Gottes Liebe für sein Anderes, kann durch Christus erreicht werden, dem letzten Symbol Gottes: Nur eine mystisch-symbolische Theologie kann sich zum esoterischen Verstehen des Mysteriums der Schöpfung als dem inneren Leben der dreieinigen Gottheit erheben als Gottes Sehnsucht nach einem anderen, nach einem Freund, nach einem, der liebt und geliebt wird, denn Liebe, verwirklicht in dem Geheimnis des Drei-in-eins, die gleichermaßen oben und unten ist, im Himmel und auf Erden (88).

 

Das Mysterium der göttlichen Dreieinigkeit wird "widergespiegelt und symbolisiert überall im Leben des Menschen und der Welt" Er nennt diese exemplarische Widerspiegelung die ursprüngliche Tat der Existenz (89).

 

Berdjajew, eine zentrale Gestalt in der russischen religiösen und philosophischen Renaissance des zwanzigsten Jahrhunderts, beeinflusste seine russischen Kollegen in Philosophie und Theologie tief. Er beherrschte die russische philosophische Szene für ein halbes Jahrhundert (1898-1948) und nahm an wichtigen philosophischen Vorhaben teil, solchen wie den St. Petersburger und Moskauer religiös-philosophischen Gesellschaften ebenso wie an verschiedenen philosophischen Symposien und Veröffentlichungen, solche wie Die Probleme des Idealismus, Wegzeichen und De Profundis. In den 1920er und 1930er Jahren edierte er Put’, die wichtige philosophische Zeitschrift der russischen Emigration, veröffentlicht in Paris. Dank des journalistischen Stils seiner Philosophie und des existentiellen Wirkung seines Denkens wurde Berdjajew der bekannteste und einflussreiche russische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts. Er entwickelte seine Philosophie im fortwährenden Dialog mit seinen Zeitgenossen. Berdjajew baute eine Brücke zwischen mittelalterlichem mystischem Denken und dem Personalismus des zwanzigsten Jahrhunderts und trug zur Entwicklung der russischen zeitgenössischen Liebestheologie der Trinität bei.

 

 

Schluss