Nikolai Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik (Schöpfertum und Objektivation), Waltrop 2001

 

Heinrich Michael Knechten

 

 

Mit diesem Werk: Опыт эсхатологической метафизики (Творчество и объективация), Paris 1947, haben Gertraude Bambauer (Übersetzung) und Klaus Bambauer (kommentierende Anmerkungen) ihre verdienstvolle Arbeit an einer Vermittlung des geistigen (und geistlichen!) Erbes Berdjajews in Buchform abgeschlossen.

 

Zunächst ein Hinweis zur Themenstellung der Arbeit. Berdjajew kennzeichnet in diesem Werk (S. 58) die russische Religionsphilosophie folgendermaßen: "Unser schöpferisches philosophisches Denken war religiös gefärbt, es zeigte sich darin die Sehnsucht nach dem Reich Gottes und die Unmöglichkeit, sich mit dieser Welt abzufinden. Die fundamentalen Probleme waren keine Probleme der Erkenntnistheorie, der Logik oder der abstrakten Metaphysik, sondern Probleme der Geschichtsphilosophie, der Religionsphilosophie und der Ethik. Man kann spezifisch russische Themen entdecken. Zu solchen Themen zähle ich das Thema der Gott-Menschheit (тему о Богочеловечестве), das eschatologische Thema und das Thema des Endes der Geschichte."

 

Wer sich "nach Kant" zum Thema der Metaphysik äußert, hat zunächst die Aufgabe, sich mit den Analysen des Königsberger Philosophen auseinanderzusetzen. Berdjajew schreibt dazu: "Es ist nicht richtig, dass Kant jede Metaphysik beendet; er macht bloß einer naturalistischen, rationalistischen Metaphysik ein Ende, der Metaphysik, die vom Objekt, von der Welt ausgeht. Er eröffnet die Möglichkeit einer Metaphysik aus dem Subjekt, einer Metaphysik der Freiheit. Kants Unterscheidung der Ordnung der Natur und der Ordnung der Freiheit enthält eine ewige Wahrheit. Gerade Kant ermöglicht eine existentielle Metaphysik; die Ordnung der Freiheit ist auch Existenz. [...] Die alte, unkritische Metaphysik basierte auf der Vermischung von Subjekt und Objekt, von Denken und Gegenstand, und gerade deshalb war sie von einer falschen Objektivität durchdrungen." (S. 14f).

 

Berdjajew führt aus: "Ist es wahr, dass das Realste das ist, was am meisten zu seiner Anerkennung nötigt? Philosophische Erkenntis ist ein Akt der Selbstbefreiung des Geistes von den ausschließlichen Ansprüchen der Welt der Phänomene auf Realität." (S. 9). "Freiheit ist Beginn und Ende aller Philosophie." (S. 36). "Die Erkenntnis selbst kann als gott-menschlicher Prozess verstanden werden, in dem die zwei Prinzipien wirken." (S. 60) "Metaphysik ist empirisch in dem Sinne, dass sie auf spiritueller Erfahrung gründet. Sie ist die Symbolik dieser Erfahrung." (S. 65). "Denken und Erkenntnis sind immer emotional, und das emotionale Moment gibt den Ausschlag." (S. 20). Von daher kritisiert Berdjajew Kant: "Kant war kein Impersonalist, im Gegenteil, seine Metaphysik ist personalistisch. Aber sein Fehler lag eben im Zulassen der Existenz der reinen Vernunft und des reinen Denkens. Reines Denken existiert nicht; das Denken ist reich an Willensäußerungen, Emotionen und Leidenschaften, und sie spielen in der Erkenntnis nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Rolle." (25). "Philosophische Erkenntnis ist die Erkenntnis der Wahrheit (des Richtigen), nicht des Seins. [Философское познание есть познание истины (правды), а не бытия.] Erkenntnis der Wahrheit aber ist ein Erheben des Geistes zur Wahrheit, ein spiritueller Aufstieg und ein Eindringen in die Wahrheit." (S. 67). "Philosophische Erkenntnis kann nur auf Erfahrung, auf spirituelle Erfahrung gegründet sein, und darin vollbringt der Geist als ganzer den Akt der Erkenntnis." (S. 70).

 

"Es gibt keinerlei Wahrheit im Objekt; Wahrheit ist nur im Subjekt. Wahrheit gehört nicht zur Erscheinungswelt, sondern zur noumenalen Ideenwelt. Wahrheit ist Beziehung, aber keineswegs eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, keine Reflexion des Objekts im Subjekt [...] Wahrheit ist ein schöpferischer Akt des Geistes, in welchem Sinn entsteht." (S. 73f). "Wahrheit ist Sinn, vor aller Zeit geboren in Gott, dem Existierenden. Und diese Geburt wiederholt sich in jedem Existierenden, mit ihr hängt das Erscheinen der Persönlichkeit zusammen. Die Persönlichkeit ist nicht das Produkt eines Geburtsprozesses, sie ist ein Produkt von Sinn und Wahrheit." (S. 75f). "Die Wissenschaft, nicht die Philosophie, ist die Entdeckung von Prinzipien und Gesetzen für die Orientierung in der Wirklichkeit. Aber die höchste Wahrheit ist eschatologisch und entlarvt dadurch die konventionelle Lüge des Pragmatismus, die Lüge eines optimistischen Lebenskultes. Wahrheit ist nicht von der Welt, sondern vom Geist." (S. 83). "In jedem wahren Akt der Erkenntnis bricht das Ende der Welt, das Ende der versklavenden Objektheit an." (S. 84). "Für mich hängt der zentrale Gedanke der eschatologischen Philosophie mit der Interpretation des Falls als Objektivation [с пониманием падшести, как объективации] und des Endes als der endgültigen Überwindung der Objektivation zusammen." (S. 86).

Provozierend schreibt Berdjajew: "Wahrheit ist im Existierenden verborgen, und deshalb ist Wahrheit subjektiv und nicht objektiv." (S. 89). Hier wird deutlich, warum seine Ausführungen auch geistlich bedeutsam sind: "Das 'Ich', der Mensch, kann eine Quelle der Wahrheit sein, wenn er in seine eigene Tiefe eingetaucht ist" (S. 89). Das Schöpferische bedeutet Freiheit, die Objektivation dagegen Unfreiheit (vgl. S. 92). "Meine innere spirituelle Erfahrung ist kein Objekt. Geist ist niemals Objekt, das Dasein des Existierenden ist niemals Objekt." (S. 94f). Berdjajew stellt einander gegenüber: "Erscheinung, objektivierte Welt, natürliche und soziale Welt der Notwendigkeit und Knechtschaft, Feindschaft und Herrschaft; noumenale Welt, Geist, Freiheit, Schaffen, Welt der Liebe und des Mitleids, der ganze Kosmos. [...] Objektivation ist das Hinausgeworfenwerden des Menschen ins [sic] das Äußere, ist Veräußerlichung, Unterwerfung unter die Bedingungen von Raum und Zeit, Kausalität und Rationalisierung. In seiner existentiellen Tiefe jedoch steht der Mensch in Verbindung mit der spirituellen Welt und mit dem ganzen Kosmos." (S. 97). "Die Aufgabe ist die Befreiung von der Bestimmtheit von außen und von der Notwendigkeit, von der zwingenden Macht der Objektheit in Natur und Geschichte, das Erlangen von Spiritualität und Freiheit als Fülle realer Existenz, die auf ihrem Höhepunkt immer persönlich ist: persönlich und zugleich gemeinschaftlich. Dies bedeutet Transformation der versklavten Natur durch den Geist." (S. 101).

 

Hier wird deutlich, warum Berdjajew von eschatologischer Metaphysik spricht: "Der Sieg über die Macht der Objektivation ist eine messianische Hoffnung." (S. 102). "Das neue Verstehen des Verhältnisses von Noumenon und Phänomen ist das eschatologische Verständnis. Aber neu muss auch das Verständnis von Eschatologie sein; es muss ein schöpferisch-aktives werden." (S. 107). "Die Antinomie bleibt bis zum Ende dieser Welt in Kraft, ihre Überwindung kann nur eschatologisch sein. Kants Fehler jedoch lag in der Vermischung und Gleichsetzung der Erfahrung mit dem nur zu den Erscheinungen Gehörenden, d.h. in der Negation der Möglichkeit spiritueller Erfahrung." (S. 129).

 

Zum Problem von Sein und Existenz schreibt Berdjajew u.a.: "Sein ist das Allgemeine, das Universale. Aber das Allgemeine hat keine Existenz. Das Universale ist nur im Existierenden, im Subjekt der Existenz, und nicht im Objekt." (S. 139). "Ontologie muss durch Pneumatologie ersetzt werden. [...] Wahrheit ist nicht einfach das, was existiert, Wahrheit ist eine erreichte Qualität und ein Wert, Wahrheit ist spirituell." (S. 140).

 

Berdjajew führt hier den griechischen Begriff MH ON ein. Er versteht hierunter nicht ein absolutes Nichts (das wäre OUK ON), sondern ein "relatives" Nichts, d.h., schöpferische Potentialität, welche in der Freiheit wurzelt (vgl. S. 142). "Geist ist Freiheit und nicht Natur, Geist ist Akt, schöpferischer Akt, und nicht erstarrtes und determiniertes oder sonstiges Sein." (S. 149). Es liegt nahe, dass Berdjajew von dieser Position aus seine Nähe zum Begriff "Ungrund" von Jakob Böhme (+ 1624) erläutert. "In der Finsternis des Ungrunds entflammt ein Feuer, und dies ist Freiheit, meontische, potentielle Freiheit." (S. 153).

 

Wer nun meint, Berdjajew als Existenzphilosophen einordnen und damit in die Nähe Heideggers rücken zu können, beachte folgende Aussage: "Es ist unverständlich, woher bei Heidegger die Erkenntniskraft kommt. Er sieht ausschließlich von unten auf den Menschen und auf die Welt, und so sieht er nur das Untere. Als Mensch ist er von der Welt der Sorge, der Furcht, des Todes und der Alltäglichkeit erschüttert. Seine Philosophie, in der es ihm gelang, eine gewisse bittere Wahrheit, wenn auch nicht die letzte Wahrheit, zu sehen, ist nicht Existenzphilosophie, die Tiefe der Existenz lässt sich darin nicht fühlen. Diese Philosophie bleibt unter der Macht der Objektivation." (S. 167)."

 

Berdjajew bekennt sich zu einem schöpferisch-aktiven Eschatologismus, der zur Verklärung der Welt aufruft (vgl. Selbsterkenntnis, S. 325; in dem hier besprochenen Buch, S. I). Dabei verwendet er (in Anlehnung an Jakob Böhme) seine umstrittene Idee von der unerschaffenen Freiheit (vgl. S. IV). Diese geht dem Sein voran. Sie ist in dem Sinne eine unendliche Energie als sie nicht aufhört, sich zu entwickeln. "In der Welt vollzieht sich ein Kampf zwischen Freiheit und generischem Sein, zwischen Geist und Notwendigkeit. Der Mensch sollte nicht von der Gattungsnatur, nicht vom Objekt, sondern vom Geist abhängen. Aber die Paradoxie und der Konflikt der Beziehungen zwischen dem Individuell-Persönlichen und dem Weltlichen, Generischen, der objektiven Natur, ist innerhalb der Grenzen dieser Welt und des logischen Begriffsdenkens unlösbar." (S. 177). "Die menschliche Neigung zur Selbstentfremdung und Selbstversklavung ist eine der erstaunlichsten Erscheinungen im Leben der Welt." (S. 178). "Aber die menschliche Persönlichkeit ist dazu aufgerufen, für ihre Befreiung einen heroischen Kampf zu führen. Der Kampf für die Persönlichkeit ist ein Kampf für den Geist." (S. 181).

Berdjajew fordert: "Man muss der monistischen Ontologie eine auf existentieller Erfahrung basierende Eschatologie entgegensetzen. Freiheit muss dem Sein gegenübergestellt werden und Kreativität der objektiven Ordnung." (S. 204). "Die Welt kann in einen eschatologischen Äon eintreten, in die Zeit des Parakleten, und dann verändern sich das Angesicht der Welt und der Charakter der Geschichte wesentlich." (S. 220). "Der Mensch ist ein Wesen, das sich selbst und die Welt überwindet; darin besteht seine Würde. Diese Überwindung aber ist das Schaffen." (S. 226). "Das Schaffen nimmt die Verklärung der Welt vorweg. Dies ist der Sinn von Kunst, von jeder Kunst." (S. 228). "Der schöpferische Akt ist auf Unendlichkeit ausgerichtet, die Form des schöpferischen Produkts dagegen ist immer endlich. Das ganze Problem besteht darin: Scheint das Unendliche durch die endliche Form hindurch?" (S. 236). "Das Schaffen muss theurgisch sein, ein Zusammenwirken von Gott und Mensch, d.h. gottmenschlich. Das Schaffen ist die Antwort des Menschen auf den Ruf Gottes. (S. 247). "Der Mensch ist ein endliches, begrenztes Wesen (конечное...существо), das das Unendliche in sich trägt und Unendlichkeit als Ende braucht (требующее бесконечности, как конца). Er ist ein zeitliches Wesen, das Ewigkeit einschließt und Ewigkeit braucht. Metaphysik wird unweigerlich Eschatologie." (S. 280). Der Mensch "ist nicht bloß eine Erscheinung in der Objektwelt. Sein noumenaler Charakter bleibt in ihm. In den Handlungen, die diesem noumenalen Charakter entstammen, kann er diese Welt verändern." (S. 284).

 

Berdjajew schließt fast hymnisch: "Die ausweglose Tragödie des Menschen, die Dialektik von Freiheit, Notwendigkeit und Gnade finden ihre Lösung an der Grenze des göttlichen Mysteriums, in der Gottheit, was tiefer liegt als das Drama zwischen Schöpfer und Geschöpf, tiefer als die Vorstellung von Himmel und Hölle. Hier verstummt die menschliche Sprache. Die eschatologische Perspektive ist nicht nur die Perspektive eines undefinierbaren Weltendes, sie ist die Perspektive jedes Augenblicks des Lebens. In jedem Augenblick des Lebens muss die alte Welt enden und die neue beginnen. Darin ist der Atem des Geistes. Der Äon des Endes ist die Offenbarung des Geistes." (S. 302).

 

Soweit ein grober Überblick über den Gedankengang dieses prophetischen Werkes. Das fehlende Literaturverzeichnis wird durch das Personenregister kompensiert. Auch ein Sachregister wäre nützlich, da Berdjajew nach eigener Aussage kein systematischer Denker ist (vgl. Selbsterkenntnis, S. 377ff; in dem hier besprochenen Buch, S. V). Dennoch ist diese kommentierende Übersetzung von Gertraude und Klaus Bambauer, welche sechzig Jahre nach der Abfassung des Werkes erscheint, eine unentbehrliche Hilfe für die Rezeption der Ideen Berdjajews und eine Auseinandersetzung mit ihnen.

 

Hauptseite