Mystik 5

 

 

Die Interpretation Berdjajews durch G.Koepgen fährt kritisch fort, wenn er in seinem Kapitel "Die römische und die östliche Denkform" (a.a.O., S. 155-163) formuliert: "Berdjajew sieht in der abendländischen Metaphysik einen Naturalismus, der die Dogmen veräußerlicht und die seelischen Erfahrungen objektiviert. Demgegenüber stellt er seine Auffassung vom Wesen des Geistes als Freiheit. Hier haben wir die Grundlage des Gegensatzes zwischen Osten und Westen: die griechische Seelenlehre wirkt in Berdjajew weiter […]. Der Versuch, den Geist als 'Freiheit' im Sinne Berdjajews zu bestimmen, bedeutet eine Auslieferung des Christentums an die griechische Seelenlehre und ihre Abhängigkeit vom Schicksal" (54).

 

Es ist nicht erstaunlich, dass G.Koepgen in einer Art von Apologie erläutert: "Es ist nur die Befangenheit, in die bei allem Schwung und Pneuma doch wieder enge Denkform des Ostens, wenn Berdjajew im römischen Geist nichts als Erstarrung und Naturalismus sehen will […]. Das römische Recht sieht bewusst von allen nationalen Eigenarten ab und will eine auf dem reinen Geist aufgebaute Norm für alle Völker sein. Es ist einseitig vom Gesichtspunkt östlicher Gnosis, dies als 'Erstarrung und tote Form' abtun zu wollen, wobei die Erörterung auf den naiven Standpunkt herabsinkt: man stellt das eigene Ideal der fremden Wirklichkeit gegenüber, statt Ideal mit Ideal zu vergleichen. Die Theologie des Ostens hat einen Zug ins Geniale, sie ist schöpferischer, tiefer und erlösender als die Scholastik, allein damit verbindet sich eine mit der Genialität unvermeidlich hinzunehmende Einseitigkeit der Blickstellung" (55).

 

Koepgen konstruiert einen Gegensatz: "Berdjajews Gnosis ist im Grunde ein geschlossener, rational fassbarer Kosmos, ein System, in das alles sich eingliedert. Wir hingegen sind wirklichkeitsoffen, das bedeutet eine Hingabe an einen Seinszusammenhang, ohne dass wir dies restlos in rationale oder gnostische Einsicht verwandeln können. Der Pluralismus der Denkform muss gewahrt werden" (56).

 

Koepgen bemerkt bei seinen ungenannten zeitgenössischen katholischen Theologen – man könnte evtl. an Julius Tyciak oder Karl Pfleger denken – die zur Zeit der Abfassung des Buches "auftretende Vorliebe für russisches und östliches Geistesleben, wobei allerdings die Zusammenhänge oft unklar sind und nicht selten auf romantisierenden Neigungen beruhen. Eine Rückkehr zur östlichen Denkform wäre ebenso utopisch wie eine Rückkehr ins Mittelalter. Wohl aber gilt es, den Kern der östlichen Denkform in unserer abendländischen Denkweise wieder aufzuweisen und von da weiter zu baueN.Berdjajews Gnosis geht offenkundig stellenweise in Gnostizismus über. So spricht er von einer Notwendigkeit des Bösen, die in Dialektik umschlägt, das Individuum in den Strudel historischen Werdens hineinzerrt" (57).

 

G.Koepgen formuliert aufgrund seiner dezidierten Haltung ein deutliches Ergebnis: "Darum liegt ein Abgrund zwischen unserer Denkvorstellung und der Berdjajews, in der das Böse zu einem notwendigen Durchgangsprinzip für das Gute wird. Das Geheimnis religiöser Wirklichkeit besteht darin: Gott will weder die absolute Freiheit des Geistes im Sinne Berdjajews, noch die absolute Erstarrung und Gesetzlichkeit. Gott will beides! Gesetz und Freiheit!" (58).

 

Dennoch kommt Koepgen dem russischen Denker recht konziliant entgegen: "Das von Berdjajew Gemeinte ist in einem gewissen Sinne richtig und durchaus christlich. Doch die Wahrheit liegt nicht nur in einer Übereinstimmung des Denkens mit den Tatsachen, sondern im religiösen Zusammenhang vor allem in der Wahrung der Denkform. Religiöse Gegensätze stammen nicht aus falschen Behauptungen, die man als Lügen entlarven könnte, sondern aus der Verschiedenheit der Denkordnung. Zur richtigen Denkform im Religiösen kommt man aber nicht etwa durch das Studium der Erkenntnistheorie, sondern sie ist eine Gabe, die dem Gläubigen allein zuteil wird. Berdjajew lässt sich nicht widerlegen, nur überwinden" (59).

 

Um der Vollständigkeit willen möchten wir auf eines seiner Schlusskapitel unter dem Thema "Katholische Existenz heute" (S. 334-340) verweisen, wo G.Koepgen sich noch einmal recht ausführlich den Stellungnahmen Berdjajews im Zusammenhang seiner Diskussion über die „letzten Dinge“ (Hölle, Verdammnis u.s.w.) zuwendet und ausführt: "Nur einer der jetzigen Theologengeneration hat das Schicksal des Menschen im Jenseits mit der genialen Tiefe und Kühnheit seines Denkens überdacht; das ist Nikolai Berdjajew. Er sieht die verschiedenen Möglichkeiten, die unsere christliche Existenz bedrohen. Zunächst den okkultistischen Alp einer unendlichen Evolution! Dagegen wehrte sich Augustinus in seiner Widerlegung der Apokatastasis. Der zweite ist der mystische Alp: das völlige Aufgehen der Persönlichkeit in Gott oder dem Absoluten. Im Buddhismus und in der Kabbala steht diese Möglichkeit offen; im Christentum ist sie durch die Offenbarung der Persönlichkeit ausgeschlossen. Bleibt noch ein drittes: die ewige Hölle." (60).

 

Exkurs: Berdjajew und die Theologie

 

Es ist sicher verfehlt, den russischen Denker Berdjajew einer Theologengeneration zuzurechnen, wie es hier geschieht. Dagegen hätte sich sein "freier, dogmatisch ungebundener Geist" streng gewehrt. Er hat immer deutlich gemacht: "Ich bin kein Theologe und mein Zugang zu diesen Dingen und ihre Formulierung ist nicht theologisch". Nichts konnte mehr seinen Standpunkt verdeutlichen als diese beiden Feststellungen: "Ich bin ein Philosoph, ich bin kein Theologe" (61). Er wünschte, Philosoph genannt zu werden. "Nur ein Theologe", so versicherte er, "kann ein Häretiker sein"; und er legte keinen Wert darauf, Theologe zu sein.

 

Im Blick auf sein Verhältnis zur Theologie zog Berdjajew die Demarkationslinie in höchst ungewöhnlicher Weise, höchst unschmeichelhaft gegenüber der Theologie. Häufig kam er auf die Verfolgung der Philosophen durch die Theologen zu sprechen und betrachtete diese Tatsache nicht als zufällig. "Im Gegenteil sie entstand aus der Natur von Philosophie und Theologie. Der Konflikt zwischen ihnen war möglich, weil sie sich das gleiche Thema teilten" (62). Im Blick auf die Unterschiede zwischen Theologie und Philosophie gefragt, antwortete er, dass, wenn für Philosophie alles möglich ist, sie frei sein müsse. Sie breche keinen Zwang, anders als die Theologie, könne sie sich die Ergebnisse der Erkenntnis nicht von außen aufzwingen lassen. Er sah die Theologie vermutlich als des Menschen unfreie erkenntnismäßige Reaktion auf die Offenbarung, während die Philosophie sich von der Theologie schlicht aufgrund seines freien Wesens unterscheidet.

So sagt der russische Autor in seinem Werk "Das Ich und die Welt der Objekte": "Die von der Philosophie gestellten und gelösten Probleme sind unveränderlich die gleichen, wie sie von der Theologie gestellt werden" (63). Beenden wir unseren nur sehr kurzen, aber notwendigen Exkurs mit einem längeren Zitat: "Nicht nur die Philosophie, sondern auch die Theologie ist ein Erkenntnisakt des Menschen. Die Theologie ist keine Offenbarung, sie ist durchaus menschlich und nicht göttlich. Die Theologie ist auch keine individuelle, sondern eine sozial-organisierte, kollektiv erkenntnismäßige Reaktion auf die Offenbarung. Auf dieser organisierten Kollektivität beruht das Pathos der Orthodoxie. In diesem Bereich spielt sich auch der Konflikt zwischen Philosophie und Theologie, zwischen dem individuellen und dem kollektiven Denken ab. Aber die Offenbarung kann für die Erkenntnis von ungeheurer Bedeutung sein. Für die philosophische Erkenntnis ist die Offenbarung eine Erfahrung und eine Tatsache. Die Transzendenz der Offenbarung ist eine immanente Gegebenheit für die Philosophie. Die philosophische Erkenntnis ist geistig – erfahrungsmäßig, die Erfahrung ist die Intuition des Philosophen. Die Theologie enthält immer irgendeine Philosophie, sie ist eine durch das religiöse Kollektiv legalisierte Philosophie, und das gilt insbesondere für die christliche Theologie" (64).

 

Kehren wir zum oben angesprochenen eschatologischen Thema zurück. Berdjajew hat auf die angesprochene Problematik geantwortet: "Wenn wir die Persönlichkeit und die Freiheit bis an das Ende behaupten, so gelangen wir zu der Möglichkeit der Hölle. Es ist leicht, die Idee von der Hölle zu überwinden, aber damit wird auch die Persönlichkeit und die Freiheit aufgegeben. Anderseits verträgt sich die Persönlichkeit und unsere Freiheit nicht mit der ewigen Höllenqual; unser sittliches Empfinden protestiert gegen die Höllenqualen, sei es auch nur eines einzigen Wesens. Ich könnte noch die Möglichkeit der Höllenqualen für mich selber gelten lassen und durchlebe nicht selten das Vorgefühl hiervon. Aber nur mit Mühe kann ich sie für andere zugeben. Möglich ist es noch, die Höllenqualen vom Standpunkt des Menschen aus zuzugeben; aber unmöglich ist es, sie vom Standpunkt Gottes aus zuzugeben" (65).

 

c) Lew Schestow

 

In einer umfangreichen Studie mit dem Titel "Gnosis und Existenzphilosophie" hat sich der russische Philosoph Lew Schestow (* 1866 Kiew, † 1938 Paris) mit der Philosophie seines Freundes N.Berdjajew beschäftigt (66). Schestow, dessen nähere Beziehungen zu Berdjajew von Berdjajews Biograph, D.A.Lowrie in "Rebellious Prophet – A life of Nicolai Berdyaev" (67) ausführlich beschrieben werden, charakterisiert schon einleitend den ihm in mancher Beziehung geistesverwandten Religionsphilosophen: "Nikolaj Berdjajew ist zweifellos der hervorragendste unter jenen russischen Denkern, die sich nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch in Europa Gehör zu verschaffen verstanden haben. Seine Werke sind in viele Sprachen übersetzt und wurden überall mit größter Sympathie, ja mit Begeisterung aufgenommen. Wir werden uns daher wohl keiner Übertreibung schuldig machen, wenn wir seinen Namen in einem Zug mit den zur Zeit bekanntesten und bedeutendsten Philosophen wie Jaspers, Max Scheler, Nicolai Hartmann und Heidegger nennen […]. Man kann sagen, das russische philosophische Denken sei durch Nikolaj Berdjajew repräsentiert, erstmals vor das Forum Europas oder vielmehr sogar der ganzen Welt getreten" (68).

 

Schestow macht darauf aufmerksam, dass Berdjajew in seinem Buch "Das Ich und die Welt der Objekte" (1952), seinem "Versuch einer Philosophie der Einsamkeit und Gemeinschaft" gegenüber seiner frühen Begrifflichkeit, die weithin um die "Gnosis" kreiste, nun von der von Kierkegaard als Terminus eingeführten "Existenzphilosophie" spricht, obwohl er sich für Kierkegaards Philosophie – wie Schestow ausführt – "wenig interessiert und von ihr fast gar nicht redet". Schestow sieht, dass Berdjajews philosophischer Stammbaum vielmehr auf den berühmten deutschen Mystiker Jakob Böhme und über Böhme auf den deutschen Idealismus zurückgeht. Schestow charakterisiert Berdjajews Intentionen so: "Aber seine Begeisterung für Kant wie auch die Gewissheit, dass der Weg zur Wahrheit über die Gnosis geht, lässt ihn zuweilen das ‚freie’ deutsche Denken fast mit Neid betrachten. 'Sogar im Evangelium', so schreibt er [Berdjajew], 'ist die Reinheit der Offenbarung des Geistes durch die menschliche Beschränktheit getrübt […]. Die Phänomenologie der Offenbarung soll zu der Erkenntnis der Wahrheit führen, dass dem Geist, das heißt der Freiheit, der absolute Primat vor jeglichem objektiviertem Sein zukomme" (69).

 

Schestow erläutert in seiner weiteren Darstellung Berdjajews positives Verhältnis zu J.Böhme und dessen Gedanken von der „verweltlichen und unerschaffenen Freiheit“. Schestow spricht pointiert die Kontinuität philosophischen Denkens an: "Aber weder Böhme noch die deutschen Idealisten noch Berdjajew halten sich durch die Heilige Schrift gebunden, genauer gesagt, es liegt ihnen der Gedanke fern, Offenbarung könne man nur in der Heiligen Schrift suchen und finden. Es gibt auch noch eine andere Quelle der Offenbarung – wir nannten sie bereits: die Gnosis. In ‚Die Philosophie des freien Geistes’ setzte sich Berdjajew in entschiedenster Weise für jene Auffassung der Freiheit ein, die Böhme der deutschen Philosophie einpflanzte" (70). Im Blick auf den von J.Böhme entwickelten Gedanken der unerschaffenen Freiheit, den Berdjajew in seinem Aufsatz „Jakob Böhmes Lehre von Ungrund und Freiheit“ noch wesentlich vertiefte (71), bemerkt Schestow: "Wollte man Berdjajew fragen, woher er das alles wisse, so würde er sich gelassen auf die Gnosis berufen: das alles sei ihm aus Erfahrung, allerdings nicht natürlicher, sondern ‚geistiger’ Erfahrung bekannt. Und er würde sich auf das Zeugnis der großen Mystiker, vor allem der deutschen Mystiker berufen – wiederum auf Böhme, auf Meister Eckhart, Angelus Silesius, Tauler und andere" (72).

 

Wer das Werk Berdjajews kennt, der weiß, dass der Autor sich häufig auf diese „geistige“ Erfahrung berufen hat, die seine bisherige Welterfahrung jäh veränderte und die ihm einen "Durchbruch in andere Welten erschloss". Wie kann diese "Erfahrung" genauer beschrieben werden? Schestow hat es versucht: "Wissen, jegliches Wissen, jegliche ‚Gnosis’ setzt eine gestaltete – abgeschlossene, endgültige – Erfahrung voraus. Alle soeben angeführten Urteile Berdjajews [wie z.B. über die unerschaffene Freiheit u.s.w.] können gerade deshalb mit Recht als ein Wissen bezeichnet werden, weil ihnen diese Form – die Form der Allgemeinheit und Notwendigkeit – unbestreitbar eignet" (73). Schestow hinterfragt freilich auch vom philosophischen Standpunkt her kritisch das, was Berdjajew mit seiner Erfahrung oder auch Intuition als Erkenntnisquelle beschreibt: "Wie sollte man dann wissen, welche Erfahrung die Wahrheit [bei der Verschiedenartigkeit menschlicher Erfahrungen] offenbare?" Es ist hier die von Schestow aufgeworfene Frage zu beantworten: "Wie steht es mit der Erfahrung, nicht der beschränkten Rationalisten, sondern bedeutender, großer Genies, Propheten und Mystiker – zu denen, wie Berdjajew selbst sagt, Meister Eckhart, Tauler, Angelus Silesius, Jakob Böhme und andere zählen? Das ist eine Frage von höchster Wichtigkeit, die eine eingehende Behandlung erheischt" (74).

 

 

Fortsetzung