Der mehrfache Schriftsinn bei Origenes

 

 

Heinrich Michael Knechten

 

 

Origenes wird um 185 in Alexandrien geboren. In seinem Studium entdeckt er im Platonismus viele Gedanken, die nach seiner Auffassung in ähnlicher Weise in der Heiligen Schrift zu finden sind. Da Origenes in seiner Lehrtätigkeit bisher offene Fragen beantwortet, gerät er in Konflikt mit seinem Bischof und wird aus der alexandrinischen Gemeinde ausgeschlossen. Origenes ist nun in Cäsarea tätig. In der Verfolgung des Decius wird er so schwer gemartert, dass er um das Jahr 253 an den Folgen stirbt.

 

Origenes spricht vom einfachen Sinn der Schrift: Christus eint alle Schriftaussagen (Johanneskommentar 5,5, Die Griechischen Christlichen Schriftsteller (GCS) 10, 102).

 

Der zweifache Schriftsinn ist dort zu finden, wo sich nichts „Leibliches“, kein wörtlicher Sinn eruieren lässt. Dann gibt es dort nur Seele und Geist der Schrift (Über die Prinzipien, zwischen 220 und 230 entstanden, 4,2,5, Görgemanns u. Karpp, 712).

 

Im Anschluss an Spr 22,20f stellt Origenes fest: Dreifach muss man in seiner Seele die Sinne der heiligen Schriften schreiben, damit der Einfältige von dem Fleisch der Schrift erbaut werde, wer aber ein wenig fortgeschritten ist, von ihrer Seele, der Vollkommene jedoch von dem geistlichen Gesetz (Über die Prinzipien 4,2,4, Görgemanns u. Karpp, 708). Schriftsinne sind bei Origenes noēmata, Verstehensmöglichkeiten. Fleisch entspricht dem Literalsinn, der auch historischer Sinn genannt wird; Seele wäre Tropologie, moralischer Sinn; das geistliche Gesetz (vgl. Röm 7,14) entspricht der Anagōgē oder dem mystischen Sinn (Matthäuskommentar 10,14, GCS 40, 17; Levitikushomilien 5,5, GCS 29, 344; Ezechielhomilien 7,10, GCS 33, 399; Genesishomilien 2,6, GCS 29, 36; H. de Lubac, Histoire et esprit, 141f;). Es ließe sich auch von Wortsinn, christologischem und eschatologischem Sinn sprechen (Johanneskommentar 10,15, 85-87, GCS 10, 185f; R.Gögler, Evangelium, 74).

 

J.Daniélou spricht von einem vierfachen Schriftsinn, dem historischen, mystischen, geistlichen und eschatologischen (Origène, 165). Hierbei kombiniert er verschiedene Stellen bei Origenes miteinander.

 

H.-J.Vogt führt fünf Schriftsinne auf, für Anfänger, wenig und mehr Fortgeschrittene, für die, welche nah an die Tugend herankommen, und für die, welche in ihr leben (Gegen Celsus 4,16, GCS 2, 285; Later Exegesis, 587). Dies entspricht dem stoischen Fortschrittsschema.

 

 

Der christologische Sinn

 

Die vielen Worte der Schrift sind in dem einen Logos geeint (Johanneskommentar 5,5, GCS 10, 102; de Lubac, Histoire, 337). Die Bilder, welche die Heilige Schrift gebraucht, sind verschieden, der Sinn aber ist nur einer (Römerkommentar 6,7, Fontes Christiani (FC) 2/3, 246; de Lubac, Histoire, 170). Christus eint die verschiedenen Sinne der Schrift. Der christologische Schriftsinn ist nicht einfach ein Schriftsinn unter vielen, sondern er ist der tiefste, der eigentliche Sinn der Heiligen Schrift, er eint Altes und Neues Testament (Römerkommentar 6,7, FC 2/3, 244).

 

Das Kommen Christi offenbart die göttliche Inspiration und den geistlichen Sinn der Heiligen Schrift (Über die Prinzipien 4,1,6, Görgemanns u. Karpp, 688; Crouzel, Origène et la „connaissance mystique“, 240). Da in ihm alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind (Kol 2,3), kann Origenes die Verbindung zwischen Inkarnation und Schriftwerdung herstellen: Wie das Wort Gottes bei der Menschwerdung vom Fleisch verhüllt wurde, so wird es hier vom Schleier des Buchstabens verhüllt, sodass der Buchstabe gleichsam als das Fleisch angeblickt, der darin verborgene innere Sinn aber gleichsam als Gottheit verstanden wird (Levitikushomilie 1,1, GCS 29, 280). Dies klingt doketisch. Zu beachten ist aber, dass Origenes deutlich gegen den Doketismus Stellung bezieht (Johanneskommentar 10,6,25, GCS 10, 176; Gögler, Zur Theologie, 300f).

 

Wenn wir die Heilige Schrift lesen, begegnen wir in ihr Christus, der uns den Zugang zum Vater eröffnet (Mt 11,27). In seinem Spätwerk Gegen Celsus bekräftigt Origenes dies. Celsus war, wie allgemein der Mittlere Platonismus, davon überzeugt, dass Gott wegen Seiner Transzendenz mit dem Wort nicht zu erreichen sei. Origenes jedoch schreibt: Gott ist für den Logos (Christus) zugänglich und für jeden, dem Er den Vater offenbart (Gegen Celsus 6,65, GCS 3, 135; v. Stritzky, Studien, 106). Christus ist also der eigentliche Lehrer der Heiligen Schrift, da Er auch ihr wesentlicher Inhalt ist: „Hearing the teachings of Christ is to be in the presence of Christ himself“ (Torjesen, Hermeneutical Procedure, 48). Das Verstehen der Schrift eint mit dem Logos (Johanneskommentar 1,426, GCS 10, 17-22; Johanneskommentar 2,8,60, GCS 10, 62; Gögler, Grundlage, 13).

 

 

Der Literalsinn

 

Origenes bemüht sich zunächst um einen exakten Bibeltext. Schriftauslegung beginnt mit der so genannten Textkritik. Er wertet die Qualität der Handschriften, studiert den hebräischen Text, vergleicht die griechische Übersetzung der Septuaginta und andere Übersetzungen (Johanneskommentar 6,6,40, GCS 10, 115).

 

Origenes hat einen wissenschaftlichen Eros, der ihn dazu bringt, das Riesenwerk der Hexapla zu erstellen, die philologische Grundlage seiner Schriftauslegung. Hier finden sich der hebräische Text mit Umschrift und mehrfache Fassungen der griechischen Übersetzung. Origenes bemerkt, dass die Unterschiede in den Handschriften durch Abschreibefehler entstanden sind. Er versucht, den ursprünglichen Text herauszufinden (Matthäuskommentar 15,14, GCS 40, 387-389). Bahnbrechend ist, dass er den hebräischen Text einbezieht und ihn mit der griechischen Übersetzung, die in der Kirche verlesen wird, vergleicht (Jeremiahomilien 14,3, GCS 6, 107). Er fragt Rabbiner nach der Bedeutung schwieriger Texte (Daniélou, Origène, 282).

 

Origenes zieht Hilfswissenschaften heran. Er gibt historische, geographische, philosophische (Cadiou, Dictionnaires, 271-285: Origenes zitiert Definitionen für Gott, Paradox und Ursprung gemäß den Definitionen zeitgenössischer Philosophen), medizinische, grammatische und naturgeschichtliche Erklärungen (Crouzel, Origène, 92). Die historische Erklärung ist das Fundament der ganzen Schriftauslegung (Genesishomilien 2,6, GCS 29, 36).

 

Inkarnation und Heilsgeschichte sind grundlegend. Wie Christus nicht in Phantasie, sondern in Wirklichkeit Fleisch hatte, so ist auch der Bericht der biblischen Schriften wahr (Matthäuserklärung II, 92, GCS 38, 208). Es liegt also keine Abkehr vom heilsgeschichtlichen Denken vor, wie Görgemanns und Karpp (Von den Prinzipien, 23) meinen. Origenes unterscheidet das historische Faktum von dessen anthropomorpoher Darstellung, geht also kritisch vor (Gögler, Theologie, 334).

 

Wie sich die Speisen entsprechend der Natur des Kindes in der Mutterbrust in Milch verwandeln, so verändert auch Gott die Kraft Seines Wortes, das dazu bestimmt ist, die menschliche Seele zu nähren, für einen jeden Menschen gemäß seiner Würdigkeit. Dem Beginnenden wird gleichsam Milch dargereicht (1 Kor 3,2; Gegen Celsus 4,18, GCS 2, 287). Das Wort der Schrift passt sich also dem jeweiligen Menschen an, gemäß seinem Fortschritt in Richtung auf die Vollkommenheit des Wortes (Matthäuserklärung II, 39, GCS 38, 76). Das Prinzip der Adaption orientiert sich daran, dass nicht allen die gleiche Menge an Nahrung genügt (Johanneskommentar 13,33,205, GCS 10, 258). Hier handelt es sich um einen organischen Prozess: Wie das Kind heranwächst und als Erwachsener das isst, was Erwachsenen zukommt, so ist auch der Leser und Hörer der Schrift aufgerufen, im Verständnis der Schriften zu wachsen. Das erste Ziel des Geistes ist die Belehrung über die verborgenen Geheimnisse, damit der Belehrbare die Tiefen des Sinnes der Wörter erforsche (1 Kor 2,10; Über die Prinzipien 4,2,7, GCS 22, 318f; M.Harl, Origène et la fonction, 245f).

 

Es genügt nicht, dem bloßen Wortlaut der Weissagungen über Christus zu folgen (Über die Prinzipien 4,2,1, GCS 22, 306). Der Logos Gottes wird beim Einzug in die Seele, die Jerusalem genannt wird, von der Eselin getragen, welche die Jünger von den Fesseln lösten, nämlich von dem einfachen Buchstaben (Johanneskommentar 10,28,174, GCS 10, 22-25).

 

R.P.C.Hanson, Allegory, 257f, spricht von einem exegetischen Selbstmord Origenes’, weil dieser der Meinung sei, alle Passagen der Heiligen Schrift müssten einen geistlichen Sinn hinsichtlich der christlichen Lehre haben. So radikal ist Origenes nicht. Wenn er schreibt, dass der historische Sinn zerstört werden müsse, damit der mystische Tempel der Heiligen Schrift erbaut werden könne, zitiert er nicht seine eigene, sondern eine fremde Meinung (Mk 14,58; Matthäuserklärung II, 31, GCS 38, 56f; Hanson, Allegory, 245): „Et tertiam expositionem introducit quis huiusmodi“ (GCS 38, 56). Es geht um die Einsicht, dass der Glaube an Christus zum Verständnis der Schrift führt.

 

Origenes verteidigt den Literalsinn gegenüber den Gnostikern. Hier zeigt sich die dialektische Struktur seines Denkens. Er wendet sich gegen alle, welche den Wortlaut verachten und sich Allegorien zukehren (Matthäuskommentar 15,15, GCS 40, 391). Moses steht für das Gesetz und Elias für die Propheten. Beide hatten an der Verklärung teil (Mt 17,3); die Herrlichkeit Christi strahlte in  ihnen auf. Der Buchstabe wird transparent auf Christus hin (Matthäuskommentar 12,38, GCS 40, 155).

 

David interpretierte das Bundeszelt geistlich (Exodushomilien 14,2, GCS 29, 236f). Der Literalsinn offenbart Gott. Die biblischen Schriften sind besser als Plato, weil sie in ihrer einfachen Sprache vielen Menschen geistliche Nahrung spenden, Plato und die anderen griechischen Weisen in ihrer schönen Sprache dagegen nur den Intellektuellen. (Gegen Celsus 7,60, GCS 3, 209f). Bekehrung bedeutet, zum Kreuz Christi zu gehen. Die Weisheit der Vollkommenen besteht darin, noch einen Schritt weiterzugehen und auf die in ihnen gekreuzigte Weisheit der Welt zu verzichten (Matthäuserklärung II, 32, GCS 38, 58f; de Lubac, in: Doutreleau, Paris 1944, 38).

 

 

Der moralische Sinn

 

„Was nützt es denn, wenn Jesus in jenes Fleisch gekommen ist, das Maria empfing, ich aber nicht in meinem eigenen Fleisch zeige, dass Er kommt?“ (Genesishomilien 3,7, GCS 29, 49). Der Sinn einer Schriftstelle ist nicht erfasst, wenn der Mensch dieses Wort nicht zu einem Wort für ihn ganz persönlich auffasst. Jeder soll versuchen, einen eigenen Brunnen und eine eigene Quelle zu erhalten (Genesishomilien 12,5, GCS 29, 112; Numerihomilien 12,1, GCS 30, 94; Jeremiahomilien 1,2, GCS 6, 2: „Was bedeutet diese Geschichte für mich?“; Klostermann, Formen, 206). „Was nützt es, wenn Christus im Fleisch in diese Welt kam, wenn er nicht zu deiner eigenen Seele kommt?“ (Lukashomilien 22, GCS 49, 134). „Um unseretwillen wurde es nämlich geschrieben“ (1 Kor 9,10). Siehe auch die moralische Allegorie bei Philo von Alexandrien (P.Boyance. Études, 67).

 

Der moralische Sinn ist bei Origenes weitgehend identisch mit dem seelischen Sinn (Über die Prinzipien 4,2,6, GCS 22, 315). Jedes Schriftwort soll geistlichen Nutzen bringen. Die Heilige Schrift erzählt nicht unverbindlich über Vergangenes, sondern um unseres Nutzens willen (Exodushomilien 2,1, GCS 29, 155; Über die Prinzipien 4,2,8, GCS 22, 320f; M.Simonetti, Lettera, 79).

 

Die einfachen Schriftworte haben die Kraft, Menschen zu bessern (Gegen Celsus 3,68, GCS 2, 260). Dies geht nicht ohne geistlichen Kampf. Sowie das Wort Gottes in die Seele gelangt, erhebt sich der Kampf der Tugenden gegen die Laster (Exodushomilien 3,3, GCS 29, 169).

 

Wer auf dem geistlichen Weg fortschreitet, versteht allmählich besser die Heilige Schrift. Wenn wir uns zum Herrn bekehren, wird der Schleier, der uns die Sicht nahm, von uns genommen (2 Kor 3,16; Exodushomilien 12,1, GCS 29, 263; G.-I.Gargano, La teoria, 57).

 

Gott schuf den Menschen gemäß Seinem Abbild und Gleichnis (Gen 1,26). Wie der Mensch das Abbild des irdischen Menschen getragen hat, so wird er auch das des himmlischen tragen (1 Kor 15,49). Bei der Bekehrung geht es um die Wiederherstellung des ursprünglichen Abbildes Gottes im Menschen (Jeremiahomilien 2,1, GCS 6, 17; H.G.Reventlow, Epochen, 178f).

 

 

Der geistliche Sinn

 

Die Welt wurde in Gegenwart des Heiligen Geistes erschaffen (Gen 1,2). Diese Deutung ergibt sich, wenn man die Erzählung nicht nach dem historischen, sondern nach dem geistlichen Sinn auffasst (Von den Prinzipien 1,3,3, GCS 22, 52; M.J.Edwards, Gnostics, 85).

 

Wer weise ist, der lasse sich raten, damit er Sprüche und Gleichnisse, die Worte der Weisen und ihre Rätsel verstehe (Spr 1,5f). Im Alten wie im Neuen Testament erschweren dunkle Worte das Verständnis (Über die Prinzipien 4,2,3, GCS 22, 310, Zeile 7-9; M.Harl, Origène et les interpretations, 361). Nur, wer den Sinn Christi hat (1 Kor 2,16), versteht die Evangelien (Über die Prinzipien 4,2,3, GCS 22, 310, Zeile 10-12).

 

Die dunklen Worte werden deswegen gegeben, damit alle, welche die Anstrengung nicht scheuen, nach dem tieferen Sinn forschen, ihn finden und die von der Vernunft geforderte Anwendung machen können (Gegen Celsus 7,10, GCS 3, 162; Crouzel, Origène et la connaissance, 263).

 

Die Dunkelheit ist ein wesentliches Charakteristikum der biblischen Texte. Wer dunklen Worten begegnet, möge im Glauben innehalten und abwarten, bis das Verständnis geschenkt wird (Philocalie 1,29, Paris 1983, 214; M.Harl, Pointes, 206.214f).

 

Dazu sind Tränen und unablässiges Gebet notwendig, damit der Herr unsere Augen öffne; denn wir sind blind (Genesishomilien 7,6, GCS 29, 76; Matthäuskommentar 15,30, GCS 40, 440f). Der Paraklet ist der eigentliche Exeget, daher ist es unabdinglich, um das Geschenk des wahren Schriftsinnes zu beten (W.Völker, Vollkommenheitsideal, 97).

 

Um das Johannesevangelium interpretieren zu können, ist der Sinn Christi (1 Kor 2,16) notwendig, damit wir die Gnaden erkennen, die Gott uns schenkt (Johanneskommentar 1,4,24, GCS 10, 9). Nur wer den gleichen Geist hat, der in den Autoren der Heiligen Schrift wohnte, kann die biblischen Worte verstehen (Matthäuserklärung II, 40, GCS 38, 78; G.-I.Gargano, Ascolto, 196). Origenes ist zwar Vertreter der strengsten Verbalinspiration (A.Zöllig, Inspirationslehre, 82), betont aber gegen den Montanismus die Freiheit des Propheten (Ezechielkommentar 6,1, GCS 13, 709). Wir verstehen die Absicht des Gesagten durch den Glauben (Matthäuskommmentar 16,9, GCS 40, 503; v. Balthasar, Parole, Paris 1957, 68).

 

Den mystischen Sinn (mystikós skopós, Johanneskommentar 10,5,19, GCS 10, 175) des Johannesevangeliums versteht nur, wer an der Brust Jesu geruht (Joh 13,23) und von Jesus Maria als seine Mutter empfangen hat (Joh 19,27; Johanneskommentar 1,4,23, GCS 10, 8). Origenes gebraucht geistliches und mystisches Verständnis synonym (Genesishomilien 7,6, GCS 29, 76). Historischer und geistlicher Sinn gehören zusammen, da sie sich wie Fleisch und Gottheit des Logos zueinander verhalten (Levitikushomilien 1,1, GCS 29, 280).

 

 

Typologischer und eschatologischer Sinn

 

Die Geschichte der Wüstenwanderung des auserwählten Volkes ist typisch (typikōs), das heißt vorbildhaft nicht in dem Sinne, dass alle diesem Vorbild folgen sollen, sondern als Warnung (1 Kor 10,11; Über die Prinzipien 4,2,6, GCS 22, 316, Zeile 6f). Paulus gibt Anhaltspunkte für die christologische Auslegung (1 Kor 10,4; Über die Prinzipien 4,2,6, GCS 22, 316, Zeile 8f).

 

Nicht immer ist eine typologische Deutung angebracht. Die Auslegung muss der Schrift würdig sein (Über die Prinzipien 4,2,2, GCS 22, 309). Der Pentateuch und die geschichtlichen Bücher des AltenTestamentes haben allerdings einen typologischen Sinn (Über die Prinzipien 4,2,6, GCS 22, 317f).

 

Das Neue Testament ist ein Vorausbild des Ewigen Testamentes (Offb 14,6: Ewiges Evangelium; Johanneskommentar 1,7,40, GCS 10,12). Das Kommen Jesu Christi in Demut ist ein Vorausbild Seines Kommens in der Herrlichkeit Seines Vaters (Mt 16,27; Über die Prinzipien 4,3,13, GCS 22, 343f; Daniélou, Origène, 172f). Das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament ist also nicht einfach das der Verheißung und der Erfüllung. Auch beim Neuen Testament steht das Entscheidende noch aus.

 

 

Allegorese, Anagoge und Tropologie

 

Typologie ist geschichtlich, Allegorie ist zeitlos. Die verschlüsselnde Redeweise der Allegorie wird durch die Interpretation der Allegorese dekodiert (Ch.Jakob, Allegorese, 146).

 

Gegen die Allegorese wird immer wieder der Einwand erhoben, den bereits Celsus aussprach: Wer die Bibel allegorisch erklärt, tue der Absicht der Schriftsteller Gewalt an (Gegen Celsus 4,87, GCS 2, 359). Origenes fragt folgerichtig, ob nur die Griechen ein Recht auf Allegorese hätten (Gegen Celsus 4,38, GCS 2, 310f; Heraklit, Allegorien Homers 6,1: Wir heilen durch die Apologie). Sie legen Homer und Hesiod ja allegorisch aus (Gegen Celsus 4,48, GCS 2, 320f; E.Hatch, Griechentum, 37: Homer ist die Bibel der Griechenvölker; W.A.Bienert, Allegoria, 51: Philodemos von Gadara, um 600 vor Chr., ist möglicherweise der erste, der den Begriff Allegoria als terminus technicus der Rhetorik verwendet).

 

Origenes verteidigt die Allegorese unter Hinweis auf Paulus (Über die Prinzipien 4,2,6, GCS 22, 316f aufgrund von Gal 4,24. Allerdings sind Sara und Hagar Typen für die Bundesschlüsse; es handelt sich also um eine Typologie). Origenes tritt dafür ein, solche Schriftstellen nicht nur gemäß dem Buchstaben zu hören und zu verstehen. Wer Schüler des Paulus sein will, höre ihn, der sagt, dass das Gesetz geistlich ist (Röm 7,14; Homilien zu Genesis 6,1, GCS 29, 66).

 

Der tiefste Grund für die Notwendigkeit der Allegorie ist, dass der Mensch Gott nur analog und symbolisch denken kann.  Daher hat die Allegorie wesentlich eine vertikale Dimension (H.Crouzel, La distinction, 167f).

 

Daniélou bezeichnet die rabbinischen, philonischen und gnostischen Elemente in der Exegese des Origenes als Allegorismus (Origène, 175). Die christlichen Elemente entsprächen der Typologie (Daniélou, Origène, 166). H. de Lubac macht aber darauf aufmerksam, dass auch Tertullian von Allegorie spricht (Tertullian, Gegen Marcion 3,5, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 47, 383). Bei Tertullian liegt keine besondere Abhängigkeit von Philo und alexandrinischer Exegese vor (H. de Lubac, Typologie, 197).

 

Philo von Alexandrien schreibt, dass es das göttliche Pneuma ist, welches zur Wahrheit führt (Philo, Das Leben Moses 2,265, Opera 4, 263). Philo wurde vom gottgeliebten Moses in die Mysterien eingeführt, danach ging er beim Hierophanten Jeremias in die Schule (Philo, Über die Cherubim 14,49, Opera 1, 182).

 

Bei den Therapeuten geschehen die Erklärungen der heiligen Schriften durch die Erörterung der in Allegorien verborgenen Bedeutung. Die gesamte Gesetzgebung scheint einem lebendigen Wesen zu gleichen: Die wörtlichen Gebote stellen den Leib dar, der in den Worten liegende unsichtbare Sinn (nous) dagegen die Seele (Philo, Über das kontemplative Leben 78, Opera 6, 67).

 

Mit Philo sieht Origenes die Wegleitung durch das Pneuma, welches in den verborgenen Sinn der heiligen Schriften einführt. Mit Paulus sieht Origenes den christologischen Sinn der Allegorese.

 

Auch gegenüber der stoischen Allegorese ist eine Grenzziehung notwendig. Eusebius zitiert Porphyrius, der im 3. Buch seiner Schrift „Gegen die Christen“ berichte, dass Origenes bei den Stoikern Chäremon und Kornutus die allegorische Methode der griechischen Mysterien erlernte und diese Methode auf die „jüdischen“ Schriften anwandte (Eusebius, Kirchengeschichte 6,19,8, GCS 9,2, 560).

 

Ohne hier tiefer auf das Verhältnis des Origenes zur Stoa eingehen zu können (Näheres bei R.E.Heine, Stoic Logic, 90-117), lässt sich doch sagen, dass auch hier die Christologie in der Exegese des Origenes das Unterscheidende ist. Den Umgang mit Paradoxien und Doppeldeutigkeiten lernt Origenes bei den Stoikern. Er benutzt diese Technik aber, um das unsagbare Geheimnis Gottes in menschlichen Worten aussagen zu könnern. Jesus ist es, der das Wasser des Lebens darreicht (Johanneskommentar 13,5f, GCS 10, 229-231).

 

Dies ist alexandrinische Tradition. Clemens von Alexandrien sieht Inkarnation und Schriftwerdung zusammen. Der Charakter der Schriften ist gleichnishaft (parabolikós), da auch der Herr, der doch nicht weltlich (kosmikós) ist, als Weltlicher zu den Menschen kam (Clemens von Alexandrien, Stromata 6,15,126,3, GCS 15, 495).

 

 

Der Terminus Anagoge ist ein Barbarismus (H. de Lubac, Exégèse, 621). Plato verwendet das Wort anágein in den gleichen zwei Bedeutungen, die sich bei Origenes finden: Zurückführen (Gesetze 626D) und Emporführen (Staat 521C). E. v. Ivánka, Plato Christianus, 108, beurteilt Origenes mehr vom Standpunkt des Philologen aus.

 

„Moses schaute im Geiste die Wahrheit des Gesetzes und die Allegorien gemäß der Anagoge der von ihm aufgeschriebenen Geschichten“ (Johanneskommentar 6,4,22, GCS 10, 111). Wie aus diesem Zitat hervorgeht, gibt es Beziehungen zwischen Allegorie und Anagoge. Im Johanneskommentar 1,26,180, GCS 10, 33, werden anágein und allēgoreīn nebeneinander genannt.

 

Anagoge bedeutet, über den Buchstaben hinausgehen (Crouzel, Origène, 114). „Wir werden uns bemühen, jedes der Elemente des Tempels auf die Kirche zurückzuführen (anágein)“ (Johanneskommentar 10,39,267, GCS 10, 216). Es geht um die Korrelation von Leib Christi und Kirche.

 

Außerdem gebraucht Origenes das Wort anágein im Sinne von Emporführen: Christus ist zu uns hinabgestiegen, um uns zu Gott emporzuführen (Mt 17,1; Über die Prinzipien 1,2,4, GCS 22, 32; Gegen Celsus 6,68, GCS 2, 138; Bienert, Allegoria, 65).

 

 

Origenes erwähnt den Vorwurf des Celsus an die, welche die Erzählungen des Moses tropologisieren und allegorisieren (Gegen Celsus 1,17, GCS 2, 69). Auch die Tropologie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie über die bloße Erzählung hinaus einen geistlichen Sinn erarbeitet (Gegen Celsus 5,58, GCS 2, 61: Tropologisieren als Philosophieren; H.J.Vogt, Origenes, Bibliothek der griechischen Literatur 30, 16).

 

Origenes zeigt auf, dass die Heilige Schrift nach Tropologie verlangt. Paulus deute die Ehe auf die geheimnisvolle Beziehung zwischen Christus und der Kirche (Gen 2,24; Eph 5,31f; Gegen Celsus 4,49, GCS 2, 321f). Origenes verwendet hier Tropologie und Allegorie synonym.

 

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Origenes in der Praxis Allegorese, Anagoge und Tropologie nur wenig voneinander unterscheidet.

 

Adamantius, Dialog 4,8, GCS 4, 158, verwendet Tropos im moralischen Sinn. Dies wird in der Folgezeit die Hauptbedeutung dieses Begriffs (E. v. Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn, 7).

 

 

Kirchliche Schriftauslegung

 

Origenes’ Anreger zur geistlichen Exegese ist der Apostel Paulus. Beide suchen die verborgene Weisheit im Geheimnis (1 Kor 2,7; Über die Prinzipien 4,2,6, GCS 22, 316). Paulus gibt Origenes den Schlüssel zum Verständnis der Schrift (E.Dassmann, Paulusverständnis, 29; gegen Hanson, Allegory, 237, Anmerkung 3).

 

Die pneumatische, psychische und somatische Schriftauslegung hat ein Schriftfundament in 1 Thess 5,23: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist (pneūma) samt Seele (psychē) und Leib (sōma) unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.“

 

Dass jede Schrift von Gott eingegeben (theópneustos) und nützlich (ōphélimos) ist, erinnert an 2 Tim 3,16. So wird das Wort Origenes’ verständlich: „Mein Gut ist, Gott und unserem Herrn Jesus Christus wie auch den Aposteln anzuhängen und aus der göttlichen Schrift nach ihrer Tradition das Verständnis zu schöpfen.“ (Ps 72,28; Homilien zu Levitikus 7,4, GCS 29, 383).

 

Origenes empfängt die apostolische Überlieferung in der Kirche. Er stellt programmatisch fest: Bei der rechtgläubigen Schriftauslegung wird man sich an die Richtschnur (den Kanon) der himmlischen Kirche Jesu Christi halten, überliefert durch die Nachfolge der Apostel (Über die Prinzipien 4,2,2, GCS 22, 308).

 

Origenes sieht sich als Schriftexeget in der katholischen Kirche: „Nos, qui de ecclesia catholica sumus“ (Homilien zu Josua 9,8, GCS 30, 353). Er macht eine Anmerkung, wenn etwas dem Glauben der Kirche fremd ist (Homilien zu Genesis 3,2, GCS 29, 40). Auch die Kirche ist Gegenstand des Glaubens (Kommentar zum Hohen Lied 4, GCS 33, 234f). Die Heilige Schrift ist ein göttliches Buch, das der Kirche gehört und für sie ausgelegt wird (Ch.Kannengiesser, Die Bibel, 25f).

 

 

Offene Schriftauslegung

 

Eine Auslegung ist für Origenes nicht absolut. Es sei eine Versuchung, die eigene Auslegung verabsolutieren zu wollen (Über das Gebet 29,10, GCS 3, 385f; v. Stritzky, Studien, 173). Ein bestimmtes Verständnis (intelligentia) der Schrift schließt ein anderes nicht aus (Homilien zu Josua 8,6, GCS 30, 342). Origenes fordert auf, eine Hypothese, die er vorlegt, zu überprüfen (Homilien zu Genesis 5,5, GCS 29, 64; Homilien zu Ezechiel 7,2, GCS 33, 392).

 

Bei aller Traditionsgebundenheit ist Origenes sich bewusst, Neuland zu betreten. Er hat das Verdienst, eine theologisch begründete Schriftauslegung erarbeitet zu haben. Er ermöglichte, dass das Buch der Offenbarung in den Schriftkanon aufgenommen wurde (H. de Lubac, Histoire, 103f). Er ist der erste Theologe, der in die hellenistisch gebildete Welt hineinwirkt (Reventlow, Epochen, 170).

 

Origenes wird wiederholt verurteilt. Dennoch ist sein Einfluss auf die Patristik und das Mittelalter kaum abzuschätzen. Letztlich können sich Origenes und die Alexandrinische Exegese durchsetzen, da sie alle Lebensbereiche betreffen, während die Antiochenische Exegese vorwiegend historisch ausgerichtet ist (P.Stuhlmacher, Vom Verstehen, 76).

 

Weltweit hat die Origenesforschung neuen Aufschwung genommen (L.Lies, Zum derzeitigen Stand, 37). Besonders zu begrüßen ist die Reihe „Adamantiana. Texte und Studien zu Origenes und seinem Erbe“, die von der Forschungsstelle Origenes in Münster/Westfalen herausgegeben wird. Neben Monographien, die Origenes selbst und die von ihm begründete Tradition behandeln, und Sammelbänden, in denen die Beiträge der von der Forschungsstelle organisierten Kolloquien und Symposien zusammengestellt werden, sollen auch Sammlungen von gegebenenfalls übersetzten und kommentierten Texten aus verschiedenen Epochen die Theologie des Origenes, ihren geistesgeschichtlichen Kontext und insbesondere ihre Rezeption bis zur Gegenwart erschließen.

 

 

Quellen

 

Weiterführende Literatur

 

 

 

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