Erinnerungen

Fedor Stepun

"Da ist der große, schwere, bäuerisch-aristokratische Fürst Jewgenij Nikolajewitsch Trubetzkoj [1863-1920], gemütlich, langsam, mit kindlichen Augen und der Qual des ehrlichen Gedankens in dem nicht allzu klugen Gesicht. Der Kopf quadratisch gebaut, wie bei einem Bernhardinerhund: ein quadratischer Schädel, ein quadratisches Gesicht. Neben dem Fürsten der auf den ersten Blick etwas einfältig erscheinende Professor Bulgakow [Sergij Bulgakow, 1871-1944], der, solange die tiefe Denkerfalte sich nicht in die Stirn gegraben hatte, wie ein ländlicher Straßenhändler aussah. Bulgakow war ein schlichter Mensch, aber schon damals ein zäher, scharfer und tiefer Denker. Ich glaube, dass sein theologischer und religionsphilosophischer Beitrag zur Geistesgeschichte Russlands sich schließlich als bedeutender erweisen wird als das meiste, was seine Zeitgenossen geschrieben haben. Es ist jedoch unmöglich, über den Theologen und Priester Sergius Bulgakow nur so beiläufig zu reden. Zudem geht dieses Thema über die Grenzen meines Berichtes hinaus. Die Bedeutung Bulgakows in der Vorkriegszeit bestand hauptsächlich in seiner Evolution vom Marxismus zum Idealismus, die er in einer Aufsatzreihe über die russische Intelligenz schilderte, und in dem Versuch, die Grundlagen der Nationalökonomie vom Christentum her zu überprüfen. Im Jahre 1910 erschien seine "Philosophie der Wirtschaft" und die Übersetzung des nationalökonomischen Werkes von Seipel. Unlängst fiel mir übrigens ein älterer Aufsatz Bulgakows über Picasso in die Hände, in dem ich den interessanten Gedanken fand, Picasso habe die sinnliche Welt so gemalt, wie sie der Dostojewskijsche [Fedor Dostojewskij, 1821-1881] Stawrogin geschaut haben mag.

Neben Bulgakow stand Berdjajew [Nikolai Berdjajew, 1874-1948], sein philosophischer Milchbruder und Weggenosse. Beide haben mit dem Marxismus begonnen, beide sind zum Idealismus »evolutioniert«, und nun setzen sich beide leidenschaftlich für die slawophile Idee einer christlichen Kultur ein, bauen, jeder auf seine Art, die russische christliche Philosophie auf Chomjakow [Alekseij Chomjakow, 1804-1860], Dostojewskij und Solowjow [W.Solowjew, 1853-1900] auf. Dem Äußeren, dem Temperament und dem Denkstil nach ist Berdjajew das völlige Gegenteil von Bulgakow. Er ist nicht nur ein schöner, sondern auch sehr dekorativer Mann. In den Augenblicken, wo sein edel geformter Kopf aufhört, nach allen Seiten zu zucken. (Berdjajew leidet an einer nervösen Schwäche) und das zur Ruhe gekommene Antlitz in die Stille und Ferne geistiger Schau wie abberufen erscheint, erinnert er unwillkürlich an die sinnlich-farbigen und doch durchgeistigten Bildnisse eines Tizian. In den warm leuchtenden, leidenschaftlichen Augen mit dem goldenen, ironischen Funken, in seinen dunklen, wenigen, langen Haaren, im ganzen Wesen seiner eleganten Gepflegtheit verspürt man etwas Romanisches. Dem Äußern nach ist Berdjajew eher ein europäischer Aristokrat als ein russischer Edelmann. Seine Verfahren denkt man sich leichter als Ritter, die auf stolzem Ross zum Tor ihres Schlosses hinausreiten, denn als Bojaren, die mit gekrümmtem Rücken die Schwelle ihrer aus schweren Balken gefügten Gemächer überschreiten. Berdjajew hat wunderschöne Hände, er hat eine Vorliebe für Handschuhe, vielleicht im halb unbewussten Gedanken an die kämpferische Bedeutung, die ein hingeworfener Handschuh in der feudalen Zeit hatte. Berdjajew hat ein kriegerisches Temperament. Alle seine Aufsätze, selbst seine Bücher sind Attacken. Auch mit Gott redet er so, als griffe er ihn in seiner himmlischen Festung an.

Ebenso wie Tschaadajew, der seinerzeit schrieb, er würde sich für wahnsinnig erachten, hätte er mehr als nur einen Gedanken im Kopf, denkt auch Berdjajew sein ganzes Leben über ein und dasselbe Problem nach. Das Problem, das ihn schon in jener Zeit in Moskau quälte und das ihn noch auf dem Totenbett quälen wird, ist das Problem der Freiheit. Natürlich hat Berdjajew seinen Standpunkt und seine Bewertungen mehrfach geändert: seinem Thema und seinem Pathos ist er jedoch niemals untreu geworden: als Marxist setzte er sich für die wirtschaftliche und soziale Befreiung der Massen ein, als Idealist für die Selbständigkeit des geistigen Schaffens gegenüber den wirtschaftlichen Voraussetzungen und ideologischen Vorurteilen der bürgerlichen Welt, als Christ verteidigt er mit immer wachsender Leidenschaft das freie Zusammenwirken des Menschen mit Gott und kämpft zuweilen mit unzulässigem Jähzorn gegen die autoritativen Ansprüche des Klerus, die Freiheit einer prophetisch-philosophischen Auslegung des Christentums zu beeinträchtigen. Gegen Ende des Mittelalters hätte Berdjajew sein Leben trotz seines Christentums auf dem Scheiterhaufen beenden können.

Zum Vorstand der Religiös-philosophischen Gesellschaft gehörte auch der frühverstorbene Wladimir Franzewitsch Ern [1881-1917], ein überzeugter Gegner, ja ein leidenschaftlicher Hasser des deutschen Idealismus, insbesondere des Neukantianismus. Kurz nach dem Erscheinen des ersten "Logos"-Heftes brachte Ern eine umfangreiche Streitschrift gegen uns heraus, die den Titel "Kampf um den Logos" führte. Die Redaktion des Logos lag mit Ern beständig im Streit, sowohl in den Sitzungen der Philosophischen Gesellschaft als auch in dem bibliographischen Teil unsrer Zeitschrift. In seiner mündlichen und schriftlichen Polemik suchte Ern uns zu beweisen, dass wir, als Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie, die sich von der antik-christlichen Tradition gelöst hatte, nicht das geringste Recht besäßen, den Johanneischen Begriff des Logos, der für das russisch-orthodoxe Ohr noch einen sehr lebendigen Klang hat, für uns in Anspruch zu nehmen und damit zu entweihen. Seinerzeit habe ich Ern leidenschaftlich bekämpft, heute glaube ich, dass er in mancher Beziehung Recht hatte. Sein Äußeres war nicht allzu vorteilhaft: ein grosses, gedunsenes, gelbliches Gesicht, nahe beieinander stehende Krebsaugen und ein wie Insektenfühler beweglicher Schnurrbart unter der starken Nase. Er besaß einen vielseitigen, lebendigen, ja leidenschaftlichen, jedoch irgendwie zerfahrenen Verstand. Seine Diskussionsrede ließ er wie eine flotte Trojka dahinjagen, doch hatte man mitunter den Eindruck, als komme das Gespann trotz lauten Schellengeklingels nicht recht vorwärts. Alle diese Eigenschaften des Ernschen Temperaments und Denkstils werden besonders deutlich, wenn man seinen im Kriege geschriebenen Artikel "Von Kant zu Krupp" zur Hand nimmt.

Einer der glänzendsten Diskussionsredner unter den Moskauer Philosophen war Boris Petrowitsch Wyscheslawzew [1874-1954], seinerzeit Privatdozent der Moskauer Universität, der heute in Paris lebt und im Sekretariat der Genfer ökumenischen Liga tätig ist. Jurist und Philosoph seiner Bildung nach, feinsinniger Epikureer in weltlichen und geistigen Dingen, und einer jener weltoffenen Europäer, wie sie nur Russland erzeugte, entwickelte Boris Petrowitsch seine philosophischen Ideen mit so ausgesprochener Freude an ihrem Eigenleben, mit so genießerischem Eingehen auf alle ihre Einzelheiten, wie sie eher einem westeuropäischen als einem russischen Geist eigen sind. In einen eleganten Cut gekleidet, hielt er beim Sprechen seine Idee wie eine dialektische Blume hoch vor seinen Augen, und riss Blatt für Blatt, These und Antithese unter fortwährenden begeisterten Ausrufen ab: "Bitte, verstehen Sie das... Bitte, würdigen Sie das..." Das breite Moskauer Publikum hat Wyscheslawzew nicht nach Gebühr geschätzt. Wohl lechzte es leidenschaftlich nach Wahrheit, war auch aufgeschlossen für Predigt und Anklage, aber es hatte wenig Sinn für die dialektische Kunst Platos, in der Wyscheslawzew erzogen war. Das große Moskauer Publikum besaß überaus tiefe Kenner und Wertschätzer der verschiedenartigsten Kulturerscheinungen, von der Apokalypse bis zum Ballett, doch waren unter ihnen wenig ernste Liebhaber wissenschaftlicher Philosophie zu finden, was sich durch den verhältnismäßig tiefen Stand der russischen Philosophie erklären lässt. Einen Philosophen vom Range eines Puschkin [1799-1834], Tolstoj [1828-1910], Tjutschew oder Mussorgskij hat Russland nicht aufzuweisen.

Zum Schluss muss ich noch den Dichter und Denker Andrej Belyj [1880-1934] erwähnen. Ich erinnere mich keiner einzigen Sitzung in Moskau, in der dieser vielleicht geniale, zugleich aber auch unglückselige Mann, von dem noch viel zu sagen sein wird, nicht zu Worte gekommen wäre. Seine Ausführungen eröffneten den Hörern immer denselben Blick in die altbiblische Landschaft: Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern, – und waren darum für das große Publikum eher verfinsternd als klärend."

Aus den Erinnerungen von Fedor Stepun "Vergangenes und Unvergängliches", München 1947, S. 298-301. 304-305, zusammengestellt und mit Anmerkungen in eckigen Klammern versehen von Klaus Bambauer.

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