Die Vertreibung

 

Im Herbst und Winter 1944/1945 mußte zuerst Griechenland geräumt werden, dann der ganze Balkan, schließlich Finnland. Unsere Soldaten mußten sich zur Heimat durchschlagen. Das Generalgouvernement Polen war schon großenteils von russischen Truppen besetzt, die schon fast vor den Toren Breslaus standen. Aus dieser Stadt wurden 300.000 Frauen und Kinder evakuiert. Bei Schnee und 12 bis 16 Grad Kälte mußten sie sich auf den Weg machen. Im Wartheland standen russische Soldaten bereits vor der Hauptstadt Posen, in Ostpreußen vor den Toren Königsbergs. Jetzt wurden bereits die Schulen geräumt, um die Flüchtlinge aus dem Osten aufnehmen zu können. Die Kohlenzufuhr hatte fast ganz aufgehört. Viele Flüchtlinge saßen in einer kalten Stube. Ungezählte Tausende zogen unablässig auf der Reichsstraße durch unsere Ortschaften. Viele Schlesier mußten ihre alte Heimat verlassen. Auch in unserem Haus waren jetzt Flüchtlinge untergebracht.

Heinrich mußte Mitte Feber 1945 in Richtung Dresden fahren. Auf diese Stadt erfolgte zu dieser Zeit ein gewaltiger Bombenangriff, der sie ganz in Schutt und Asche legte. Sie war mit Flüchtlingen überfüllt. Es wurde von 30.000 Todesopfern gesprochen, aber Augenzeugen, mit denen ich sprechen konnte, vermuten eine viel höhere Anzahl.

Am 1. März 1945 kam Mariechen mit den Kindern aus Sicherheitsgründen nach Deutsch-Gabel. In Landeck gab es zu den 5.000 Einwohnern die gleiche Anzahl an Flüchtlingen. Sie schliefen zum Teil in Badewannen. Anfang April 1945 war Frankfurt am Main verlorengegangen. Die angloamerikanischen Panzerspitzen waren bis Aschaffenburg, ja sogar bis nach Fulda vorgedrungen. In Emmerich tobten Straßenkämpfe, Bottrop war bereits besetzt. Dann fielen Mönchengladbach, Neuß und Krefeld. Köln wurde von Artillerie beschossen und am Stadtrande von Trier gab es heftige Kämpfe.

Mittwoch, 11. April 1945: Früh 1° kalt. Nachmittags 15° und Sonne. 10 Beete für Kartoffeln hergerichtet; am Felde 7 Beete, im Garten 3 Beete ausgesät. Abends noch in Markersdorf.[1] Wien ist bis zum Donaukanal in russischer Hand. Königsberg ist gefallen.[2]

Donnerstag, 12. April: Früh 5° und nachmittags 13° warm. Früh um 6 Uhr zu Fuß nach Neuland gegangen: 13 km in knapp 2 Stunden. Ich habe Hannchen mit dem Handwagen 150 Pelargonienstecklinge[3] gebracht. Roosevelt plötzlich gestorben.

Freitag, 13. April: Nachmittags 20° mit Gewitter, Blitz und Donner. Im Doppelkasten Asparagus, Pelargonien und Englische umgestellt.[4]

Samstag, 14. April: 6-15° warm gewesen. Sonne. Vormittag am Bahnhof 2 große Haufen Staubkohle durchgeworfen, Nachmittag mit der Mutter 1000 kg mit dem Wagen heruntergeholt und 45 Körbe in den Keller getragen. Die ganze Woche war viel Plagerei.

Montag, 16. April: Früh 4° kalt. Sonne. Zu Mittag mit Mutter Gasmasken geholt. Hedi früh nach Röchlitz gefahren. Maria mit den Kindern in Hedis Zimmer umquartiert. Den ganzen Tag Fliegeralarm.

Mittwoch, 18. April: Früh 8° warm, nachmittags 18° warm. Sonne. In der Nacht Gewitter und Regen. 11 Kastel Cyclamen in Töpfe gepflanzt[5]. 70 Kastel Begonien sind fertig pikiert. Pelargonien und Petunien[6] in den Kasten gestellt. 11 Stunden in Markersdorf.

Freitag, 20. April: Vormittags 5° kalt und rauh. Um 6 Uhr mit dem Wagerl nach Neuland gefahren und um ½ 9 Uhr abends heimgekommen. Führers Geburtstag.

Sonntag, 22. April: Sonne und Regen. Mit Mutter im Kino: „Die Philharmoniker“. An Hannchen geschrieben.

Mittwoch, 2. Mai: Früh Schnee, alles weiß. Vormittag 2° warm. Um 7 Uhr früh bringt der Rundfunk die Nachricht vom Tode des Führers. Gestern wurde bekannt, daß Mussolini von Partisanen ermordet wurde.

Samstag, 5. Mai 1945: 6-8° warm, nachmittags Regen. Am Felde umgegraben und Erde durchgeworfen[7]. Im Westen haben unsere Heeresverbände den Kampf gegen die Angloamerikaner aufgegeben und angeblich bedingungslos kapituliert.

Sonntag, 6. Mai: Kalt und regnerisch. Hansjörg bei der Erstkommunion. Feiertag in der Familie. Nachmittag Herr Katechet und Maria mit den Kindern, sowie Gretl bei uns. An Onkel Rudolf geschrieben.

7.-14. Mai: Die ganze Woche warm und sonnig, 26-28° warm im Schatten. Die ganze Woche nicht gearbeitet. Dienstag ist Georg heimgekommen. Deutsch-Gabel wurde von russischen Truppen besetzt. Diese werden wohl bis zum Eintreffen tschechischer Ordnungstruppen hierbleiben. Die ereignisreichste Woche, aber auch die traurigste, die wir erlebt haben. Viele Geschäfte wurden ausgeplündert. Wohnungen wurden nach Schmucksachen und Uhren durchsucht. Frauen und Mädchen wurden geschändet und mißbraucht. Viele Frauen flohen in die umliegenden Dörfer oder in den Wald. Dr. Pergelt in Walten hat seine vier Kinder, seine Frau und sich selbst erschossen. In Markersdorf haben sich zwei Flüchtlingsfrauen mit ihren Kindern die Pulsadern durchgeschnitten.

In unserem Hause sind 23 Schlafgäste. Ich selber kam kaum zum Schlafen. Im Kalthause und Cyclamenhause habe ich mit Brettern und Strohdecken ein Lager zurecht gemacht. Vierzig Frauen, die vor den Ausschreitungen der Soldaten Furcht hatten, sind hier untergekommen.

Montag und Dienstag war ich noch mit Mutter am Felde. Erde durchgeworfen und die letzten Beete umgegraben. Am Samstag, 13., am Felde Bohnen gelegt und am Montag, 15., am Felde 2 Beete (Saxa[8]). Am 16. im Garten 2 Beete Gemüse gepflanzt und am Felde auch die letzten 2 Beete gepflanzt. Karfiol[9], Kohlrabi, Sprossenkohl[10], Weißkraut, Kapuste[11], Sellerie, Salat, rote Rüben, Majoran, Pfefferkraut.

17./18. Mai: Am Stadtamte hat der Národni Výbor[12] das Heft in der Hand. Schönberger und Engelmann mit Scholze aus Waldau sind mit dem Stadtkommandanten, einem tschechischen Major, die maßgebenden Personen in der Stadt. Am Bahnhof stand ein Zug mit 1800 Flüchtlingen in dreißig Güterwagen. In einem Viehwaggon waren sechzig Personen mit ihrem Gepäck untergebracht. Die russische Besatzung hat am Maierhofe in Neufalkenburg alles Vieh fortgetrieben, nicht einmal ein Kalb ist dort geblieben. Meine Schwägerin hat sich als Holländerin ausgegeben, und die Kinder sind unbelästigt geblieben.

Im Garten nicht gearbeitet. Alle Tage am Felde gegossen. Auf die Hausrabatte 30 Krauskohl[13] gepflanzt.

Pfingstsamstag, 19. Mai: Sonne und warm. Es war ein recht aufregender Tag. Flüchtlinge ließen ihr Gepäck in unserem Keller, da der wartende Zug nicht mehr weiterfuhr. Den ganzen Vormittag waren wohl hundert Leute bei uns in der Wohnung und oben im Garten, um Wasser, Kaffee oder Tee, oder sie wollten selbst etwas kochen oder Milch für die Kinder wärmen, die Säuglinge versorgen, oder sie bettelten um ein paar Kartoffeln. Kaum war dieser Flüchtlingstreck weitergezogen, kam am Bahnhofe ein neuer Zug an. Wieder mußten alle Flüchtlinge heraus. Wieder lagerten Hunderte in den Bahnhofsanlagen und vor dem Gebäude. Viele hatten bereits kein Brot mehr. Jetzt gab es auch keine Fahrgelegenheit mehr. Wir brachten in unserem Schlafzimmer fünf Personen unter, drei schliefen im Sommerhaus, sechs saßen in der Veranda auf einer Bank, weil der ganze Raum mit Gepäck ausgefüllt war, aber der Zustrom nahm immer noch kein Ende. Wir brachten dann noch am Dachboden sieben Leute unter. Abends kamen zwei Frauen mit je sechs Kindern, die im Heuschupfen schliefen. In Leipa hatte man den Kindern alles weggenommen, auch die Lebensmittel. Ein kleines Mädel wollte ihre bescheidenen Sachen festhalten, da trat ihr der Unmensch mit dem Stiefelabsatz auf die Hand. Ich lag nachts in der Küche auf der Erde. Leider hatte die Mutter die ganze Nacht keine Ruhe, und an Schlaf war nicht zu denken. Das war mein 69. Geburtstag.

Im Garten und in Markersdorf konnte ich nicht mehr arbeiten. Nur bei Richter haben wir 5 Beete Chrysanthemen ausgepflanzt und am 29. Mai war ich in Neuland und habe dort junge Chrysanthemen im Kasten[14] ausgepflanzt.

Bis Ende Mai müssen alle Reichsdeutschen ins Altreich zurück. Deshalb hat sich die Schwägerin von uns verabschiedet. Sie ist mit recht schwerem Herzen von uns fortgegangen. Die weite Reise bei den jetzigen unsicheren Verhältnissen ist keine Kleinigkeit; und ob sie ihre Angehörigen dort noch antreffen wird, und ob ihr Haus noch bewohnbar ist, weiß niemand.[15]

Am Bahnhofe und überall in der Stadt werden die deutschen Aufschriften entfernt oder überstrichen. Beim Schützenhause bauen die Russen Baracken. Da werden sie wohl noch längere Zeit hierbleiben.

26. Mai 1945: Im Sommerhause hatte die letzte Nacht ein früherer kommunistischer Jugendführer übernachtet, der zehn Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte. Auf meine Frage, was er eigentlich verbrochen habe, sagte er mir, nur weil er Jugendführer war und auch kommunistische Flugblätter verteilt hatte. Weil er damals noch im jugendlichen Alter war, hatte er nur drei Jahre bekommen. Nach dieser Zeit hatte man ihn noch sieben Jahre dort behalten, weil er angeblich staatsgefährlich war.

Was er von diesen Lagern erzählte, war grauenhaft. In Ausschwitz, Kreis Ratibor, sollen bis 120.000 interniert gewesen sein. Später waren es nurmehr 15.000. Im Durchschnitt wurden täglich 1.000 Personen durch Vergasung beseitigt, die dann in acht Krematorien verbrannt wurden. In Groß-Rosen sollen 80.000 Personen in Haft gewesen sein. Auch in Dachau war er längere Zeit. Dort wurden die Häftlinge mit Stockhieben traktiert. Es wurden ihnen bis oder über hundert verabfolgt, aber sie waren nach kurzer Zeit besinnungslos, und viele haben es gar nicht überstanden. Auf meine Frage, wer denn solche Schandtaten ausführen kann, meinte er, es waren überall und ausschließlich SS-Leute.

3. Juni 1945: Nun ist gottlob auch Heinrich heimgekommen. Er war zuletzt in Leisnig in Sachsen im Lazarett, und ist noch einmal operiert worden. Aber die Eisensplitter haben sie ihm immer noch nicht entfernt.

Donnerstag, 7. Juni: Gestern war ich mit der Mutter in Neuland und habe 2 Kästen Chrysanthemen ausgepflanzt. Sie waren ganz ohne Blätter. Der Hagel hat furchtbar gewirtschaftet. In der ganzen Gärtnerei ist im Freien nicht eine Pflanze, die noch unversehrt ist. Der größte Verlust ist bei den Erdbeeren, bei denen es die ganzen Früchte abgeschlagen oder beschädigt hat. An manchen Stengeln erkennt man gar nicht mehr, was eigentlich angepflanzt war. In die Wege und Felder sind Löcher gerissen, die bis zu einem Meter tief sind. Beim Getreide schaut nur hin und wieder eine beschädigte Ähre heraus. Von den Böschungen hat es große Rasenstücke abgerissen und in die Felder geschwemmt. Die Arbeit eines ganzen Jahres ist umsonst gewesen. Heinrich berechnet den Verlust auf mindestens 3.000 Reichsmark; und leider wird jetzt keine Versicherung etwas bezahlen.

Vorgestern habe ich im Felde Kartoffeln angehäufelt.[16] Leider mußte ich aufhören. Immer wieder kamen Gewitterregen. Bei uns war Hausdurchsuchung. Vier Soldaten waren in unserer Wohnung. Was ihnen vom Flüchtlingsgepäck gefiel, haben sie für sich mitgenommen.

Samstag, 9. Juni: Heute früh war ich beim russischen Stadtkommandanten und habe ihn ersucht, ob wir von dem Flüchtlingsgepäck, das sich bei uns befindet, nicht etwas an arme und kinderreiche Familien abgeben könnten. Daraufhin kam ein Leutnant zu uns, hat nochmals alles aufgerissen, dabei vieles ruiniert und die besten Stücke für sich mitgenommen. Er kam dann noch einmal mit Soldaten zurück und sie führten zwei große Fuhren Flüchtlingsgepäck weg.

Wir mußten heute unseren Radioapparat abliefern. Alle Deutschen sind verpflichtet, am linken Arm eine weiße Binde zu tragen. Deutsche dürfen auch nicht mehr mit der Bahn fahren.

Samstag, 16. Juni: Senkgrube entleert. Gartenbeete gejaucht.[17] Am Felde gejaucht (30 Kannen). Nachmittag ist Gretl zu uns übersiedelt. Dann haben wir bis nach Mitternacht eingepackt.

Sonntag, 17. Juni: Gretl mit Kindern und Frau Wenzel mußten heute um 5 Uhr früh gestellt sein und mit vielen anderen wurden sie aus Gabel ausgewiesen.

Montag, 18. Juni: Von der Gretl die dritte große Fuhre geholt. Nachmittag Holz von der Gretl gesägt und bis 10 Uhr abends geschichtet.

Donnerstag, 21. Juni: Vormittags Latten geholt und Tomaten an Pfähle angebunden.[18] Nachmittags mit 15 Fuhrwerken und zwei Sanitätsautos in Krombach-Schangendorf, weil es hieß, die alten und gebrechlichen Leute dürften zurückkehren. Ich war dann beim tschechischen Zollamte an der Grenze und habe ersucht, ob ich nicht die wenigen Schritte bis zum Erholungsheim gehen dürfte, um mit unseren Leuten zu sprechen. Leider war alles Bemühen umsonst, und wir mußten mit den ganzen Fahrzeugen unverrichteter Dinge wieder zurückkehren.

Frau Wenzel hat mir durch das Sanitätsauto einen Zettel herübergeschickt, auf dem sie schreibt, daß sie sich seit drei Tagen tagsüber im Straßengraben aufhalten und nachts in einer Scheuer schlafen. Sie ersucht mich, ob ich ihnen nichts schicken könnte, da sie viel Hunger litten.

Freitag, 22. Juni: Vormittags beim tschechischen Major gewesen. Ich wollte die Erlaubnis erwirken, über die Grenze gehen zu dürfen, um den Leuten etwas Lebensmittel zu bringen. Leider völlig ergebnislos. Es wurde nur gesagt, daß ein Besuch wegen Verdachts von Spionage nicht gestattet würde.

Der alte Herr Diesner hat sich erhängt; die alte Frau Krejči ist in den Teich gegangen. In Reichenberg sollen viele Frauen in der Talsperre ertrunken sein. Einige sind mit den Kinderwagen hineingefahren.

Samstag, 30. Juni: Die ersten Karotten im Garten geerntet. Bei Dr. Richter Wein geschnitten.[19]

Montag, 2. Juli: Mit Mutter bei Dr. Klein. Ihr Gesicht ist geschwollen.

Freitag, 6. Juli: Gestern früh um 3 Uhr aufgestanden und der Mutter Umschläge gemacht. Ich war zu Fuß in Neuland, weil die Bahn ja für uns Deutsche gesperrt ist. Heinrich und Hannchen sind noch da, aber in der Gärtnerei sieht es trostlos aus. Auch die Gurkenhäuser sind ganz verlaust, und sie werden dieses Jahr herzlich wenig ernten, wenn sie überhaupt noch bleiben dürfen.

Gestern hat sich Herr Wittig im Teich ertränkt. Er konnte nach der Beschlagnahmung seiner Wohnung zuerst noch bei seinem Schwiegersohn unterkommen. Als sie auch Herrn Schöbel in der Nacht fortholten, hat ihn dies wohl zur Verzweiflung getrieben.

7.-14. Juli: Mutter krank. Am Donnerstag, 12., haben wir sie ins Krankenhaus geschafft und am selben Tag ist sie auch noch operiert worden. Samstag wurde dann nochmal ein Eiterherd entfernt. Ich gehe alle Tage drei- oder viermal zu ihr. Am 14. Juli ist Hedi heimgekommen und will bis Montag (16.) dableiben. Sie ist angeblich bei der Martl in Röchlitz. In den letzten Tagen habe ich unseren Keller zu Frau Winter überräumt. Es war eine große Arbeit. Nach Markersdorf kann ich nicht mehr gehen. Diese Woche wurden bei Winter und bei Herrmann die Wohnungen beschlagnahmt.

Sonntag, 15. Juli: Ich war viermal bei der Mutter. Es muß bei ihr noch einmal eine Operation vorgenommen werden.

Mittwoch, 18. Juli: An Gretl und Selma habe ich heute Briefe weggeschickt. Gurken und Tomaten mit Nährsalz[20] gegossen.

22. Juli 1945: Diese Woche hat sich auch der Dom-Schuster erhängt. Im Altreich soll das bei unseren Flüchtlingen ja an der Tagesordnung sein. In Johnsdorf werden sie in Papiersäcken beerdigt, und an den Straßenrändern sollen sich überall frische Gräber befinden.

24. Juli 1945: Heute wurden Heinrich und Hannchen ausgewiesen. Ich konnte ihnen noch einige Sachen bringen, als sie bei uns am Bahnhofe vorbeikamen. Sie waren übernächtigt. Es war ein recht trauriger Abschied.

Donnerstag, 26. Juli: Mutter aus dem Krankenhaus geholt. In der Nacht nicht geschlafen.

Samstag, 28. Juli: Im Freiland die ersten Gurken und Tomaten geerntet. Majoran das zweite Mal abgeschnitten. Seit Mitte Juli ernten wir Schnittblumen am Felde. Auch Kraut und Kapuste. Möhren sind sehr schön und werden schon gestohlen. Von Otto Brief erhalten. Heute nach Habendorf[21] geschrieben. Vorige Woche an Gretl geschrieben.

Montag, 30. Juli: Heute um 3 Uhr nachmittags wurde unsere Wohnung beschlagnahmt. In 20 Minuten sollten wir hinaus sein. Wir haben unsere allernotwendigsten Habseligkeiten ins Gärtnerhaus geräumt und bei Hilgarth haben sie uns die obere Wohnung zur Verfügung gestellt.

31. Juli / 1. August: Wir haben oben eingeräumt und konnten uns dann doch noch das Notwendigste aus unserer früheren Wohnung herausholen. Vom Felde haben wir die ersten Frühkartoffeln geholt.

Donnerstag, 2. August: An 6 Parteien Gemüse verteilt: Richter, Förster, Wihl, Dr. Sturm[22], Gürth, Michel. Tomaten, Gurken und Majoran mit Kuhdünger gejaucht[23]. Kohlen von unten in den Keller geschafft. Mit der Mutter im Felde Möhren geholt. In Markersdorf wurde am 1. August die Richter-Gärtnerei beschlagnahmt und übernommen.

Samstag, 4. August 1945: Um drei Uhr nachmittags wurden wir ausgewiesen. Mit Rücksicht auf die kranke Mutter bekamen wir eine Stunde Zeit. Frau Wenzel und Frau Herbig haben mit eingepackt und uns einen Kinderwagen geborgt. Einen alten Wagen haben wir notdürftig zusammengerichtet und um vier Uhr wurden wir in der Gürtlerfabrik interniert. Hier waren schon 300 bis 400 Personen. Alles war überfüllt. Wir haben dort zwischen den Webstühlen übernachtet und fast nicht geschlafen.

Sonntag, 5. August: Um sechs Uhr ist Hedi zwischen den Zaunlatten hinausgegangen und ins Krankenhaus zum Gottesdienst. Die Studnitzki Emmi und Frau Herbig haben alle Tage warmes Essen gebracht, ebenso Frau Loos und Herr Eichler, der bitterlich weinte. Wir hatten in diesen zwei Tagen unser Heim vor Augen und durften nicht mehr hinaus. Am Abend war strenge Kontrolle. Alle neuen Sachen wurden weggenommen. Auch schöne alte Sachen, Uhr, Brille, Geld, alle Dokumente.

Montag, 6. August: Um fünf Uhr früh alles gepackt und unser Wagel ist gleich zusammengebrochen. Mit Frau Wenzel dann die Sachen auf einen anderen Wagen aufgeladen. Schon am Stadttore mußte alles wieder herunter und wurde auf zwei Wagen durcheinandergeworfen. Alles Reden und Bitten war umsonst.

Es war ein schmerzhafter Augenblick, als wir von unserer alten Heimat Abschied nehmen mußten und die Kuppel unserer Kirche zum letzten Mal sichtbar war. Was hatten wir in einem Leben voll Mühe und Arbeit aufgebaut! Es war wohl keine Schande, daß uns dabei die Tränen über die Wangen liefen. Nun sind wir heimatlose Bettler geworden.

Etwa sieben Uhr abends waren wir in Niederoderwitz. Dort trafen wir Heinrich und Hannchen. Wir haben gleich einen Teil unserer Sachen abgeladen. Mutter und Hedi stiegen vom Wagen herunter. Frau Wenzel war leider schon am Bahnhof und durfte auf keinen Fall dableiben. Leider hat sie aus Versehen viel von unseren Sachen mitgenommen, vor allem Wintersachen und Schuhe.

Dienstag, 7. August: Ich war in Zittau beim Landrat Zwingenberger. Er hat gleich zum Bürgermeister nach Niederoderwitz telefoniert und um Aufenthaltsgenehmigung ersucht. Um fünf Uhr nachmittags war eine große kommunistische Kundgebung am Marktplatz in Zittau. Der Redner betonte, das deutsche Volk müsse sich ohne Ausnahme zur Kriegsschuld bekennen, wenn auch zum Teil nur deshalb, weil es sich nicht gegen das Hitlersystem mit seinen gewalttätigen Übergriffen gewehrt habe.

Mittwoch, 8. August: Ich bin nach Sohland gefahren und habe Frau Wenzel gesucht. Von dort ging ich zu Fuß nach Schirgiswalde[24]. Alles umsonst. Sie sind fort und niemand weiß, wohin sie gebracht wurden. Ich habe den ganzen Tag bis abends nichts gegessen.

Donnerstag, 9. August: Am Gemeindeamt Lebensmittelkarten geholt und Aufenthaltsgenehmigung bis 31. August erhalten. Bei der Gärtnerei Jauch[25] ein Haus Cinerarien angepflanzt, Cyclamen und Warmhauspflanzen.

Sonntag, 12. August: Gretl war mit ihren Kindern in Niederoderwitz. Es war ein schöner, festlicher Sonntag. Hannchen und Hedi sind nachmittags nach Zittau gefahren, abends bei strömendem Regen über die Grenze nach Gabel gegangen und die ganze Woche dort geblieben.

Sie sind dann mit dem schweren Gärtnerwagen über die Berge gefahren. Leider wurde ihnen an der Grenze wieder viel weggenommen. 15 Personen haben alles durchsucht und sogar die Zündholzschachteln kontrolliert. Alle neuen Sachen, die Lebensmittel und die schöne Pelzjacke von der Gretl wurden ihnen weggenommen.

Mittwoch, 15. August: Mit Mutter und der Gemeindeschwester nach Großschweidnitz gefahren. Um ½ 4 Uhr wurde die Mutter dort aufgenommen. Die Anstalt umfaßt 43 Objekte, die verstreut in einem großen Parke liegen. Ich hatte der Pflegeschwester 50 Reichsmark gegeben und sie ersucht, die Mutter mit etwas Liebe und Geduld zu behandeln.

Sonntag, 19. August: Um sechs Uhr früh nach Seifhennersdorf zu Gretl gefahren. Vor- und nachmittags bei Palme[26], die Gärtnerei besichtigt. Es gibt vier Gewächshäuser und viel Freiland, auf dem Gemüse angebaut wird. Es sind sehr liebe Leute. Beim Fortgehen sagte dann Herr Palme: „Am besten, Sie bleiben bei uns.“ Das war uns natürlich allen eine große Freude, und ich war ganz glücklich, daß ich wieder Arbeit finden und ein Obdach erhalten sollte. Um fünf Uhr war dann Abendmesse in der katholischen Kapelle. Mehr als hundert Personen nahmen teil. Bei Gretl habe ich übernachtet.

Montag, 20. August: Früh nach Zittau gefahren zum Landrat. Dort war alles überfüllt und niemand wurde vorgelassen. Durch Vermittlung seiner Tochter konnte ich doch noch mit Herrn Zwingenberger sprechen. Mir wurde dann die Aufenthaltsbewilligung in Aussicht gestellt. In Niederoderwitz habe ich mir sechs Paßbilder bestellt.

Dienstag, 21. August: Heinrich[27] und Hedi[28] sind heute morgen mit einem schweren Leiterwagen nach Leisnig[29] zu Bekannten gefahren. Heinrich hat dort in einer Gärtnerei Arbeit gefunden. Ich bin zu Fuß nach Seifhennersdorf gegangen und habe um 9 Uhr früh bei Palme schon eingepflanzt. Herr Palme sagte zur Gretl: „Er ist jetzt wieder in seinem Element!“ Ich schlafe am Sofa bei der Gretl.

Pro Person und Woche gibt es anderthalb Kilogramm Kartoffeln, ein Kilogramm Brot und 25 Gramm Fleisch. Das ist alles! Vor allem Kinder sterben an Hungertyphus, da kaum Milch vorhanden ist. Ein Missionsprediger sagte, in Berlin stürben täglich tausend bis zweitausend Personen. Bei Clemenz ist ja an jedem Mittwoch Bibelabend, der mit Gebet und Gesang eröffnet und beschlossen wird. Es kommen 30 bis 50 Personen.

Mittwoch, 22. August: Nachmittag wieder nach Niederoderwitz gefahren. Ich bin schon drei Tage magenkrank und habe keinen Appetit und dabei Durchfall.

Sonntag, 26. August: Um 10.15 Uhr nach Großschweidnitz gefahren. Später kam dann auch Hannchen dorthin. Die Mutter war recht ungehalten, aber sonst hat sie nicht geklagt und wollte auch nicht mit heim. Freilich redet sie alles durcheinander, aber wir sind doch mit weniger Sorge wieder heimgefahren.

Sonntag, 2. September: Wieder zur Mutter gefahren. Sie ist sehr schwach und hat viel geweint, aber fast nichts gesprochen. Sie war so matt, daß ihr die Augen zufielen. Es hat mir so bitter weh getan und ich bin mit sehr schwerem Herzen wieder weggefahren. Aber sie hat nicht geklagt und ihr Denkvermögen scheint immer mehr zu schwinden. Abends nach Nieder­oderwitz gefahren.

Montag, 3. September: Hedi berichtete, daß der jetzige tschechische Gärtner[30] unseren alten Geschäftswagen unbedingt wiederhaben muß. Er sei angeblich Staatseigentum So fuhr ich mit Hedi mit dem großen Kastenwagen nach Oybin. Dort wurde er von einem Boten abgeholt.

Dienstag, 4. September: Von der Gemeinde Aufenthaltsbewilligung und Lebensmittelkarten erhalten. Gestern war ich in Zittau bei der Auskunftsstelle für Flüchtlinge und habe mich wegen Hedi erkundigt. Alle Mittage geht ein Treck von dort ab gegen Dresden.

5.-8. September: In vier Tagen habe ich allein über 2000 Cyclamen getopft. Vorige Woche wollte mir Herr Palme 50 Reichsmark geben, aber ich habe nur die Hälfte angenommen. Heute gab mir Herr Palme wieder 50 Reichsmark, und extra noch 10 Reichsmark zum Erntefest, obwohl ich nur fünf Tage gearbeitet habe. Ich gebe der Gretl wöchentlich 20 Reichsmark als Kostgeld davon, solange ich soviel Geld bekomme. Im Winter nehme ich es auf keinen Fall. Herr und Frau Palme sind so lieb und gut zu uns, daß wir sie nicht im Stich lassen wollen. Er setzt alles daran, daß wir auch über den Winter hierbleiben können, obwohl alle Flüchtlinge ohne Ausnahme fort sollen.

Gestern bekamen wir von Georg und Maria drei ausführliche Briefe, und die Freude darüber war sehr groß. Sie sind gottlob noch daheim.

Sonntag, 9. September: Erntedankfest. Ich war mit Tante Selma bei der Mutter. Leider geht es ihr nicht gut. Sie hat fast gar nicht gesprochen, nur ja oder nein, und hat uns wohl gar nicht gekannt. Nur zwei lichte Augenblicke hatte sie, in denen sie mir die Hand drückte und einen Kuß gab. Auch beim Fortgehen war sie ganz teilnahmslos. Es ist recht traurig.

 

Johanna Gundacker

 

Sonntag, 16. September: Ich war in Großschweidnitz. Mutter ist gestern abend um 10 Uhr gestorben. Sie war in einem blütenweißen Gewande aufgebahrt, einen Begonienzweig in den verschlungenen Händen. Ich war mit ihr eine Stunde allein und konnte den Tränen freien Lauf lassen. Ich dankte ihr für all’ ihre Liebe und Fürsorge für mich und die Kinder und leistete ihr Abbitte, wenn ich ihr wehgetan hatte.

Donnerstag, 20. September: Um zehn Uhr wurde unsere Mutter begraben. Sie hat jetzt ausgelitten. Gretl hatte zwei schöne Kränze gebunden für uns und für Heinrich. Auch die Selma hat einen schönen Kranz mitgebracht. Hannchen und Heinrich waren da. Ich hatte den katholischen Erzpriester aus Löbau eingeladen. Er gestaltete eine erhebende Feier in der Friedhofshalle. Hannchen spielte auf dem Harmonium einige Choräle, und der Geistliche fand recht trostreiche Worte.

Montag, 24. September: Zuschrift vom Landrat, Aufenthaltsbewilligung bis 31.10.45. Wir sollen die Wohnbaracke räumen, weil 150 Familien aus Reichenau[31] in Seifhennersdorf untergebracht werden müssen.

Wir sollen also wieder ins Blaue wandern, Aber welcher Gärtner stellt schon im Herbst neue Leute ein? Kurts Mutter und Schwester sind in Kahla gut untergebracht. Herr Dr. Tietze soll bei Erfurt[32] die Seelsorge für die Flüchtlinge übernehmen.

Mittwoch, 26. September: Kurt ist nach Thüringen gefahren. Er will in Erfahrung bringen, ob nach der Bodenreform eine Gutsgärtnerei zu pachten ist. Seine neugeborene Tochter, die kleine Margot, ist frisch und munter. Die Mutter ist schon wieder aus dem Heim entlassen.

Sonntag, 30. September: Vormittag Cyclamen aufgestellt. Gestern war Feiertag für die Opfer des Faschismus. Abends war große Kundgebung in der Turnhalle. Bis ½ 10 Uhr brannte kein Licht. Der Redner hat sein Referat bei Kerzenschein gehalten: 20 Millionen sind im Krieg umgekommen, darüber hinaus sollen viele Millionen in Gefängnissen und Lagern festgehalten worden sein.

Kurt hat telegrafiert: Er hat Arbeit. Wir sollen nachkommen.

Mittwoch, 3. Oktober: Zwei Häuser Blanche[33] ausgezwickt. Herr Palme in Görlitz. Kurt ausführlich von Thüringen geschrieben. Gretl 12 Kränze gebunden.

Donnerstag, 4. Oktober: Gretl 13 Kränze gebunden. Pelargonienstecklinge und Cinerarien ins Kalthaus[34] geräumt.

Freitag, 5. Oktober: Gretl hat zu Mittag Schluß gemacht. Sie wird in Kahla in einer Schneiderei arbeiten. Ich darf angeblich hierbleiben. Herr Palme hat mit Herrn Bürgermeister gesprochen.

Montag, 8. Oktober: Gretl ist ½ 7 Uhr mit Martl und deren Töchterlein Margot nach Thüringen gefahren.[35] Am Vormittag habe ich die Baracke ausgeräumt.

Dienstag, 9. Oktober: Ich bin zu Frl. Richter übergesiedelt. Ich habe eine kleine Kammer neben der Küche.

Kirchweihsonntag, 14. Oktober: Hermann[36] hat geschrieben. An Dr. Tietze, an Hermann und an Gretl geschrieben.

Samstag, 20. Oktober: Herr Dechant Sitte[37] schrieb mir aus Erfurt, daß dort in einem Altersheim ein Gärtnerposten freigeworden ist.

Dienstag, 30. Oktober: Vom Polizeiamt Reisebewilligung geholt. Nachmittag nach Dresden gefahren. Ich war erschüttert beim Anblicke dieser Ruinenstadt, vormals einer der schönsten Orte unserer Erde. Im Bahnhofe eine unübersehbare Menschenmenge, obwohl der Zug erst am nächsten Morgen losfuhr! Ich mußte wie die anderen in einem Güterwaggon stehend die lange Nacht verbringen. Man konnte sich nicht einmal auf sein Gepäck setzen. Wenn ich erst bei der Abfahrt am nächsten Morgen gekommen wäre, hätte ich keine Möglichkeit mehr gehabt, überhaupt in einen Zug nach Erfurt hineinzukommen.

Mittwoch, 31. Oktober: Unser Zug fuhr erst um ½ zwei Uhr nachmittags los und hatte noch einen langen Aufenthalt in Leipzig. Abends gegen sieben Uhr war ich endlich in Erfurt. Bei Herrn Dechant Sitte übernachtet.

Donnerstag, 1. November: In der Lucius-Hebbel-Stiftung[38] vorgestellt. Ich sah mir den großen Garten an. Leider war es für mich eine Enttäuschung. Es war kein Gewächshaus da und auch kein Mistbeet. Das Wohnhaus war vollständig durch Bomben zerstört. Auch im Garten waren riesige Bombentrichter.

Samstag, 3. November: Früh von Erfurt weggefahren. Um ½ 8 Uhr in Weißenfels. Um ½ 4 nach Leipzig gefahren und dort übernachtet.

Sonntag, 4. November: In Dresden-Neustadt. 3 Stunden Aufenthalt. Abends um ½ 10 Uhr heimgekommen. Gretl teilte Herrn Palme mit, daß sie von einem Heimkehrer die Nachricht erhalten habe, Rudolf sei in der Gegend von Moskau bei der „Tschechischen Legion“. Frau Anna Wenzel ist in Hakenstedt bei Magdeburg in einem Lager (Kasernenhof). Leider ist der große Sack mit unseren Sachen verlorengegangen. Georg muß in Habendorf noch seinen Nachfolger einarbeiten. Das kann bis Mai dauern, und dann bekommt wohl auch er einen Fußtritt. Hermann jedenfalls ist noch in Wiese.

Dienstag, 6. November: Gestern an Hermann und Maria ausführlich geschrieben, heute an Herrn Herrmann, Herrn Dechant und das Lucius-Hebbel-Stift. Den ganzen Tag in Neugersdorf bei Herrn Schulze Obst und Beerenobst geschnitten. Dies geschah bei kaltem und rauhem Winde, für ein Brot, das mir ein Bekannter für die Reise gegeben hatte.

Mittwoch, 7. November: Feiertag, Sovjetunion besteht 28 Jahre. Wir haben wirklich keine Ursache, die russischen Gedenktage in dieser Weise mitzufeiern!

Dienstag, 13. November: Von Habendorf zwei Briefe mit insgesamt acht Blättern erhalten, auch Briefe von Otto und Hermann waren dabei. Otto schreibt, daß er nur noch Gottesdienste in tschechischer Sprache halten darf. Es wird immer schwieriger, die Briefe von Habendorf über die Grenze zu bringen.

Sonntag, 25. November: 2-3° kalt. Einkehrtag bis sechs Uhr abends. Pelargonienstecklinge durchgeputzt.[39] Nach Erfurt geschrieben, daß ich die dortige Gärtnerstelle nicht antreten möchte.

Mittwoch, 28. November: Schneepantsche. Sedumstecklinge[40] gemacht. Pelargonienstecklinge durchgeputzt. Vormittag am Stadtamt wegen Schuhen und Volkssolidarität.

Sonntag, 2. Dezember: 4-8° warm, Sonne. Ich vormittags an der Grenze bei Frau Richter Beerenobst geschnitten. Hedi schreibt, daß sie in Leisnig bei der Frau eines Brauereibesitzers im Haushalt beschäftigt sei. Sie habe gute Kost und werde auch gut behandelt. Die alte Frau Herbig hat sich erhängt.

Sonntag, 16. Dezember: Tau- und Pantschwetter. Der erste freie Markt in Seifhennersdorf. Es waren mehr als tausend Besucher da, aber es gab fast keine Verläufer und nur wenig Ware. Nachmittags war Weihnachtsfeier bei Herrn Palme. Leider wurde kein einziges Weihnachtslied gesungen. Das von Frau Karsten mitgebrachte Grammophon spielte nur Schlager und Gassenhauer. Ich habe handgestrickte Wintersocken, Hosenstoff, Äpfel und Backwerk erhalten. An die junge Frau Herbig[41] geschrieben.

Dienstag, 18. Dezember: Kalter Wind, 2-3° warm. Pantsche. Alle Pelargonien auf die Hängebretter[42] gestellt. Begonien in Schwefelbrühe[43] getaucht.

Hannchen und Heinrich bei mir. Nachmittag zusammen bei Mutters Grab. Hannchen hat einen kleinen Stollen, vier Semmeln, Leckwerk, Äpfel, Syrup, Marmelade, sowie etwas Butter und Leberwurst mitgebracht. Sie wollen noch einmal über die Grenze gehen.

Sonntag, 23. Dezember: 2-5° warm, herrlicher Sonnenschein. Ich erhielt von Habendorf durch einen Boten von Herrn Schubert einen lieben Weihnachtsbrief mit zwei Bildern von den Kindern. Was war das für eine Freude! Dazu eine Hausbuchte[44] von weißem Mehl und eine Menge Kleingebäck, von Maria gebacken. Ich konnte es erst gar nicht fassen, bis ich dann den Brief gelesen habe. Nachmittags Weihnachtsfeier für die Flüchtlinge mit Darbietungen von Kindern, und dann Bescherung. Ich habe Schuhe, einen Anzug, Hemd, Socken und eine Decke erhalten.

Am Weihnachtsabend habe ich ausführlich nach Habendorf geschrieben. Ich war im Geiste bei allen unseren Kindern und bei der Mutter, auch bei der Gretl in Kahla. Ich hätte nur an diesem Abend gerne alle meine Enkel gesehen. Um ½ 12 Uhr war ich dann in der Christmette.

Dienstag, 25. Dezember: Erster Weihnachtstag. 4-5° warm. Früh und abends in der Kapelle. Nachmittag in der Kreuzkirche Krippenspiel. Bei Frau Richter Ribis[45] geschnitten.

Am zweiten Weihnachtsfeiertage habe ich Dienst gehalten bei Palme und bis abends Pelargonien verpflanzt. Gegen 11 Uhr stand plötzlich Hannchen vor mir. Beide sind glücklich hinübergekommen, haben die erste Nacht in Hermsdorf zugebracht und dann in der Gärtnerei in Neuland geschlafen. Am Rückweg ist Heinrich von Neuland bis Laaden mit einem Schubkarren gefahren, damit es nicht so auffällt.

Sonntag, 30. Dezember 1945: Nach dem Gottesdienst den ganzen Sonntag bei Frl. Richter Wein, Beerenobst und Sträucher geschnitten[46].

 

Hauptseite

 

 

 

 

 



[1] In Markersdorf (östlich von Deutsch-Gabel) half Hermann bei Frau Richter mit.

[2] Die Tagebücher Hermanns werden nun auch hinzugezogen, soweit sie vorliegen.

[3] Stecklinge: Die Stengel werden zwischen den Blattachsen mit einem scharfem Messer schräg geschnitten, dicht ins Erdbeet dicht gesteckt und mit Folie abgedeckt.

[4] Umstellen: Der Abstand zwischen den Töpfen wird vergrößert. Die Pflanzen brauchen zum Wachsen Kontakt zur Gruppe; deshalb ist mehrmaliges Umstellen erforderlich.

[5] Topfen.

[6] Petunien (aus der südamerikanischen Indianersprache Tupi: petyn, Tabak) – eine Balkonpflanze mit Trichterblüten, die der Tabakpflanze ähnelt.

[7] Erde wird mittels Maschensieb (in Holz gespannt) von Steinen etc. bereinigt.

[8] Saxa – Kartoffelsorte.

[9] Karfiol – Blumenkohl (österreichisch).

[10] Sprossenkohl – Rosenkohl (Brassica var. gemmifera).

[11] Kapuste – Blattkohl (slavisch).

[12] Národni Výbor – Nationalausschuß.

[13] Wirsing.

[14] Kasten – Beet, mit ca. 50 cm hohen Bretter- oder Betonwänden umgeben, und mit einzelnen Glasfenstern abgedeckt.

[15] Am 30.12.1945 schreibt Gertruda in einem Brief: „Hier ist alles kaputt, in ganz Goch steht kein einziges Haus mehr, das noch ganz ist. Die ganze Stadt nebst Kirche und Bahnhof, alles ist hin. Es gibt keinen Handel und keinen Verkehr. Es ist eine ganz tote und verlassene Stadt! Vater hat jetzt viel mit Bauen zu tun. Marga hat sich ans Stricken gemacht, die anderen helfen im Haushalt mit.“ Nachschrift: „Wenn einer von Euch kommt, bringt bitte Bobby mit!“ Thea.

[16] Anhäufeln – die Pflanze mit Erde umgeben, damit die Kartoffelfrucht unter der Erde bleibt und nicht grün wird.

[17] Jauche – natürlicher Volldünger mit N, P, K und Spurenelementen.

[18] Pflanzen fruchten nur senkrecht, daher werden alle Triebe abgeschnitten bzw. aus den Blattachseln (Winkel zwischen der Sproßachse und dem Blatt) gebrochen.

[19] Überzählige Triebe, die die Frucht beschatten, werden abgeschnitten.

[20] Nährsalz – Mineraldünger.

[21] Pan Jiří, u fy. Jindřich Brosche, Starý Habendorf u Liberec, Telefon 4663. Die Familie mußte Habendorf Mitte September 1946 verlassen.

[22] Dr. med. Eugen Sturm, später in Weeze, Kevelaerer Straße.

[23] Jauchen – mit Kuhjauche düngen.

[24] Personensuchstelle des Roten Kreuzes, Schirgiswalde, Sachsen, Oberlausitz.

[25] Gartenbau Jauch, Gartenstr. 57, Niederoderwitz. Dann: Gärtnerei Heiko Jauch, Straße der Republik 67a.

[26] Fritz Palme, Gartenbau, Seifhennersdorf, Nordstr. 56 (dann: Gartenbau Gunter Paul), Telefon 4396, Amt Neugersdorf.

[27] Zeitweise wohnhaft in Zittau, bei Frau Göttlich, Kasernenstr. 68, I. Stock.

[28] Hedwig, Flüchtlingslager Fischendorf, bei Leisnig, Sachsen.

[29] Heinrich, bei Höyer, Gartenbau, Leisnig, Sachsen, Niederlanggasse 28.

[30] Der neue Besitzer: Pan (Herr) Dostal, dřive (früher) Hermann zahradnik (Gärtner), Jablonné pod Ještědem (Deutsch-Gabel).

[31] Reichenau, heute Rychnov, Bezirk Gablonz.

[32] Dr. Rudolf Tietze, Kölleda bei Erfurt, Saarlandstr. 2.

[33] Blanche Poitevine – Weiße Chrysanthemenart aus Poitiers (Nordwestfrankreich).

[34] Kalthaus – Gewächshaus ohne Heizung.

[35] Grete, bei Frau Leonhardt, Kahla, Rudolstädterstr. 2, Thüringen.

[36] Hermann, Umsiedlerlager in Brahlstorf, Baracke 12, Kreis Hagenow, Mecklenburg.

[37] Dechant Hermann Sitte, Erfurt, Kresseweg 6.

[38] Lucius-Hebbel-Stiftung, Kartäuserstr. 63, Erfurt.

[39] Die Botrytis-Blätter werden entfernt.

[40] Sedum – Fetthenne.

[41] Marg. Herbig, Eilsleben, Bezirk Magdeburg, Bauerweiden 3.

[42] Hängebretter sind zusätzliche Stellagen unter dem Dach des Gewächshauses.

[43] Gegen Botrytis, Schimmelpilz. Er ruft Graufäule hervor.

[44] Vgl. Buchtel – österreichisch für süßes Hefegebäck.

[45] Arabisch ﺭﻳﺒﺎﺱ rībās (eine Art Rhabarber) > mittellateinisch ribēs > italienisch rìbes: Johannisbeere.

[46] Im Winter erfolgt ein radikaler Rückschnitt, um einen vielsprossigen Austrieb im Frühling zu ermöglichen.