Mein Priesterleben

 

Warum wollte ich Priester werden?

Während meines Studiums wurde ich gebeten, einen Bibelkreis zu leiten. Ich erfuhr, daß junge Menschen in sich Kräfte fanden, mit denen sie Stürmen und Widrigkeiten begegnen konnten. Sie sahen ein Ziel, das sie vorher nicht vermutet hatten. Ich war darüber erstaunt; denn ich hatte gemeint, mich ganz der Wissenschaft widmen zu sollen. Nun entschied ich mich, ins Priesterseminar einzutreten und die Wissenschaft künftig nur noch nebenbei zu pflegen.

Es ging mir darum, Menschen auf ihren Wegen zu begleiten. Die Wendepunkte des Lebens wie Geburt, Hochzeit, Krankheit und Tod, weisen deutlicher als zu den anderen Zeiten auf eine spirituelle Dimension hin, die es gemeinsam zu entdecken gilt. Das Leben ist nicht eindimensional oder flach, sondern enthält eine Fülle und Kostbarkeit, die aber manchmal übersehen und nicht genügend wahrgenommen wird.

Im Laufe der Jahre erkannte ich immer mehr die Bedeutung des Rituals. Wenn Menschen in Bedrängnis sind, ist ein uraltes Gefüge, das sie dankbar wiedererkennen, Stütze und Halt. Sie stehen in einer Gemeinschaft, die sie trägt. Sie nehmen eine Perspektive wahr, die ihnen vorher verborgen war.

 

1977

Da ich bisher nicht im Priesterseminar gewesen war, mußte ich, ebenso wie zwei andere, zunächst ein Praktikum in einer Gemeinde machen.

Hier bestand die Jugendarbeit darin, daß der Kaplan alle Meßdiener vor den großen Festen in der Kirche versammelte und erklärte, welche Dienste anstehen; dabei war ein großer Lärm und hohe Unaufmerksamkeit. Der Pfarrer bat mich, die Jugendarbeit neu zu organisieren. Ich fragte den Grundschullehrer, welche seiner ehemaligen Schüler geeignet seien, eine Gruppe zu leiten. Er nannte mir elf Namen. Ich hielt mit diesen monatlich eine Gruppenstunde ab mit Spielen, Basteln und Sport, auch religiöse Elemente fehlten nicht, damit sie selbst die Erfahrung der Gruppenarbeit machen konnten. Eine Person schied aus. Nun erhielten die Übrigen je eine Kindergruppe und auf einen Schlag gab es zehn Gruppen in der Jugendarbeit. Der Kaplan kritisierte zwar, konnte aber seine Augen nicht vor dem Ergebnis der Arbeit verschließen.

Nun wurde meine Arbeit auch dadurch anerkannt, daß ich die Weihe zum Diakon erhielt. Ich verspürte Erleichterung, weil nun der dornenreiche Weg des Studiums und des Abwägens zum Abschluß gekommen war.

An der Hauptschule, an der ich Religion unterrichtete, geschah einmal Folgendes: In der Pause warf ein Schüler einen anderen zu Boden, zog ihn an den Beinen hoch und schlug ihn mehrmals mit dem Kopf auf den Boden.

Am nächsten Sonntag predigte ich über die zunehmende Gewalt an den Schulen. Der Stadtrat befaßte sich mit dem Thema und verurteilte meine Ansprache als Nestbeschmutzung.

 

1978

Bei der Priesterweihe empfand ich, daß mir ein schweres Joch auferlegt wurde.

Da in einer Gemeinde der Pfarrer versetzt und noch kein neuer eingeführt worden war, hatte ich dort eine Aushilfsstelle. Der Kaplan, der seit einigen Jahren dort wirkte, sagte mir, ich bräuchte nichts zu tun außer Gottesdienst zu feiern. Als junger Geistlicher brannte ich darauf, etwas in Bewegung zu setzen, und erhielt nun eine erste kühle Dusche. Um meine Zeit zu gestalten, lernte ich Chinesisch.

Der Pfarrer, in dessen Pfarrei ich kommen sollte, lud mich ein, an der Verabschiedung des Kaplans, meines Vorgängers, teilzunehmen. Die Gemeinde wußte nicht recht, an wen sie sich halten sollte, an den alten oder an den neuen Kaplan. Schnell galt ich als konservativ, aufgrund meiner Kleidung und wohl auch infolge einiger Antworten auf Fragen, die mir prüfend gestellt worden waren.

Als ich dann dort als Kaplan wirkte, verhielt sich der Pfarrer mir gegenüber recht distanziert, da er sich für progressiv hielt. Von Anfang an wurde mir vorgeworfen, die Jugendarbeit zu behindern, da ich im Pfarrgemeinderat mit fast allen anderen für die neue Hausordnung des Pfarr- und Jugendheimes gestimmt hatte, die einen Hausmeister als Schlüsselverwalter vorsah, während die Jugendvertreter forderten, jeder Gruppenleiter sollte einen Schlüssel zum Jugendheim haben. Diese Forderung wurde vier Jahre lang bei jeder Sitzung der Jugendverbände wiederholt.

Ich hätte auf das Verbindende hinweisen müssen, die gemeinsame Kinder- und Jugendarbeit. Viel weiter konnte ich nicht gehen; denn bereits in der betreffenden Pfarrgemeinderatssitzung hatten alle Jugendvertreter unter Protest den Saal verlassen. Offensichtlich hatten sie das vorher abgesprochen. Wenn ich sie nicht verlieren wollte, mußte ich stillhalten und die Situation ertragen. Allerdings hätte ich manchmal mehr Stärke und Mut beweisen müssen, wenn der Ton mir gegenüber allzu frech wurde.

 

1979

Der Pfarrer sagte mir ein Zitat, um meine Haltung umzukehren: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern!“ (Karl Marx, elfte These über Feuerbach, aus dem Jahre 1845).

Nach einer Religionsstunde in der Oberstufe eines Gymnasiums baten zwei Schüler um ein Gespräch. Sie schlugen mir vor, über Probleme der Dritten Welt zu reden. Ich besorgte einen Katalog der kirchlichen Mediathek und ließ sie Filme wählen, die sie für interessant hielten. Wir schauten sie im Unterricht an. Es ging um die Ursachen der Verelendung. Daraus entwickelte sich eine Dritte-Welt-Gruppe, die ich als eingetragenen Verein anmeldete. Wir gründeten einen Dritte-Welt-Laden in meiner Wohnung und verkauften Artikel aus Fairem Handel, machten Straßen-Aktionen, führten Filme vor und trafen uns jeden Freitagabend. Die Gruppe wuchs rasch. Wir kochten zusammen nach dem Rezept: „Man nehme, was man hat“ und aßen gemeinsam.

Was waren die Informationsquellen dieser Gruppe? Die Filme, die wir zeigten, stammten aus der betreffenden diözesanen Stelle. Die Länderberichte kamen vom bischöflichen Hilfswerk Misereor. Die Umweltproblematik wurde in der US-amerikanischen Studie „Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten“ beschrieben, die von der dortigen Regierung 1977 in Auftrag gegeben und vom Council of Environmental Quality 1980 in New York in drei Bänden herausgegeben worden war.

Dies waren respektable Quellen, doch in der Zeitung wurden wir als blauäugig und linksblind bezeichnet. Im Bericht über uns wurden Anführungszeichen verwendet: Sie geben „Informationen“. Am meisten erregte Anstoß, daß wir auf die wachsende Waffenproduktion, die Arbeitsbedingungen einheimischer Arbeiter und auf die Einleitung von Schadstoffen in Flüsse hinwiesen. Der Pfarrer war mit diesem Teil meiner Arbeit nicht einverstanden. Ich hätte ihn auf den Widerspruch aufmerksam machen müssen zwischen seinen Worten (siehe das obige Marx-Zitat) und seinem Verhalten mir gegenüber.

 

1980

In dieser Gemeinde gab es viele Meßdienergruppen. Ich schrieb eine Satzung für sie, stellte Programme für die einzelnen großen Feste auf, hatte auch Erwachsenenmeßdiener, fuhr ins Ferienlager und ging zur Martinikirmes mit dem ganzen Schwarm aus. Ich hatte eine Trillerpfeife dabei, um die Truppe zusammenzuhalten. Bei den einzelnen Fahrgeschäften fragte ich, ob wir Ermäßigung und Mengenrabat erhielten, was auch stets gewährt wurde. Die Kinder und Jugendlichen waren glücklich, der Kaplan auch.

Bei einer Kirmes hatte mich das Sportfieber gepackt. Da war eine Schiffschaukel. Anfangs gab es einen Schub, doch die Bewegung verlangsamte sich immer mehr. Am nächsten Tag brachte ich eine Begleitperson mit, doch unsere Bewegungen waren nicht koordiniert. Am dritten Tag kam ich allein wieder und setzte um, was ich mittlerweile begriffen hatte: Immer ein klein wenig Schwung geben, einmal nach rechts, dann, wenn die Schaukel zurückschwang, nach links. Die erreichte Höhe wurde immer größer, bis endlich der Überschlag gelang.

Am Sonntagmorgen um 8.00 Uhr fehlten häufiger die Meßdiener. Der Pfarrer äußerte laut seinen Unmut. Ich rief die betreffenden Eltern an und machte Besuche. Langsam besserte sich die Zuverlässigkeit.

 

1981

Ich besuchte alle 113 Ausländer unserer Gemeinde. Bürger Jugoslawiens (Bosnier, Kroaten, Herzegowiner, Mazedonier, Montenegriner, Serben und Slowenen) waren schweigsam. Mit ihnen kam kein Gespräch zustande, was nicht an der mangelnden Kompetenz im Deutschen lag. Ganz anders die Koreaner. Sie luden mich zu Familienfesten ein, bei denen es äußerst scharf gewürzte Speisen gab, baten mich um Vermittlung im Berufsleben und, kirchliche Trauungen abzuhalten.

Darüber hinaus besuchte ich die Pfarrmitglieder eines ganzen Stadtviertels. Vor Taufen, Trauungen und Beerdigungen sowie zur Krisenintervention wurden die betreffenden Familien besucht.

Ich gab Religionsunterricht in der Grundschule, in der Hauptschule und im Gymnasium. Die unverfälschte Freude der Kinder, wenn ich mit meiner Gitarre ankam, ist mir lebhaft in Erinnerung. In der Hauptschule war eine emotionale Wärme zu spüren, die im Gymnasium fehlte.

In der Kinder- und Jugendarbeit gab es hundert Meßdiener, hundert Pfadfinderinnen, fünfzig Pfadfinder und dreißig Mitglieder von Jungkolping. Dazu kamen vierzig Mitglieder der Dritte-Welt-Gruppe und zehn der Donnerstagsgruppe, die so hieß, weil sie sich donnerstags traf. Ich besuchte nacheinander alle Gruppen und nahm an allen Sitzungen der Gremien teil.

Zu den Gottesdiensten kamen jeden Sonntag zweitausend Besucher, verteilt auf fünf Heilige Messen.

Ich brachte den Kranken die Heilige Kommunion, wofür sie dankbar waren, da sie nicht mehr zur Kirche gehen konnten.

Die Predigtvorbereitung nahm viel Zeit ein. Der Pfarrer sagte, ich solle näher am Menschen predigen.

Monatlich hielt ich einen Wüstentag, gemäß den Anregungen von Charles de Foucauld. Der Pfarrer erlegte mir mehrmals gerade an diesem vorher vereinbarten Tag eine Beerdigung auf, mit der Bemerkung, er habe überhaupt keine Freizeit.

Ich nahm Obdachlose und entlassene Strafgefangene in meine Wohnung auf. Die Obdachlosen verunreinigten die Räume durch Urin und die ehemaligen Strafgefangenen stahlen mir Geld und Teile der Kücheneinrichtung.

Immer wieder besuchte mich der Pfarrer unangemeldet am Sonntagabend und sagte mir, ich sei eng. Schließlich verlangte er von mir, ich solle die Pfarrei Monate vor dem vereinbarten Termin verlassen. Ich lehnte ab. Ich hätte ihm sagen müssen, daß er sich unfair verhält.

 

1982

Bald nach meiner Ankunft in der neuen Gemeinde kamen zwei Gruppenleiter zu mir, die nicht mehr mit dem organisierten Jugendverband zusammenarbeiten, wohl aber Meßdienergruppen übernehmen wollten. Ich stimmte zu, schrieb eine Satzung für die Meßdiener und wurde sogleich als der Totengräber des betreffenden Jugendverbandes bezeichnet. Seine Aktiven stellten ihre Zusammenarbeit mit mir ein. Auch die Musikgruppe wandte sich von mir ab, sodaß ich auswärtige Musizierende für meine Jugendmessen bestellen und bezahlen mußte. Da auch keine Bereitschaft war, ein Ferienlager mit meiner Präsenz durchzuführen, organisierte ich selber eines, bestellte auch den Bus und ließ Informationen an die Schulen gehen, die aber offensichtlich nicht verteilt wurden. Es gab keine Anmeldungen und ich mußte Ferienlager und Bus stornieren. Gleich kam die Pfarrgemeinderatsvorsitzende mit mehreren aus dem Pfarrgemeinderat und fragte mich in scharfem Ton: „Wo bleibt der frische Wind in Ihrer Jugendarbeit?“

Ich hätte den beiden Meßdienergruppenleitern sagen müssen, daß ich mir die Sache überlegen wollte. Darauf wäre ich zu dem Jugendverband gegangen und hätte mit ihnen diese Angelegenheit besprochen. Dadurch wären der Gemeindearbeit zwar zwei Gruppenleiter verlorengegangen, aber es hätte eine Zusammenarbeit mit dem Verband gegeben.

 

1983

Ich gründete einen Bioladen, in dem Nahrungsmittel verkauft wurden, die ohne Pestizide angebaut worden waren. Die Miete für das Ladenlokal bezahlte ich von meinem Gehalt. Die Geschäftsleute meinten, dies sei unlauterer Wettbewerb, da unsere Verkäufer unentgeltlich arbeiteten. Außerdem gäbe es keine Naturprodukte mehr, da Ackerböden, Luft und Wasser verseucht seien.

Ich besuchte Nicaragua und unterstützte in der Folgezeit einen Kindergarten, den ich dort besucht hatte, mit neuen Kinderschuhen, mit Spielzeug und Malutensilien sowie finanziell.

Es hatte sich eine örtliche Wählergemeinschaft gebildet, der ich beitrat, um die Forderungen nach Frieden und Gerechtigkeit besser hörbar zu machen. Ich wurde in den Stadtrat gewählt. Nun lautete die Beschuldigung, ich mache in der Gemeinde kommunistische Jugendarbeit.

Es schien mir, eine politische Tätigkeit sei mir möglich; denn das Kirchliche Gesetzbuch stand dem nicht entgegen. Immerhin war ja der Priester Carl Ulitzka 1920 bis 1933 im Reichstag tätig gewesen und Heinrich Brauns war Reichsarbeitsminister. Allerdings kannte ich die nachkonziliare Gesetzgebung nicht. Es gab eine Erklärung der deutschen Bischöfe zur parteipolitischen Tätigkeit der Priester, die während der Vollversammlung in Fulda vom 24. bis zum 27. September 1973 verabschiedet worden war und ein entsprechendes Verbot enthielt.

Ich hatte Kontakt mit französischen Arbeiterpriestern und nahm auch an einem Werkseminar teil, in dem wirtschaftliche Zusammenhänge dargelegt wurden. Im Anschluß daran war ich drei Wochen in einer Glashütte tätig. Meine Aufgabe war, mit französischen Arbeitern zusammen einen Ofen zu bauen, der Glas für Autoscheiben herstellte.

Nun wurde ich als Pfleger in ein Heim versetzt, in dem Schwer- und Mehrfachbehinderte waren. Ich stellte mich dort vor, erfuhr aber, daß die dortige Mitarbeitervertretung vorher nicht gefragt worden und mit meiner künftigen Tätigkeit nicht einverstanden war. Ich hatte bisher noch nie etwas mit Behindertenarbeit zu tun gehabt und entschloß mich daher, eine Rückfrage zu stellen.

Da mir keine Möglichkeit mehr gegeben wurde, in meiner Gemeinde zu arbeiten, bat ich schließlich um Beurlaubung auf drei Jahre, damit ich Arbeiterpriester werden konnte. Ich erhielt die Genehmigung, mußte mir aber innerhalb von zwei Tagen eine neue Wohnung und eine neue Arbeitsstelle suchen. Die Wohnung fand ich zwar, aber die Arbeitsstelle nicht.

Zu dieser Zeit hatte ich einen Traum:

Es fand eine große Veranstaltung auf einer Wiese statt und viele Besucher waren gekommen.  Hinter mir war eine niedrige, aber sehr lange Mauer, welche diesen Bereich von allen übrigen Flächen abgrenzte. Ich hielt ein Mikrophon in der Hand und sprach zu den Menschen.

Da bemerkte ich, daß immer mehr Zuhörer weggingen, bis nur noch wenige in meiner Nähe waren. Ich stellte fest, daß die Verbindung meines Mikrophons zum Verstärker unterbrochen worden war, sodaß mich bei dem allgemeinen Lärm niemand mehr hören konnte.

 

Ich deute diesen Traum folgendermaßen:

Die „Mauer“ zeigt Abgeschlossensein und hauptsächliche Sorge um die, welche sich innerhalb des abgegrenzten Bereiches befinden. Durch meine Entscheidung hatte ich zunächst die meisten derjenigen verloren, mit denen ich früher zu tun hatte. Es gab keine Möglichkeit mehr, in einem großen und umfassenden Rahmen zu arbeiten. Wie sich aber in den kommenden Jahren zeigte, erhielt ich zu immer mehr Menschen Kontakt, nur eben meist zu anderen und andersgearteten als vorher.

 

Als ich jemandem meinen Wunsch vortrug, der für den Einsatz in den Gemeinden und die Vergabe der Seelsorgestellen zuständig war, sagte er mir: „Ein reicher Mann geht arbeiten.“

 

1984

An jedem Tag schrieb ich Bewerbungen, telephonierte mit Betrieben, Firmen sowie Unternehmen und besuchte sie, um mich vorzustellen und persönlich nachzufragen. Die Informationen, die ich beim Arbeitsamt erhielt, waren veraltet; die betreffenden Stellen wurden bereits besetzt.

Nach einem halben Jahr war es soweit, daß ich die nächste Monatsmiete nicht mehr hätte bezahlen können. Da erhielt ich gleich zwei Zusagen, eine für eine Fleischfabrik und eine andere für einen Betrieb, der Reibungs- und Bremsbeläge für Bahn und Bergbau herstellte. In dem fleischverarbeitenden Betrieb war es kühl und feucht. Dies hätte mir nicht gutgetan, da ich an Rheuma litt. So wählte ich den anderen Betrieb, in dem es warm und trocken war.

An meinem ersten Arbeitstage hatte ich gegen Schichtende den Boden meines Arbeitsbereiches zu fegen. Den Kollegen war klar, daß ich nach einem Tag noch nicht so gut Beläge pressen konnte, aber nun wollten sie sehen, wie ich diese Arbeit bewerkstellige. Ich fegte sorgfältig den Kehricht zusammen und am Schluß meinte jemand, ganz enttäuscht: „Dat hasse schomma gemacht!“

 

1985

Ich arbeitete abwechselnd in drei Schichten: Morgends, mittags und nachts. Wir hatten Stückzahlakkord. Die Beläge wurden mit Asbest gefertigt wegen der hohen Temperaturen, die beim Bremsen entstanden. Der Kleber, der Metallspähne, Gummi und Asbest miteinander verband, war hochgiftig.

Eine Form wurde mit Trennwachs eingepinselt, weißes Wachs für helle und schwarzes Wachs für dunkle Beläge. Dann wurde das Befestigungsblech eingelegt und die Mischung eingefüllt. Die Presse wurde zugefahren und wirkte bei einer bestimmten Temperatur für eine festgelegte Zeit. Dann fuhr sie automatisch wieder hoch, der Belag wurde mit einem Plastikhammer herausgeklopft und entgratet. Die Dicke wurde jeweils mit einem Meßschieber (Pachometer) überprüft.

In meiner freien Zeit feierte ich Gottesdienste, gab Exerzitien, hielt Vorträge und war bei Gruppenstunden der Christlichen Arbeiterjugend.

 

1986

Mit der Zeit konnte ich alle Maschinen in der Presserei bedienen und auf andere Formen umbauen, auch die automatische Kaltpresse, bei der die Beläge nur noch zu entgraten waren. Dadurch wurde ich Springer, das heißt, ich hatte, wenn jemand ausfiel, einen kurzen Wechsel zu vollziehen, von Frühschicht auf Nachtschicht, von Mittagsschicht auf Frühschicht oder von Nachtschicht auf Mittagsschicht. So konnte ich nichts mehr planen und lebte nur noch für die Arbeit.

 

1987

Das Verhältnis zu meinen Kollegen wurde gut. Ich war einer der ihren, besuchte sie bei Geburtstagen und führte lange Gespräche mit ihnen. Meine priesterlichen Mitbrüder warfen mir vor, anderen den Arbeitsplatz wegzunehmen, und polemisierten gegen die Gewerkschaften. Einer sagte mir klar und deutlich: Die Arbeiter wollen nicht, daß Du mit ihnen arbeitest; sie wollen Dich als Priester am Altar sehen!

Ich hatte eine andere Sichtweise. Ich war in den Betrieb gegangen, um dort Menschen zu treffen, die nicht in die Kirche gingen und ihr fernstanden. Sicher war das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber ein solcher Einwand sollte niemanden vom Handeln abhalten.

Was das Wegnehmen des Arbeitsplatzes angeht, so nimmt jeder, der arbeitet, einem anderen den Arbeitsplatz weg. Zu bedenken ist auch, daß manche Menschen gerne als Pfarrerin und Pfarrer arbeiten würden, jedoch die Zugangsbedingungen, nämlich der Zölibat und die Einengung auf männliche Kandidaten, schließen sie vom Priesteramt aus.

 

1988

Da meine Wiedereingliederung in den Gemeindedienst aufgrund meiner Schichtarbeit nicht gelang, wandte ich mich stärker der Gemeinde der heiligen Boris und Gleb zu, in der ich seit 1984 im Chor sang. Wenn ich dort, schichtbedingt, fehlte, wurde dies akzeptiert, während mir in der deutschen Gemeinde gesagt worden war, ich solle „freinehmen“. Ich wurde in der russischsprachigen Gemeinde Lektor. Der Gründer dieser Gemeinde, Pater Erwin, fragte mich, ob ich mit ihm zusammenarbeiten wollte. Ich überlegte mir dies ein Jahr lang und sagte dann zu.

 

1989

Ich absolvierte in Rom einen sechswöchigen Italienischkurs und studierte dann am Orientalischen Institut Kirchenslavisch, Russisch, Byzantinische Kirchengeschichte, Russische Spiritualität, Östliche Liturgik und Dogmatik sowie orientalisches Kirchenrecht.

 

1990

Mir wurde bewußt, daß die griechische und syrische Theologie grundlegend waren für die russische und die anderer orthodoxer Kirchen. Täglich feierte ich byzantinische Liturgie und die Vesper, sang zuerst im Chor, amtierte dann als Lektor und schließlich als Zelebrant. Ich durchlebte zweimal hintereinander das Kirchenjahr mit den vielen Besonderheiten.

 

1991

In Rom war ich zum Beichtvater geworden. Es gab viele Besucher, die ich als Cicerone durch die Ewige Stadt führte. Selbst die entferntesten Verwandten und Bekannten erinnerten sich auf einmal an mich und kamen vorbei. Ihre Ansprüche waren hoch. Meine Warnung vor Taschendieben verhallte ungehört („Du willst uns Angst machen!“), mit den entsprechenden Folgen.

Ich schrieb eine Lizentiatsarbeit über Lebensbeschreibungen der 1988 kanonisierten Ksenija von Sankt Petersburg und bestand die Examina mit Summa cum laude.

Ich wollte Jesuit werden, um in Rußland arbeiten zu können, doch dieser Plan zerschlug sich.

 

1992

Das Wiedereinleben in Deutschland war schwierig. Wenn ich eine römische Auffassung äußerte, wurde die volle Schale des Zornes über mich ausgegossen.

Ich übersetzte ein Büchlein über die heilige Klara aus dem Italienischen ins Deutsche sowie zwei Aufsätze über den Pianisten Rachmaninov aus dem Russischen ins Deutsche und veröffentlichte die Lebenserinnerungen meines Vaters.

In der Gemeinde besuchte ich vor allem die Mitglieder, die weiter entfernt wohnten.

 

1993

Ich war es satt, für andere zu arbeiten und entschloß mich zu promovieren. Ich besuchte einen Professor, der mich auf einer Kaukasusreise dazu eingeladen hatte und schlug ihm drei mögliche Themen vor:

o   „Einsam und gemeinsam“. Koinobitische und eremitische Lebensweise.

o   Das Paterikon (Väterbuch) von Solovki.

o   Die Pauluskommentare des heiligen Feofan Zatvornik, Theophan des Klausners.

Die ersten beiden Themen bezeichnete er als wenig ergiebig, doch beim dritten Thema leuchteten seine Augen auf. Warum?

In dieser Zeit fanden Gespräche zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre statt, die das Kernstück der Reformation darstellte. Da war die Frage interessant: Gibt es eine orthodoxe Rechtfertigungslehre und, wenn ja, welche Gestalt hat sie?

 

1994

Naiv, wie ich war, nahm ich an, schnell das Doktorat beenden zu können, weil ich ja bereits ein Lizentiat im Fach Ostkirchenkunde hatte. Doch, weit gefehlt! Die entsprechenden Mitarbeiter bei der Immatrikulationsabteilung schrien nur: „Ausland!“, und ich erkannte die Gültigkeit des alten Wortes: „Doctor Romanus – asinus Germanus“, was, frei übersetzt, bedeutet: Wer in Rom einen akademischen Grad erworben hat, gilt in Deutschland als Esel.

Ich mußte sechs Seminararbeiten schreiben. Das verbrauchte viel Zeit. Die Themen waren

o   Das Gebet um die dritte Stunde.

o   Die Jerusalemer Leseordnung.

o   Die Seligpreisungen in der Auslegung der Kirchenväter.

o   Der Ausfall Pauli 1 Thess 2, 15.

o   Der mehrfache Schriftsinn bei Origenes.

o   Die Passion Gottes.

In den Sommersemesterferien hatte ich Zeit, um jeweils zwei Seminararbeiten zu schreiben, doch die Wintersemesterferien waren kürzer; und so geriet ich unter Druck. Es fehlte nicht an Kommentaren von der Art: „Du wirst die Arbeit nicht fertigstellen können!“

 

1995

Die Arbeit in der Gemeinde der heiligen Boris und Gleb nahm zu, da immer mehr Menschen die Liturgie besuchten. Die Grenzen waren ja so offen, wie schon lange nicht mehr. Allerdings kamen viele nur, um sich ein wenig umzusehen und wurden dann nicht mehr gesehen. Die Gemeinde war ein „Durchlauferhitzer“ geworden, mit Respekt gesagt. Taufen, Trauungen, Beerdigungen im weitesten Umkreis sowie Kriseninterventionen aller Art. nahmen viel Zeit und Kraft in Anspruch. Es gab kaum eine Amtsstelle, die ich nicht mit meinen Schutzbefohlenen besucht hätte.

 

1996

Mein Professor, der am Ökumenischen Institut seit 1982 gewirkt hatte, verstarb an einem Gehirntumor. Glücklicherweise gelang es mir, einen anderen Doktorvater zu finden, der aber gegenüber dem früheren unterschiedliche Vorstellungen hatte. Ich arbeitete mit Hochdruck, um die Arbeit fertigzustellen.

 

1997

Ich gab die Dissertation ab und sie wurde angenommen. Ich bestand die drei Prüfungen des Rigorosums.

Es gab eine Schwierigkeit. Eine Zusatzerklärung zur Rechtfertigungslehre von seiten der Katholischen Kirche hatte die ursprüngliche Übereinkunft verwässert. Ich scheute mich, das herauszustellen, um die Annahme der Arbeit nicht zu gefährden. Auch führte ich nicht aus, daß Karl Rahner eine große Kehrtwendung gemacht hatte. Früher hatte er gegen das Buch über die Rechtfertigung von Hans Küng Stellung bezogen, doch später übernahm er die evangelische Sichtweise.

 

1998

Die Promotionsfeier fand erst ein Semester nach meinem Abschluß statt, da in meinem Kurs nur drei Promovenden waren.

Die Doppelbelastung blieb; denn ich schrieb in der Folgezeit zahlreiche Bücher zur russischen Spiritualität.

 

2007

Ich zog nach Horneburg; denn das Pendeln zwischen Recklinghausen und diesem Dorf verbrauchte zuviel Energie.

 

In den folgenden Jahren trat ich der Kolpingsfamilie und dem Bürgerschützenverein bei; ich wurde Bataillonsseelsorger. Zur Freiwilligen Feuerwehr hielt ich guten Kontakt und erhielt die Ernennung zum Ehrenbrandmeister. Mit dem Horneburger Blasorchester hatte ich eine Verbindung.

Im Jahr 2022 ging ich, gesundheitsbedingt, in den Ruhestand.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2023

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