Der Gedanke der Anthropodizee bei Nikolaj Berdjajew

Klaus Bambauer

In einem recht selten greifbaren Band der Textsammlung "Östliches Christentum" (Bd. 1 u. 2), findet sich ein umfangreicher Aufsatz von Nikolaj Berdjajew mit dem Titel "Das Problem der Anthropodizee" (1). In einer Anmerkung zu dieser Veröffentlichung, die im Untertitel als "Fragmente" bezeichnet wird, sagt der Autor: "Diese Fragmente stellen eine Umarbeitung einiger Teile meines Buches 'Der Sinn des Schaffens. Versuch einer Rechtfertigung des Menschen' mit Ergänzungen aus meinen anderen Arbeiten dar" (2). Da diese Darstellung der Anthropodizee in der Sicht des russischen Denkers in der bekannten Berdjajew-Literatur nur unzureichende Beachtung gefunden hat, sei darauf ausführlicher eingegangen. Die fragmentarische Arbeit N.Berdjajews, deren weitgespannte Thematik auch – wie von ihm selbst gesagt – in seinen anderen Werken berührt oder zum zentralen Thema gemacht wird, gliedert sich in 21 Paragraphen.

A. Der Begriff der Anthropodizee in seiner philosophischen Definition

Bevor wir uns den Einzelheiten der umfangreichen Arbeit Berdjajews zuwenden, vermittelt uns das "Historische Wörterbuch der Philosophie" in der Ausführung von H.J.Sandkühler folgende Begriffsklärung: "Anthropodizee wird erstmals erwähnt bei P.Faulquie als 'Néol[atin] calqué sur théodicée pour désigner une philosophie dans laquelle l'homme a pris la place occupée par dieu dans la philosophie classique' und dort [bei Faulquie, Paris 1962] P.Muller zugeschrieben, der die zentrale Beachtung des menschlichen Handelns in der modernen Philosophie als A[nthropodizee] verstanden habe. A[nthropodizee] ist die Verteidigung der Vernunft des Menschen gegen die Anklage, welche dieser aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen sich erhebt. Angesichts des historischen, dialektischen Zusammenhangs von Theodizee und A[nthropodizee] fand der Begriff in zweifacher Bestimmung Eingang in die gegenwärtige Philosophie: 1. als geschichtsphilosophische Interpretationskategorie und 2. als ideologiekrisches Theorem" (3).

H.J.Sandkühler zitiert in seiner hier herangezogenen Begriffsbestimmung die Studie von Hans Blumenberg "Die Legitimität der Neuzeit" (1960), worin der genannte Autor B. den geschichtsphilosophischen Prozess im neuzeitlichen Stadium als Anthropodizee bezeichnet und die Neuzeit "als die zweite Überwindung der Gnosis" charakterisiert (a.a.O., S. 96), weil "die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war" (a.a.O., S. 78). Weiter heißt es dort: "Die von der Antike gestellte und nicht gelöste Frage nach dem Übel wurde im neuplatonischen Verdikt der Welt als 'großer Verfehlung ihres idealen Modells' und in der gnostischen eschatologischen Erwartung ihrer Zerstörung radikalisiert. Sie hat in der Kritik Augustins am ruinösen Katastrophenbewusstsein der Gnosis und seiner Wendung zu einer um des Menschen willen geschaffenen Welt eine entscheidende Antwort erhalten: Der Mensch bürdet sich zur Entlastung Gottes die Schuld alles Übels auf. Zum universellen Schuldbekenntnis des Menschen gehört die Lehre von seiner Rechtfertigung auf dem Gnadenwege. Unter dem neuzeitlichen Eindruck der Erkenntnis der Faktizität des Wirklichen und der Reflexion auf den Mangel der Natur als den Antrieb menschlicher Tätigkeit stellt sich das Problem der Rechtfertigung auf veränderte Weise: Nicht die Verantwortung für die vergangene Urschuld drängt, sondern die für die Zukunft der Geschichte. 'Die Gnosis hatte das Problem der Qualität der Welt für den Menschen akut gemacht und in den Widerspruch, den Patristik und Mittelalter ihr entgegensetzen sollten, die Bedingung der Kosmodizee als Theodizee eingebracht; die Neuzeit versuchte diese Bedingung auszuschlagen, indem sie ihre Anthropodizee auf die Rücksichtslosigkeit der Welt gegenüber dem Menschen […] begründete'. In der technischen Sphäre vermittelt sich ein der entfremdeten Wirklichkeit bewusst begegnender Wille zur Erringung einer neuen 'Humanität' dieser Wirklichkeit. Die Anthropodizee ist die Antwort menschlicher Selbstbehauptung auf den nachmittelalterlichen Ordnungs- und Telosschwund" (4).

B. Die Anthropodizee in der Interpretation N.Berdjajews

Berdjajew weist in seiner Einleitung darauf hin, dass beim Vergleich der Entwicklungsstrukturen des Christentums gerade in den ersten Jahrhunderten diese Phasen der Herausbildung christlichen Denkens das irrationale Geheimnis "der christlichen Dreieinigkeit der Gottheit und der Zweieinheit Christi nicht in sich aufnahmen", d.h. man schreckte vor der Einführung der Pluralität in das göttliche Leben zurück, weil der Monophysitismus auf der Einheit und nicht auf einer spekulativen Vielgestaltigkeit aufgebaut war. Demgegenüber konstatiert Berdjajew: "In Wahrheit ist das Christentum nicht nur die Religion Gottes, sondern auch die des Menschen, die Religion des Gottmenschen und des Gottmenschentums, die Zweieinheit der Natur Christi – des Erlösers. Darin liegt die Eigenart, die Einzigkeit und die Unwiederholbarkeit des Christentums. Nur im Christentum ist die Zweieinheit der menschlichen Natur" (5). So beschreibt der Autor das Christentum in seinem Kern als "anthropologisch".

Berdjajew setzt voraus, dass alle Theologie einen anthropologischen Teil in sich trage und diese religiöse (oder christliche) Anthropologie, die sich wiederum in eine griechisch-orthodoxe, protestantische und römisch-katholische Anthropologie aufspaltet und Unterscheidungsmerkmale setzt, zieht nach sich, dass der Mensch entweder trotz des Sündenfalls als natürliches Wesen unverändert blieb (so im Katholizismus) oder dass – wie im Protestantismus – der Sündenfall die menschliche Natur vollkommen verdorben, die Vernunft entstellt, der Mensch der Freiheit beraubt und sein Leben in Abhängigkeit von der Gnade gebracht hat. Demgegenüber sieht er die griechisch-orthodoxe Anthropologie wenig ausgebildet. Sie hat in ihren Mittelpunkt die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen gestellt, und sie sieht den Menschen als geistiges Wesen. "Durch den Sündenfall wurde das gottebenbildliche und geistige Leben verletzt, nicht aber vernichtet und das Ebenbild Gottes im Menschen getrübt. Dieser Standpunkt ist dem Naturalismus zutiefst entgegengesetzt. Die christliche Anthropologie lehrt nicht nur vom 'Alten Adam'; sie verkündet auch den Neuen Adam, Christus, den Gottmenschen; darum ist sie auch eine gott-menschliche Anthropologie. Die Idee des Gottmenschen steht im Mittelpunkt der christlichen Anthropologie. Der Mensch ist ein Wesen, das von Gott erschaffen wurde, ein Wesen, das von Gott abgefallen ist, ein Wesen, das von Ihm die Gnade empfängt. So rundet sich der Kreis der christlichen Anthropologie. Diese Anthropologie erniedrigt den Menschen als Kreatur, und die Idee der Sünde erdrückt in ihr die der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Diese Anthropologie stellt aber das Problem des Menschen in seiner ganzen Tiefe dar und erfasst die Paradoxie der menschlichen Natur; darum überragt sie alle philosophischen anthropologischen Lehren" (6).

Nun kommt der Verfasser zu der bemerkenswerten Aussage, die ihn in die Nähe der häretischen Anthropologie Ludwig Feuerbachs zu bringen scheint: "Das Christentum ist nicht nur der Glaube an Gott, sondern auch der Glaube an den Menschen" (S. 247). Doch an dieser Stelle bringt Berdjajew in die Diskussion um die Bestimmung des Menschen das wichtige trinitarische Motiv ein: "Es [das Christentum] trägt den Menschen zu einer schwindelerregenden Höhe empor, indem es ihn in den Schoß der Hl. Trinität erhebt. Es vertritt nicht den relativen, naturalistischen Anthropozentrismus, sondern den absoluten, metaphysischen. Christus, die zweite Person der Hl. Trinität, ist Mensch geworden und hat auf Erden im Menschengeschlecht gelebt. Er hatte die Gestalt eines Menschen. Die Menschen haben seine menschliche Gestalt mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Händen berührt, sie haben mit eigenen Ohren seine menschliche Stimme vernommen. Christus ist der absolute Mensch, der neue und ewige, absolute Adam, der Träger der ewigen und absoluten Menschlichkeit. Der Mensch steht über den Engeln […]. Das alttestamentliche, jüdische religiöse Bewusstsein behauptete die Trennung und die Unendlichkeit der Distanz zwischen Gott und dem Menschen. Und für das griechische Bewusstsein sind 'Menschentum und Götterwesen örtlich und wesentlich getrennt und unterschieden und sollen es bleiben' (E.Rohde). Der Mensch gehört der natürlichen Welt an und ist ihren Gesetzen untertan. Aber durch Christus = den Gottmenschen wird er bis zu den Gipfeln der Göttlichen Trinität emporgetragen und erbt das Göttliche Leben" (7).

Zu § 1

Berdjajew wird in seiner vorliegenden Arbeit und in seinen Hauptwerken nicht müde, zu behaupten, dass der Mensch der Kreuzungspunkt zweier Welten sei: "[…] das bezeugt die Doppeltheit seines Selbstbewusstseins, die sich durch seine ganze Geschichte hindurchzieht. Der Mensch ist sich seiner Zugehörigkeit zu zwei Welten bewusst, seine Natur ist zwiefach, und in seinem Bewusstsein siegt bald die eine, bald die andere Natur. Der Mensch ist sich seiner Majestät und Macht und seiner Nichtigkeit und Schwäche, seiner königlichen Freiheit und seiner knechtischen Abhängigkeit bewusst, er erkennt sich als Bildnis und Ebenbild Gottes und als Tropfen im Meer der natürlichen Notwendigkeit. Fast mit gleichem Recht kann man von dem göttlichen Ursprung des Menschen und von seinem Ursprung aus den niederen Formen der organischen Natur sprechen. Fast mit der gleichen Kraft der Argumentation verteidigen die Philosophen die ursprüngliche Freiheit des Menschen und den vollständigen Determinismus, welcher den Menschen einen fatalen Tribut an die natürliche Notwendigkeit entrichten lässt. Der Mensch ist eine von den Erscheinungen dieser Welt, eines von den Dingen im natürlichen Kreislauf der Dinge; und der Mensch tritt aus dieser Welt als Bildnis und Ebenbild des Seins heraus und überragt alle Dinge der natürlichen Ordnung. Ein sonderbares sich doppelndes und doppelsinniges Wesen, welches eine königliche und eine knechtische Gestalt hat, ein freies und ein gefesseltes, ein starkes und schwaches Wesen, welches die Majestät mit der Nichtigkeit, das Ewige mit dem Vergänglichen in einem Sein vereinigt" (8). Von Pascal bis hin zu Jakob Böhme wurde stets der antinomische Charakter des Lebens in der von Berdjajew beschriebenen Weise empfunden: "Nun – siehe Mensch, wie du bist irdisch und dann auch himmlisch, in einer Person vermischt und trägst das irdische und dann auch das himmlische Bild in einer Person" (J.Böhme) (9).

Wird der Mensch nur auf die natürliche Welt bezogen, so bleibt sein Selbstbewusstsein als Geheimnis unerklärbar. Deshalb stammt der Mensch nicht nur aus dieser, sondern auch aus jener Welt, er ist nicht nur von der Notwendigkeit naturhafter Vorgänge abhängig, sondern er verdankt sich auch der Freiheit, und diese Freiheit stellt Berdjajew in die Nähe Gottes, ja diese Freiheit ist tiefer als Gott, sie ist "unerschaffen" (10). Versteht sich der Mensch ausschließlich als ein Teil der Natur – und dies wäre ein sekundäres Faktum des menschlichen Selbstbewusstseins – , so wird er davon erdrückt. Demgegenüber sieht Berdjajew den Menschen "als außernatürliches, außerweltliches Faktum". Schon in seiner frühen Jugend wird der Autor davon berührt: "Das Lebensempfinden, von dem ich spreche, möchte ich als Lebensfremdheit, als eine Ablehnung der Gegebenheiten der Welt, als Nicht-Verschmolzensein, Nicht-verwurzelt-sein in der Erde, als krankhafte Abkehr vom Alltäglichen definieren […]. Mein 'Ich' erlebt sich als Kreuzung zweier Welten. Hierbei wird 'diese Welt' nicht als die wirklich Seiende, nicht als die urtümliche oder endgültige erlebt. Es gibt noch eine 'andere Welt', die realer und urtümlicher ist. Des Ichs Tiefe gehört ihr an" (11). Diese ganz besondere Art von gnostischer Weltferne – wie wir es einmal bezeichnen wollen – ließ den russischen Denker nie darum bemüht sein, Reflexionen darüber anzustellen, welchen Lebensweg er gehen sollte, da er sich schon in jungen Jahren zum Philosophen berufen wusste: "Unter philosophischer Berufung habe ich durchaus nicht verstanden, mich auf irgendeine Wissensdisziplin zu spezialisieren, eine Dissertation zu schreiben, Professor zu werden. Ich habe überhaupt nie in der Perspektive eine Lebenskarriere vor mir erblickt, und ich fühlte mich von jeglichem Akademischen abgestoßen […]. Als ich mich zum Philosophen berufen fühlte, erkannte ich mich als Menschen, der sich dem Suchen nach Wahrheit und der Erschließung des Sinnes des Lebens widmen würde" (12).

In dieser seiner Sicht des "doppelten Ursprungs" des Menschen ist der Mensch "tiefer und ursprünglicher als seine biologische, psychologische und soziologische Seite. Der Mensch, der Allmensch, der Träger der absoluten Menschlichkeit, der nach seiner Ohnmacht in der natürlichen Welt, nach seinem Herabsinken in die natürliche Notwendigkeit zum Bewusstsein kam, ist sich seiner unendlichen Natur bewusst, welche durch keine zeitlichen Verwirklichungen befriedigt und gesättigt werden kann. Im Leben des Menschen ist alles vergänglich, alles leugnet die Ewigkeit. Die Doppelheit der menschlichen Natur ist so erstaunlich, dass sowohl die Naturalisten und Positivisten von dem Menschen mit Überzeugungskraft lehren wie auch mit nicht geringerer Überzeugungskraft die Supranaturalisten und Mystiker" (13). So bleibt der Mensch, der mit seinem geistigen Wesen nicht in der natürlichen Welt aufgeht, ein Riss in ihr, denn "die Gipfel und Tiefen der geistigen Welt des Menschen enthüllen und beweisen das Dasein einer geistigen Welt".

Über diesen "doppelten Ursprung" des Menschen hat sich Berdjajew sehr konzentriert in seiner Selbstdarstellung geäußert: "Das Grundproblem der Philosophie ist das Problem des Menschen. Das Sein offenbart sich im Menschen und durch den Menschen. Der Mensch ist ein Mikrokosmos und Mikrotheos. Er ist ein Abbild Gottes und gottähnlich. Zugleich aber ist der Mensch ein naturhaftes und endliches Wesen. Der Mensch ist zwiespältig und Schnittpunkt zweier Welten; er spiegelt wider eine höhere und eine niedere Welt. Als Abbild Gottes und gottähnliches Wesen ist der Mensch eine Persönlichkeit. Die Persönlichkeit muss vom Individuum unterschieden werden. Persönlichkeit ist eine geistig-religiöse Kategorie, während Individuum eine naturalistisch-biologische ist. Das Individuum ist ein Teil der Natur und der Gesellschaft, dagegen kann die Persönlichkeit nicht Teil eines anderen sein; sie ist stets ein Ganzes, korrelativ zur Gesellschaft, Natur und Gott. Der Mensch ist ein geistig-seelisch-körperhaftes Wesen. Als körperhaftes Wesen ist der Mensch gebunden an den gesamten Lebenskreislauf der Welt. Als geistiges Wesen ist er verbunden mit der geistigen Welt und mit Gott. Das geistige Prinzip im Menschen ist unabhängig von der Natur und der Gesellschaft und wird durch sie nicht dominiert. Dem Menschen ist die Freiheit wesenhaft eigen, wenn auch keine absolute. Das Freiheitsprinzip kann weder von oben noch von unten determiniert sein. Im Menschen ist ein Prinzip der ungeschaffenen, ursprünglichen Freiheit. Diese ist eine irrationale Freiheit, keine Freiheit in der Wahrheit, sondern Freiheit in der Anerkennung oder Ablehnung der Wahrheit. Jene Freiheit ist Freiheit von der Wahrheit und von Gott, eine begnadete Freiheit. Nur die Anerkennung einer ungeschaffenen Freiheit, die im Nichtsein gründet, kann den Ursprung des Bösen erklären. Die ungeschaffene Freiheit erklärt auch die Möglichkeit des Schöpfertums und des Neuen in der Welt" (14).

Wir finden in seinem Werk weitere Hinweise über seine Differenzierung der menschlichen Grundstrukturen. "Aber in ihrem inneren Existieren ist die Persönlichkeit kein Teil der Gattung, kein Teil der Natur, kein Teil der Gesellschaft. Die Persönlichkeit ist Geist und gehört der geistigen Welt an, in der es keine solche Korrelation von Teil und Ganzem, Individuellem und Allgemeinem gibt" (15). "Die Persönlichkeit ist die das Universum umfassende Einheit in der Vielheit […]. Die Persönlichkeit ist lebendiger Widerspruch – Widerspruch zwischen Persönlichem und Sozialem, zwischen Form und Inhalt, zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen Freiheit und Schicksal. Deshalb kann die Persönlichkeit nicht vollendet sein, sie ist nicht als Objekt gegeben, sie wird geschaffen, erzeugt sich selbst, sie ist dynamisch. Die Persönlichkeit ist in erster Linie eine antinomische Vereinigung von Endlichem und Unendlichem. Die Persönlichkeit würde sich verlieren, wenn in ihr die Grenzen und die sie zusammenhaltenden Formen verschwinden würden, wenn sie in der kosmischen Unendlichkeit zerfließen würde. Aber die Persönlichkeit wäre nicht Bild und Gleichnis Gottes, wenn sie nicht einen unendlichen Inhalt in sich aufnehmen würde. Nichts Partielles könnte diesen unendlichen Inhalt in sich aufnehmen, die Persönlichkeit kann es, weil sie nicht Teil ist. Darin beruht das ganze Geheimnis der Persönlichkeit. Die einzelne menschliche Persönlichkeit ist der Schnittpunkt vieler Welten, und sie kann vollständig in keinem einzigen Weltsystem untergebracht werden, sie kann jedem nur teilweise angehören. Die Persönlichkeit gehört nur teilweise dem sozialen, dem staatlichen, dem äußerlich konfessionellen System an, nur teilweise auch unserem kosmischen System. Das Existieren der Persönlichkeit vollzieht sich auf vielen Ebenen zugleich, und die von jedem Monismus geforderte Beschränkung auf eine einzelne Ebene ist Tyrannei und Vernichtung der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit als Ganzes gehört keinem einzelnen System und keiner einzelnen Ebene an, sondern sie setzt immer das andere voraus, zu dem sie aus sich selber heraustritt […]. Dilthey sagt sehr schön, dass die metaphysische Wissenschaft eine historisch begrenzte Tatsache, das metaphysische Bewusstsein der Persönlichkeit ewig sei" (16).

Ergänzen wir Berdjajews Beschreibung dessen, was er unter "Persönlichkeit" verstand, um weitere Aussagen: "Der Kampf für die Persönlichkeit ist ein Kampf für den Geist […]. Das Universale liegt im Individuellen, das Überpersönliche in der Person. Der Mensch ist ein Mikrokosmos und ein Mikrotheos, tief im Menschen vollzieht sich die Weltgeschichte, bildet und zersetzt sich die Gesellschaft […]. Der Mensch ist ein kosmisches und ein soziales Wesen. Persönlichkeit verwirklicht sich in kosmischen und sozialen Beziehungen. Aber die Projektion ins Äußere und die Selbstentfremdung, bei der Natur und Gesellschaft als von außen und zwingend auf den Menschen einwirkend vorgestellt werden, ist der Fall des Menschen. Es gibt nichts Universales außerhalb der menschlichen Persönlichkeit und über ihr, aber es gibt das Universale in ihr" (17).

Insofern sieht Berdjajew die Rationalisten ebenfalls ratlos vor dem Selbstbewusstsein Jesu Christi stehen. Dieses rätselhafte Selbstbewusstsein finden wir etwa in den johannneischen Worten ausgesprochen: "Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt" (Joh 8,23). Seine Herkunft bleibt denen, die ihn fragen: Woher kommst du? unbekannt. In ähnlicher Weise ist auch das Selbstbewusstsein des Menschen zu werten, das seine Kraft nicht aus den Fundamenten der natürlichen Welt bezieht. "Zwischen dem Selbstbewusstsein Christi und dem Selbstbewusstsein des Menschen besteht eine tiefgehende Analogie. Nur die Offenbarung Christi gibt den Schlüssel zur Enthüllung des Geheimnisses vom menschlichen Selbstbewusstsein" (18).

Sprechen wir vom Selbstbewusstsein Christi, soweit dies überhaupt möglich ist, von seiner inneren Beheimatung und Verankerung in einer jenseitigen Welt, die dennoch diese Welt ist, in der er den wirkenden Gott sieht und die Gott geliebt hat (Joh 1,14), von der aber die Menschen seiner Zeit in ihrer Blindheit (vgl. Joh 9) nichts wissen, so wird dies insbesondere durch die johanneischen "Ich-bin-Worte" unterstrichen, die in ihrer Rätselhaftigkeit einen umfassenden Raum einer Welt sichtbar werden lassen, der angemessen und zutreffend nur noch mit kosmischen bzw. diesseitig-jenseitigen Attributen und Dimensionen beschrieben werden kann (19). Von hier aus erschließt sich annähernd, wenn Berdjajew sagt, dass zwischen dem Selbstbewusstsein Christi und dem Selbstbewusstsein des Menschen eine tiefgehende Analogie besteht und er später sogar von der Christologie des Menschen sprechen kann. Dem Erkenntnis- und Wandlungsprozess scheinen folgende Aussagen nahe zu kommen: "Die Selbstwerdung Christi hat immer auch etwas mit der Selbstwerdung des einzelnen Menschen zu tun. In der Sohnschaft Christi ist diese Selbstwerdung ausgedrückt. Dank der Herabneigung Christi [Kenosis] vermag der Mensch an dieser Sohnschaft bzw. an dieser Selbst-Werdung teilzunehmen" (20).

 

Fortsetzung