Askoldov und Vyšeslavcev*

Lev A.Zander

[S. 219] Die nachstehenden Aufsätze sind von Prof. Dr. L.Zander für die in Athen erscheinende orthodoxe "Enzyklopädie für Religion und Ethik" verfasst worden. Da die hier behandelten russischen Denker dem deutschen Leser kaum bekannt sind, glaubten wir, diese Studien im deutschen, vom Verfasser durchgesehenen und gelegentlich erweiterten Text veröffentlichen zu sollen. Wir haben insbesondere der Schriftleitung der "Enzyklopädie für Religion und Ethik" für die Genehmigung zur Wiedergabe der Beiträge von Prof. Zander im "Kyrios" in deutscher Übersetzung zu danken. Red.

I. Askoldov: Sergej Alekseevič Alekseev (1870-1945)

Natürlicher Sohn des Philosophen Aleksej Kozlov, von dessen Namen sich sein Name herleitet. Askoldov war ein Denker von großer Tiefe für das geistige und geistliche Leben. Durch seine Schriften und durch seinen reichen persönlichen Einfluss hat er viel zu der Erarbeitung einer christlichen und orthodoxen Weltanschauung beigetragen. Versehen mit dem Diplom Fakultät der Naturwissenschaften an der Universität von St. Petersburg, trat er als Experte für chemische Fragen in den Dienst der Zollverwaltung in der Hoffnung, dass diese Beschäftigung ihm genügend Muße für seine philosophischen Forschungen lassen werde. Aber dieser Plan hat sich nur zum Teil verwirklichen lassen, denn seine amtliche Tätigkeit nahm ihm zuviel Zeit. Trotzdem konnte er zwischen 1900 und 1919 fünf Werke von großer Bedeutung veröffentlichen, so im Jahre 1900 die "Grundlegenden Probleme der Erkenntnis und der Ontologie", denen im Jahre 1912 eine Biographie und eine Analyse der Philosophie seines Vaters Aleksej Kozlov folgten. Im Jahre 1914 erschien sein Hauptwerk "Das Denken und die Wirklichkeit", das er als Dissertation zum Erwerb des Magistergrades der Universität von Moskau vorgelegt hatte. Im Jahre 1918 konnte "Das Gewissen und das Ganze" erscheinen, im Jahre 1919 eine kurze "Gnoseologie".

Nachdem er in glänzender Weise seine Habilitationsschrift verteidigt hatte, bereitete er sich darauf vor, den Dienst bei der Zollbehörde zu verlassen, um sich ausschließlich der akademischen Arbeit zu widmen. Aber der Erste Weltkrieg und die dann folgende Russische Revolution haben alle seine Pläne zunichte gemacht. In der großen Verwirrung während der Revolutionsjahre wurde er zu einer ganz anderen Tätigkeit getrieben, die man als eine prophetische bezeichnen kann; als tiefgläubige, gebildete und eindrucksvolle, ebenso aber auch aktive Persönlichkeit übte er in den Kreisen der Intellektuellen einen starken Einfluss aus. Im Jahre 1921 grün- [S. 220] dete er eine religiöse und philosophische Sozietät, die wegen des kommunistischen Regimes im Verborgenen existierte. Im Jahre 1926 nahm sie den Namen "Bruderschaft von St. Seraphim" an. Im Jahre 1928 wurden alle Mitglieder der Bruderschaft verhaftet und ihr geistlicher Leiter nach dem Norden Russlands in das Land an der Kama verbannt. Im Jahre 1929 konnte er zurückkehren, jedoch nicht in die Hauptstadt. Er lebte bis 1944, als diese Stadt durch die deutschen Truppen besetzt wurde, in Novgorod. Er verließ die UdSSR bei dem Abzug der Deutschen, aber infolge seiner erschütterten Gesundheit starb er im Jahre 1945 in Potsdam.

Außer den genannten fünf Büchern veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln von großem Wert, deren Titel eine gewisse Kenntnis seiner philosophischen Interessen vermitteln mögen. Der größere Teil dieser Artikel ist in der Moskauer Zeitschrift "Probleme der Philosophie und der Psychologie" veröffentlicht worden. Die Titel der wichtigsten Artikel lauten: "Das Denken als ein durch die Wirklichkeit begrenzter Prozess" (Nr. 66); "Die Verteidigung des Wunderbaren" (Nr. 70-71); "Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten" (Nr. 93); "Die Zeit und ihr religiöser Sinn" (Nr. 117); "Die innere Krise des Transzendentalen Idealismus" (Nr. 125); "Die Analogie als grundsätzliche Methode der Erkenntnis" (in: Der Gedanke, Nr. 1); "Die Zeit und ihre Vergänglichkeit" (ebd. Nr. 3); "Die Idee der Gerechtigkeit im Christentum" (Festschrift für L.Lopatin); "Der Geist und die Materie" (Neue Marksteine, Prag); "Der religiöse und moralische Wert von Dostojevskij" (Sammelband, hrsg. von Dolinin, 1922).

Im philosophischen Werk von Askoldov muss man zwei Hauptthemen unterscheiden: die positive Erforschung einer Ontologie, die ihn die Idee eines monadologischen Panpsychismus entwickeln ließ, und die Kritik des Neukantianismus, der in Russland einen mächtigen Einfluss ausübte und von unserem Denker als die Gefahr eines atheistischen Positivismus angesehen wurde, der sich mit dem Mantel einer reinen Wissenschaftlichkeit umgeben hatte.

Die Eingebungen in bezug auf die Ontologie verdankt Askoldov seinem Vater, der, in seinem Verlangen nach Erfassung der Wirklichkeit des Absoluten, eine große Ehrlichkeit des Denkens, eine bewundernswerte, seine Forschungen begleitende Beharrlichkeit, die von einer ernsthaften philosophischen Bildung unterstützt wurde, und eine sorgsame Analyse des Denkens anderer Philosophen an den Tag legte. Man darf ihn, der seinerseits von den Philosophen Teichmüller und Lotze beeinflusst war, vielleicht als einen der tiefsten Nachfolger von Leibniz charakterisieren. Sein Sohn hat zu diesen, von seinem Vater ererbten Gaben ein tiefreligiöses Denken und eine mystische Erfahrung hinzugefügt, die seine Forschungen auf die Realitäten lenkten, die von seinem Vater nur eben berührt worden waren.

Im Denken von Askoldov kommt nur der geistlichen Welt absolute Realität zu, für die die uns umgebende Welt des Universums nicht mehr als ein besonderer Ausdruck ist, die Form einer Offenbarung von wirkenden Kräften. So kann das Physische nur vom Geistlichen her verstanden werden, das untere hängt seinem Wesen nach von dem oberen, das niedere von dem höheren Sein ab. Das fordert einen Pluralismus des Seins, eine Menge von Monaden oder von wirkenden Substanzen, die im Gegensatz zu den Monaden von Leibniz, welche ja "keine Fenster" haben, untereinander in ständiger Wechselwirkung sind und in ihrer Gesamtheit Ein Sein oder Eine Seele bilden, deren Existenz zwar nicht bewiesen werden kann, aber ebenso wie ein Postulat der Vernunft angenommen werden muss.

Askoldov ist sich des hypothetischen Charakters seiner Ontologie bewusst, die nur eine Approximation darstellt, eine besondere Art der Umsetzung seiner geistlichen Erfahrung und seiner intuitiven Schau vom Sein in eine intellektuelle Ausdrucksweise. Leider hat Askoldov diese Idee eines ontologischen Panpsychismus, in dem alles lebendig, wirkend und spirituell ist, nicht näher entwickeln und in den Formen eines zusammenhängenden Systems zum Ausdruck bringen können. So muss man seine Gedanken wie das Glied einer Kette in der Geschichte einer Philosophie ansehen, in der der Primat des Spirituellen nicht so sehr eine Art Glaubensbekenntnis an Gott den Schöpfer darstellt, sondern die Seine Hand oder vielmehr Seinen Eindruck in allem, was von Ihm kommt, wahrnimmt. Bei dieser Betrachtung verdient der Name von Askoldov neben diejenigen von N.Lossky, S.Frank, P.Florenskij und S.Bulgakov gestellt zu werden.

Das zweite Thema des philosophischen Denkens von Askoldov war das der Erkenntnistheorie, und zwar in erster Linie das der Kritik des Neukantianismus. Man sagt nicht zuviel, wenn man erklärt, dass der Kampf gegen den Philosophen von Königsberg und seine Schüler ein beherrschendes Thema für das russische Denken im ausgehenden 19. Jahrhundert abgegeben hat. Fast alle dieser Epoche angehörenden russischen Denker fühlten sich verpflichtet, an ihrem Teile dem deutschen erkenntnistheoretischen Kritizismus entgegenzutreten und sich ohne Reserve zu verausgaben, um dieses System zu bekämpfen, welches beanspruchte, das einzige zu sein, das auf die absolute, unleugbare Wahrheit führen werde. Aber während die Mehrzahl der Philosophen das eine oder andere Element des Kantianismus zum Objekt ihres Kampfes wählten, haben nur S.Askoldov und der Fürst Trubeckoj eine Kritik dieses Systems in einer geschlossenen Darstellung unternommen. Die Aufgabe wurde zwischen ihnen so geteilt, dass Trubeckoj überhaupt die Kritik der reinen Vernunft untersuchte und in kurzen Aperçus die Theorie der modernen Neukantianer gleichsam im Vorübergehen kritisierte (in seinem Buche: "Die metaphysischen Voraussetzungen der Erkenntnis. Versuch einer Widerlegung von Kant und dem Kantianismus", Moskau 1917), während Askoldov, ganz im Gegenteil, nur kurz auf die Ursprünge der Bewegung eingehend, seine Darlegungen mit einer genauen Untersuchung der Schule von Schuppé begann, um dann zu einer sehr ins einzelne gehenden Kritik der badischen Schule (Rickert-Lask) und der Marburger Schule (Cohen-Cassirer) überzugehen. Dieser Kritik, die Askoldov übrigens in seinem Artikel "Die innere Krise des transzendentalen Idealismus" zusammengefasst hat, folgte die positive Entwicklung einer Erkenntnislehre, die ihren Vorrang im Gesamt der philosophischen Disziplinen opfert und sich darum bemüht, das, was vor aller Erkenntnis ist und gewesen ist, zu erfassen. In diesem Objektivismus und Vitalismus stößt man auf die Motive des Denkens von Bergson, die der spirituellen Welt von Askoldov ja sehr nahestehen.

Indem wir diese wenigen Bemerkungen über das Werk eines Denkers abschließen, den kennen zulernen, zu bewundern und zu lieben wir das [S. 222] Glück hatten, können wir sagen, dass er nicht nur ein Philosoph war, sondern ein Weiser, dessen geistliche Erleuchtung seine Gedanken durchstrahlte und seine Umgebung mit dem Lichte eines Starec verklärte, der in der beständigen Anbetung Gottes lebte.

II. Boris Petrovič Vyšeslavcev (1877-1954)

Gebürtig aus Moskau, ist einer der glänzendsten Repräsentanten der russischen Philosophie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lizentiat der Rechtswissenschaft der Universität von Moskau, opferte er die sich ihm eröffnende Laufbahn als Advokat der akademischen Arbeit und wurde Schüler von Professor P.Novgorodcev, – Haupt und Inspirator einer großartigen Menge von Philosophen und Juristen, die mit ihren Werken eine ganze Periode des russischen intellektuellen Lebens bezeichnen. Auf mehreren Studienreisen vervollständigte er seine philosophische Bildung, indem er an deutschen Universitäten (in Berlin, Marburg und Heidelberg) sowie an französischen (Paris) und italienischen (Rom) arbeitete. Im Jahre 1910 kehrte er nach Moskau zurück und verteidigte in glänzender Weise seine Habilitationsschrift über die Ethik von Fichte. Er wurde Professor an der Universität und an mehreren höheren Schulen von Moskau.

Aus Russland durch die sowjetischen Machthaber im Jahre 1921 vertrieben, weilte er zunächst in Berlin, wo er an den Arbeiten der von N.Berdjaev begründeten Akademie der religiösen Philosophie teilnahm und an den Ausgaben der YMCA-Press (Christlicher Verein junger Männer) und als Schriftleiter an der Zeitschrift "Put'" (Der Weg) mitarbeitete. Im Jahre 1925 kam er nach Paris, um an dem Institut St. Sergius zu lehren. Hier setzte er seine Arbeit an den Ausgaben der YMCA-Press fort, der wir die Veröffentlichung einer ganzen Bibliothek von Werken der im Exil lebenden russischen Philosophen zu verdanken haben. Ebenso nahm er an der russischen christlichen Studentenvereinigung teil, zu deren Vizepräsidenten er gewählt worden war. Auch an den Arbeiten der ökumenischen Bewegung beteiligte er sich. Er nahm an zahlreichen Konferenzen für einen christlichen Sozialismus teil, so auch an der "Zweiten Weltkonferenz für praktisches Christentum" vom Juli 1937 in Oxford. Ihm hat die ökumenische Bewegung das bemerkenswerte Buch: "Kirche, Staat und Mensch. Russische orthodoxe Studien", Genf 1937, zu verdanken, dessen Inspirator, Redakteur und hauptsächlicher Mitarbeiter er gewesen ist.

Von 1945 an lebte er in Genf in der Schweiz unter sehr ärmlichen Umständen, was ihn aber nicht hinderte, seine philosophischen Untersuchungen fortzusetzen und seine beiden letzten Bücher über "Die Krise der Kultur im industriellen Zeitalter" und über "Die philosophische Armut des Marxismus" zu veröffentlichen. Er starb im Jahre 1954 an den Folgen einer langen und schmerzhaften Krankheit. Bis zum Schluss bewahrte er eine bewundernswerte Klarheit des Geistes, seine letzten Worte waren: "Ich kehre zu der Quelle des Seins zurück. Ich habe alles verstanden. Wie ist das einfach". Vyšeslavcev war ein Mann von einer tiefen und reichen Kultur. Seine erste philosophische Liebe war der Transzendentalismus, dem er sich näherte [S. 223] und den er durchschritt, um zu einem religiösen Ontologismus zu kommen. Bei dieser Arbeit schöpfte er seine Inspirationen aus der Tradition der Antike – er war ein großer Kenner und Bewunderer von Platon –, den Überlieferungen der großen christlichen und indischen Mystiker, aber auch in den Gegebenheiten einer Tiefenpsychologie, die er ihres positivistischen Charakters entkleidete, indem er seine metaphysischen und geistlichen Ideen auf sie übertrug. Wenn man von Bildung und der Feinheit seiner Untersuchungen spricht, so muss man auch die unvergleichliche Eleganz hochschätzen, die alle seine Werke kennzeichnet, eine Eleganz des Gedankens und des Ausdrucks. In allem, was er sagte, und in allem, was er schrieb, blieb er immer ein "arbiter elegantiarum", und der wohl charakteristischste Zug seiner Persönlichkeit war der, dass in ihm der Professor, der Forscher, der Denker Raum für den Künstler freigehalten haben; seine Weisheit schien immer mit den Formen der Schönheit umkleidet zu sein. Diese künstlerische Intuition ermöglichte es ihm auch, im modernen Leben die alten geistlichen Quellen zu erkennen. So erzählte er mir einmal nach der Rückkehr einer Reise nach Griechenland, dass die Reaktionen seines Auditoriums auf seine Darlegungen noch heute die Züge der antiken Dialektik erkennen ließen. Nach der Rückkehr von Italien, von dessen Schönheit der Natur und der Kultur er überwältigt war, konnte er immer wieder sagen, dass derjenige, der nicht Italien gesehen hat, nicht beanspruchen darf, als ein kultivierter Mensch angesehen zu werden, selbst wenn er ein dreifaches Doktorat hat.

Er war ein Mensch von großer Einfachheit und von einem alles bezwingenden Charme, ein Lehrer, den die Jugend liebte und in dem sie mehr einen Freund und einen Anreger als einen Lehrmeister verehrte. Immer zu einem philosophischen Gespräch und zu einer freundschaftlichen Auseinandersetzung bereit, war er das seltene Beispiel eines Menschen, der die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vereinigen wusste und weltliche Weisheit in modernen und lebendigen Formen leuchten lassen konnte. Ein glänzender Schriftsteller war er, der uns mehrere Bücher und etwa dreißig Artikel gegeben hat, die folgende Themen berühren: Das höchste Wesen und das Leben; Der Mensch und das Bild Gottes; Der Sündenfall; Der Stand der Sünde und der Einsamkeit; Die Tiefenpsychologie; Die Neurose; Die Suggestion, Die Askese; aber auch soziale Themen hat er berührt, so z.B. Das Wesen der Macht; Der Staat; Der Kommunismus. Eine Liste aller seiner Artikel findet sich in dem Werk "List of Writings of professors of the Russian Orthodox Theological Institute in Paris", 1925 bis 1954, von L.A.Zander. Die Titel seiner russischen Bücher lauten: "Die Ethik von Fichte", Moskau 1914 (ein sehr seltenes Buch); "Das Herz in der christlichen und indischen Mystik", Paris 1929; "Die Ethik des verklärten Eros", Paris 1929 (ein Buch, das das Problem des Gesetzes und der Gnade behandelt); "Die Krise der Kultur im industriellen Zeitalter, Marxismus, Neusozialismus, Neuliberalismus", New York 1953; "Die philosophische Armut des Marxismus", Frankfurt a.M. 1952 (dieses Werk erschien unter dem Pseudonym B.Petrov), "Die Idee des Ewigen in der russischen Philosophie", New York 1955 – eine Sammlung seiner Artikel und eine posthume Ausgabe.

[S. 224] Die philosophischen Gedanken von Vyšeslavcev haben nicht die Gestalt eines Systems angenommen. Trotzdem bilden sie ein zusammenhängendes Ganzes, eine Konzeption der Welt, in der jedes sich in einem Gleichgewicht, in der Einheit des Ganzen erhält. Die beherrschende Idee seines Denkens ist die Intuition einer zwischen dem Relativen und dem Absoluten bestehenden Beziehung. Alles, was relativ ist, kann nur betrachtet, verstanden und begriffen werden als ein solches, das in Beziehung zum Absoluten steht, welches eine Voraussetzung und eine Bedingung allen Seins ist. Das Absolute muss also als eine Grundlage jeder Möglichkeit gedacht und verstanden werden; jede Existenz und jedes Wirken beruht auf dem Absoluten und in einer Beziehung zu ihm. Diese Korrelation der beiden Welten oder der beiden Arten von Existenz ist von Vyšeslavcev zu vielen Malen und unter verschiedenen Formen entwickelt und dargestellt worden. Im Lichte dieser Intuition haben Denker wie Descartes oder Fichte eine neue Interpretation erhalten, vor allem eine neue Bedeutung für unser eigenes Denken erlangt. Das philosophische Thema, das sich unserer Erkenntnis in der scholastischen Gestalt des "ontologischen Argumentes" darstellt, vereinigt auch das Denken solcher Philosophen wie Max Scheler und Nicolai von Hartmann und wird ein mächtiger, weil ewiger Bestandteil des modernen Denkens. Schon durch seine Natur findet sich der Mensch zwischen diesen beiden Polen und kreist zwischen der gefallenen und zeitlichen Welt und dem "geheimnisvollen Unendlichen, das sich unserer Intuition offenbart". Aber die Wahl der Richtung besteht nicht in einem Werturteil, sie übersteigt den intellektuellen Akt, denn erst die unerforschliche Tiefe des menschlichen Seins begreift wohl die Gesamtheit aller dieser Möglichkeiten, ja sogar die geheimnisvolle Quelle ihres eigenen hieran beteiligten Lebens. Diese Quelle bezeichnet Vyšeslavcev durch den biblischen und mystischen Ausdruck "Herz". Er hat das Wesen und die Funktionen des "Herzens" in seinem oben erwähnten Buche und in mehreren seiner Artikel untersucht. Das "Herz" ist das Thema seiner Anthropologie, die nicht nur die großen klassischen Wahrheiten der Antike in bezug auf die menschliche Natur verwertet, sondern auch solche Forschungsgebiete wie die Parapsychologie, die Psychopathologie, die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologie usw. mit in die Betrachtung nimmt. Nach Vyšeslavcev leiden diese Schulen der modernen Naturwissenschaft an einem gewissen Partikularismus; es fehlt ihnen die Beziehung zu der mystischen, dogmatischen und philosophischen Vorstellungswelt. Vyšeslavcev verbindet sie untereinander und gelangt für Probleme, die bis zur Gegenwart schwere Rätsel bilden, zu wissenschaftlichen Lösungen, indem er die geistlichen und ewigen Wurzeln für die Dinge aufzeigen kann, die infolge der Isolierung gegenüber dem Ganzen auch bar jeglichen Sinnes zu sein schienen.

Der Mensch ist von zwei Funktionen beherrscht, die sich in seinem Herzen verwurzelt finden, und die sein Wesen und sein ganzes Leben beeinflussen. Es sind dies die "Sublimierung und die Profanierung", denn alles kann erhoben und zu idealer Gestalt gebracht werden, kann aber auch erniedrigt und als niederträchtig angesehen werden. Das Symbol für die erste Funktion ist der antike Eros, der alle menschlichen Formen annehmen und bis zur Liebe zu Gott und der Teilnahme an dem absoluten Leben geläutert werden kann. Aber alles kann auch ebensosehr profaniert [S. 225] und seines himmlischen Ursprungs bis zum höllischen Zustande beraubt werden.

Dieses Schema lässt sich sowohl auf das individuelle Leben (Moral und Asketik) wie auch auf das soziale Leben (Gesellschaft, Macht, Staat, Wirtschaft) anwenden. Alles lebt und bewegt sich zwischen diesen beiden Polen: "Es ist der Kampf zwischen Gott und dem Teufel, und das Schlachtfeld ist das menschliche Herz", wie die Worte von Dostoevskij lauten, des von Vyšeslavcev bevorzugten Schriftstellers, dem er eines seiner Bücher gewidmet hat.

Die philosophischen Forschungen haben Vyšeslavcev nicht von seinen Interessen abgebracht. Als Schüler von Novgorodcev, dem wir eine der besten Analysen des Marxismus in seinem Buche "Über das soziale Ideal", Moskau 1921, zu verdanken haben, setzte er dessen Werk in einer ganzen Reihe von Studien fort, so über das Problem der Macht, die Notwendigkeit des Staates, über den Sozialismus und den Kommunismus. Auch in seinen beiden letzten Büchern, von denen das eine die eindringende und tiefe Untersuchung der Krisis der modernen Gesellschaft enthält, und das andere eine mit der allzu einfachen Lösung dieser Krisis durch die kommunistische Utopie unversöhnliche Kritik bringt, behandelte er die soziologischen Themen.

Wir können hinzufügen, daß die elegante Sprache von Vyšeslavcev wie die klare Form seiner Gedanken seine Schriften für die Übersetzung in fremde Sprachen sehr geeignet erscheinen lassen.

Anmerkung

* Aus der Zeitschrift Kyrios 1964, 219-225, zusammengestellt von Klaus Bambauer.

Schriften von Boris P.Vyšeslavcev

-         Christianstvo i induizm, Moskau 1992.

-         Christianstvo i social’nyj vopros, Christianstvo, ateizm i sovremennost’ 5, Paris 1929.

-         Der religiöse Sinn der Macht, in: Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart, Genf 1935.

-         Die tragische Theodizee, in: Orient und Occident 1929.

-         Krizis industrial’noj kul’tury. Marksizm, neosocializm, neoliberalizm, New York 1953.

-         Marxismus, Kommunismus und totaler Staat, Kirche, Staat und Mensch, Russisch-orthodoxe Studien, hg. von der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1937, 103-151.

-         Problemy russkago religioznago soznanija, Religioznaja biblioteka, Berlin 1924.

-         Selbstbesinnung, in: Die kulturelle Bedeutung der komplexen Psychologie, Berlin 1935.

-         Sočinenija, Biblioteka duchovnogo vozroždenija, Moskau 1995.

-         The Eternal in Russian Philosophy, Übers. v. P.V.Burt, Grand Rapids 2002.

-         Večnoe v russkoj filosofii, New York 1955.

-         Vera, neverie i fanatizm, Christianstvo, ateizm i sovremennost’ 2, Paris 1928.

Schriften über Boris P.Vyšeslavcev

-        Blagova, T., u. B.V.Emeljanov, Filosofemy Dostoevskogo. Tri interpretacii, Ekaterinburg 2003.

-        Bolotokov, V.C., u. A.M.Kumykov, Fenomen nacij i social’no-psichologičeskie problemy v sociologii russkogo zarubežja, Moskau 1998.

-        Cecharin, E.M., O Rossii i russkoj filosovskoj kul’ture. Filosofy russkogo posleoktrjabr’skogo zarubežja, Moskau 1990.

-        Erina, E.B., B.P.Vyšeslavcev, Filosofy XX veka, Moskau 2006.

-        Evdokimov, P., Christus im russischen Denken, Übers. v. H.Blersch, Sophia 12, Trier 1977, 188-191.

-        Hrehová, H., Il personalismo etico in „Eros trasfigurato“ di B.P.Vyšeslavcev nel contesto della morale ortodossa russa, St. Georgen o.J.

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