Balladen

Etymologie

Griechisch βάλλειν – werfen, (sich) bewegen; lateinisch ballare – tanzen; okzitanisch/provenzalisch ballar – (Reigen) tanzen, balada – Tanzlied.

Vgl. Emil Levy, Petit dictionnaire Provençal-Français, Heidelberg, zweite Auflage 1923, 38; Edmund Stengel, Die beiden ältesten provenzalischen Grammatiken . Lo Donatz Proensals (Donatus Provincialis) und Las rasos de trobar, Marburg 1978, 156; Karl Bartsch, Chrestomathie Provençale, vollständig überarbeitet von Eduard Koschwitz, Marburg 1904, 476; Carl Appel, Provenzalische Chrestomathie. Abriß der Formenlehre und Glossar, Leipzig, sechste Auflage 1930, 216; Peter Cichon, Eine Einführung in die okzitanische Sprache, Bibliothek romanischer Sprachlehrwerke 4, Bonn, 2. Auflage 2002, 132.

In der deutschen Literatur wird seit dem 18. Jahrhundert ein mehrstrophiges, erzählendes Gedicht als „Ballade“ bezeichnet.

 

Gottfried August Bürger (1747-1794), Lenore

Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen?“ –

Er war mit König Friedrichs Macht [Friedrich II., der Große; 1712-1786]
Gezogen in die Prager Schlacht [1757; Siebenjähriger Krieg]
Und hatte nicht geschrieben,
Ob er gesund geblieben.

Der König und die Kaiserin [Maria Theresia; 1717-1780],
Des langen Haders müde,
Erweichten ihren harten Sinn
Und machten endlich Friede [Frieden von Hubertusburg 1763; Schlesien fiel an Preußen];
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang,
Geschmückt mit grünen Reisern,
Zog heim zu seinen Häusern.

Und überall, allüberall,
Auf Wegen und auf Stegen,
Zog alt und jung dem Jubelschall
Der Kommenden entgegen.
„Gottlob!“ rief Kind und Gattin laut,
„Willkommen!“ manche frohe Braut.
Ach! aber für Lenoren
War Gruß und Kuß verloren.

Sie frug den Zug wohl auf und ab
Und frug nach allen Namen;
Doch keiner war, der Kundschaft gab,
Von allen, so da kamen.
Als nun das Heer vorüber war,
zerraufte sie ihr Rabenhaar
Und warf sich hin zur Erde
Mit wütiger Gebärde.

Die Mutter lief wohl hin zu ihr:
„Ach, daß sich Gott erbarme!
Du trautes Kind, was ist mit dir?“
Und schloß sie in die Arme. –
„O Mutter, Mutter! hin ist hin!
Nun fahre Welt und alles hin!
Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh mir Armen!“ –

„Hilf, Gott, hilf! Sieh uns gnädig an!
Kind, bet ein Vaterunser!
Was Gott tut, das ist wohlgetan;
Gott, Gott erbarmt sich unser!“ –
„O Mutter, Mutter! eitler Wahn
Gott hat an mir nicht wohlgetan!
Was half, was half mein Beten?
Nun istʼs nicht mehr vonnöten.“ –

„Hilf, Gott, hilf! Wer den Vater kennt,
Der weiß, er hilft den Kindern.
Das hochgelobte Sakrament
Wird deinen Jammer lindern.“ –
„O Mutter, Mutter, was mich brennt,
Das lindert mir kein Sakrament!
Kein Sakrament mag Leben
Den Toten wiedergeben.“ –

„Hör, Kind! Wie, wenn der falsche Mann
Im fernen Ungarlande
Sich seines Glaubens abgetan
Zum neuen Ehebande?
Laß fahren, Kind, sein Herz dahin!
Er hat es nimmermehr Gewinn!
Wenn Seel und Leib sich trennen,
Wird ihn sein Meineid brennen.“ –

„O Mutter! Mutter! hin ist hin!
Verloren ist verloren!
Der Tod, der Tod ist mein Gewinn!
O wär ich nie geboren [ vgl. Hiob 3,3]!
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus [vgl. Hiob 3,4]!
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Bei Gott ist kein Erbarmen;
O weh, o weh mir Armen!“

„Hilf, Gott, hilf! Geh nicht ins Gericht
Mit deinem armen Kinde!
Sie weiß nicht, was die Zunge spricht [vgl. LK 23,34];
Behalt ihr nicht die Sünde!
Ach, Kind, vergiß dein irdisch Leid
Und denk an Gott und Seligkeit,
So wird doch deiner Seelen
Der Bräutigam nicht fehlen!“ –

„O Mutter! was ist Seligkeit?
O Mutter! was ist Hölle?
Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit
Und ohne Wilhelm Hölle! –
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Ohn ihn mag ich auf Erden,
Mag dort nicht selig werden.“ –

 

So wütete Verzweifelung
Ihr in Gehirn und Adern.
Sie fuhr mit Gottes Vorsehung
Vermessen fort zu hadern,
Zerschlug den Busen und zerrang
Die Hand bis Sonnenuntergang,
Bis auf am Himmelsbogen
Die goldnen Sterne zogen.

 

Und außen, horch! gingʼs trapp trapp trapp,
Als wie von Rosseshufen,
Und klirrend stieg ein Reiter ab
An des Geländers Stufen.
Und horch! und horch den Pfortenring,
Ganz leise, leise, klinglingling!
Dann kamen durch die Pforte
Vernehmlich diese Worte:

„Holla, holla! Tu auf, mein Kind!
Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
Wie bist noch gegen mich gesinnt?
Und weinest oder lachst du?“ –
„Ach, Wilhelm, du? … So spät bei Nacht? …
Geweinet hab ich und gewacht;
Ach, großes Leid erlitten!
Wo kommst du hergeritten?“ –

„Wir satteln nur um Mitternacht.
Weit ritt ich her von Böhmen.
Ich habe spät mich aufgemacht
Und will dich mit mir nehmen.“ –
„Ach, Wilhelm, erst herein geschwind!
Den Hagedorn durchsaust der Wind,
Herein, in meinen Armen,
Herzliebster, zu erwarmen!“

Laß sausen durch den Hagedorn,
Laß sausen, Kind, laß sausen!
Der Rappe scharrt; es klirrt der Sporn.
Ich darf allhier nicht hausen.
Komm, schürze, spring und schwinge dich
Auf meinen Rappen hinter mich!
Muß heut noch hundert Meilen
Mit dir ins Brautbett eilen.“ –

„Ach, wolltest hundert Meilen noch
Mich heut ins Brautbett tragen?
Und horch, es brummt die Glocke noch,
Die elf schon angeschlagen.“ –
„Sieh hin, sieh her, der Mond scheint hell.
Wir und die Toten reiten schnell.
Ich bringe dich, zur Wette,
Noch heut ins Hochzeitbette.“ –

„Sag an, wo ist dein Kämmerlein?
Wo? wie dein Hochzeitbettchen?“ –
„Weit, weit von hier! … Still, kühl und klein! …
Sechs Bretter und zwei Brettchen!“ –
Hatʼs Raum für mich?“ – „Für dich und mich!
Komm, schürze, spring und schwinge dich!
Die Hochzeitgäste hoffen!
Die Kammer steht uns offen.“ –

 

Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang
Sich auf das Roß behende;
Wohl um den trauten Reiter schlang
Sie ihre Lilienhände;
Und hurre hurre; hopp hopp hopp!
Gingʼs fort in sausendem Galopp,
Daß Roß und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.

Zur rechten und zur linken Hand,
Vorbei vor ihren Blicken,
Wie flogen Anger, Heid und Land!
Wie donnerten die Brücken! –
„Graut Liebchen auch? … Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten?“ –
„Ach nein! … Doch laß die Toten!“ –

Was klang dort für Gesang und Klang?
Was flatterten die Raben? …
Horch, Glockenklang! Horch, Totensang:
Laßt uns den Leib begraben!“
Und näher zog ein Leichenzug,
Der Sarg und Totenbahre trug.
Das Lied war zu vergleichen
Dem Unkenruf in Teichen.

„Nach Mitternacht begrabt den Leib
Mit Klang und Sang und Klage!
Jetzt führ ich heim mein junges Weib.
Mit, mit zum Brautgelage!
Komm, Küster, hier! komm mit dem Chor
Und gurgle mir das Brautlied vor!
Komm, Pfaff, und sprich den Segen,
Eh wir zu Bett uns legen!“ –

Still, Klang und Sang … Die Bahre schwand …
Gehorsam seinem Rufen,
Kamʼs, hurre, hurre! nachgerannt
Hart hinterʼs Rappen Hufen.
Und immer weiter, hopp hopp hopp!
Gingʼs fort in sausendem Galopp,
Daß Roß und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.

Wie flogen rechts, wie flogen links
Gebirge, Bäum und Hecken!
Wie flogen links und rechts und links
Die Dörfer, Städt und Flecken! –
„Graut Liebchen auch? … Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten?“ –
„Ach! Laß sie ruhn, die Toten!“ –

Sieh da! sieh da! Am Hochgericht
Tanzt um des Rades Spindel,
Halb sichtbarlich bei Mondenlicht,
Ein luftiges Gesindel. –
„Sasa! Gesindel, hier! komm hier!
Gesindel komm und folge mir!
Tanz uns den Hochzeitreigen,
Wenn wir zu Bette steigen!“ –

Und das Gesindel, husch husch husch!
Kam hinten nachgeprasselt,
Wie Wirbelwind am Haselbusch
Durch dürre Blätter rasselt.
Und weiter, weiter, hopp hopp hopp!
Gingʼs fort in sausendem Galopp,
Daß Roß und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.

Wie flog, was rund der Mond beschien,
Wie flog es in die Ferne!
Wie flogen oben überhin
Der Himmel und die Sterne! –
„Graut Liebchen auch? … Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten?“ –
„O weh! Laß ruhn, die Toten!“ –

Rappʼ! Rappʼ! mich dünkt, der Hahn schon ruft …
Bald wird der Sand verrinnen …
Rappʼ! Rappʼ! ich wittre Morgenluft …
Rappʼ! tummle dich von hinnen!
Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!
Das Hochzeitbette tut sich auf!
Die Toten reiten schnelle!
Wir sind, wir sind zur Stelle.“ –

 

Rasch auf ein eisern Gittertor
Gingʼs mit verhängtem Zügel.
Mit schwanker Gert ein Schlag davor [Mit schwankender Gerte: dünner, biegsamer Stock]
Zersprengte Schloß und Riegel.
Die Flügel flogen klirrend auf,
Und über Gräber ging der Lauf.
Es blinkten Leichensteine
Rundum im Mondenscheine.

Ha sieh! Ha sieh! Im Augenblick,
Huhu! ein gräßlich Wunder!
Des Reiters Koller, Stück für Stück,
Fiel ab wie mürber Zunder.
Zum Schädel ohne Schopf und Zopf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf,
Sein Körper zum Gerippe
Mit Stundenglas und Hippe [Sense als Attribut des Todes].

Hoch bäumte sich, wild schnob der Rappʼ
Und sprühte Feuerfunken;
Und hui! warʼs unter ihr hinab
Verschwunden und versunken.
Geheul! Geheul aus hoher Luft,
Gewinsel kam aus tiefer Gruft.
Lenorens Herz mit Beben
Rang zwischen Tod und Leben.

 

Nun tanzten wohl bei Mondenglanz
Rundum herum im Kreise
Die Geister einen Kettentanz
Und heulten diese Weise:
„Geduld! Geduld! Wennʼs Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig,
Gott sei der Seele gnädig!“


Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 161-169.

Nicolaus Meyer (1775-1855), Lenore. Roman nach der Bürgerʼschen Ballade, Leipzig 1830.

Lore Kaim, Gottfried August Bürger. Zum Problem der Volkstümlichkeit in der Lyrik. Gottfried August Bürgers Leistungen und Bemühungen auf dem Gebiete der volkstümlich-realistischen Lyrik, Germanistische Studien, Berlin 1963.

Maren Conrad, Aufbrüche der Ordnung. Anfänge der Phantastik. Ein Modell zur methodischen Balladenanalyse, entwickelt am Beispiel der phantastischen Kunstballade, Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 323, Kiel 2014.

 

Friedrich von Schiller (1759-1805), Das verschleierte Bild zu Sais

Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst
Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester
Geheime Weisheit zu erlernen, hatte
Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt;
Stets riß ihn seine Forschbegierde weiter,
Und kaum besänftigte der Hierophant [Enthüller der heiligen Geheimnisse]
Den ungeduldig Strebenden. „Was hab ich,
Wenn ich nicht alles habe?“ sprach der Jüngling.
Gibtʼs etwa hier ein Weniger und Mehr?
Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück
Nur eine Summe, die man größer, kleiner
Besitzen kann und immer doch besitzt?
Ist sie nicht eine einzge, ungeteilte?
Nimm einen Ton aus einer Harmonie,
Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen –
Und alles, was dir bleibt ist nichts, solang
Das schöne All der Töne fehlt und Farben.“

Indem sie einst so sprachen, standen sie
In einer einsamen Rotonde still,
Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße
Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert
Blickt er den Führer an und spricht: „Was istʼs,
Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?“
„Die Wahrheit“, ist die Antwort. „Wie?“ ruft jener
„Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese
Gerade ist es, die man mir verhüllt?“

„Das mache mit der Gottheit aus“, versetzt
Der Hierophant. „Kein Sterblicher, sagt sie,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Und wer mit ungeweihter, schuldʼger Hand
Den heiligen, verbotnen früher hebt,
Der, spricht die Gottheit –„ „Nun?“ „Der sieht die Wahrheit.“

„Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,
Du hättest also niemals ihn gehoben?“
„Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu
Versucht.“ „Das faß ich nicht. Wenn von der Wahrheit
Nur diese dünne Scheidewand mich trennte – “
„Und ein Gesetz“, fällt ihm sein Führer ein.
„Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,
Ist dieser dünne Flor – für deine Hand
Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.“

Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause.
Ihm raubt des Wissens brennende Begier
Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager
Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel
Führt unfreiwillig ihn der scheue Tritt.
Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,
Und mitten in das Innre der Rotonde
Trägt ein beherzter Sprung den Wagenden.

Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt
Den Einsamen die lebenlose Stille,
Die nur der Tritte hohler Widerhall
In den geheimen Grüften unterbricht.
Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft
Der Mond den bleichen, silberblauen Schein,
Und furchtbar wie ein gegenwärtger Gott
Erglänzt durch der Gewölbe Finsternisse
In ihrem langen Schleier die Gestalt.

Er tritt hinan mit ungewissem Schritt –
Schon will die freche Hand das Heilige berühren,
Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein
Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.
Unglücklicher, was willst du tun? So ruft
In seinem Innern eine treue Stimme.
Versuchen den Allheiligen willst du?
Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:
Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
„Sei hinter ihm, was will! Ich heb ihn auf – “
Er ruftʼs mit lauter Stimm – „Ich will sie schauen.“ Schauen!
Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.

Er sprichtʼs und hat den Schleier aufgedeckt.
Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?
Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,
So fanden ihn am andern Tag die Priester
Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.

Was er allda gesehen und erfahren,
Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig
War seines Lebens Heiterkeit dahin,
Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.
„Weh dem“, dies war sein warnungsvolles Wort,
Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,
„Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld!
Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.“


Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 267-270.

Jan (Johann Christoph) Assmann, Das verschleierte Bild zu Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe, Lectio Teubneriana 8, Stuttgart 1999.

 

 

Heinrich Heine (1797-1856), Belsazar [Dan 5]

Die Mitternacht zog näher schon;
In stummer Ruh lag Babylon.

Nur oben in des Königs Schloß
Da flackertʼs, da lärmt des Königs Troß.

Da oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.

Die Knechte saßen in schimmernden Reihn
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.

Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrigen Könige recht.

Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwacht ihm kecker Mut.

Und blindlings reißt der Mut ihn fort;
Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.

Und er brüstet sich frech und lästert  wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.

Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.

Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt.

Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.

Und er leerte ihn hastig bis auf den Grund
Und rufet laut mit schäumendem Mund:

„Jehovah, dir künd ich auf ewig Hohn –
Ich bin der König von Babylon.“

 

Doch kaum das grause Wort verklang,
Dem König wardʼs heimlich im Busen bang.

Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.

Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kamʼs hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.

Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblaß.

Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,
Und saß gar still, gab keinen Laut.

Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

Belsazar ward aber in selbiger Nacht
von seinen Knechten umgebracht.

 

Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 444-446.

Heinrich Heine, Belsazar und Loreley. Nachdichtungen biblischer Texte sowie deutscher Märchen und Sagen, herausgegeben von Heinrich Heikamp, Bibliothek rheinischer Dichter 3, Berlin 2018.

Anna Kaiser, Eine Stundengestaltung zum Thema „Belsazar“ von Heinrich Heine, München 2016.

Ingo Müller, Das Flackern der Zeichen. Identität und Alterität in Heinrich Heines „Belsazar“-Romanze, in: Zeitschrift für Germanistik 30 (2020), Heft 2, 437-454.

 

 

Allen drei Balladen ist der Einbruch einer anderen Welt gemeinsam:

Tod, Krankheit, Verstörtheit, Grauen, Ausweglosigkeit, Verlust, Vermessenheit, Überschreiten der Grenzen, Unausweichlichkeit, Zusammenbruch der geordneten und sicheren Welt, Ende der Normalität.

Im Hintergrund stehen Angriffskrieg, Usurpation, Hegemonialstreben.

Diese Balladen warnen davor, mit Gott zu hadern, ein Geheimnis zu entschleiern, bevor es sich einem von selbst erschließt, in der Hybris sich selbst zu überschätzen.

Es gilt, das Unglück anzunehmen (und zu verwandeln), die Grenzen der Erkenntnis nicht zu überschreiten, der Überheblichkeit nicht zum Opfer zu fallen.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Düsseldorf 2023

Hauptseite