Vater Sergius Bulgakoff

Leo Zander

Er war ein brennendes und scheinendes Licht (Joh 5,35)

 

[S. 40] Als Vater Sergius von uns ging, hatte er auf Erden alles erfüllt, was ein "getreuer Diener" erfüllen kann, der von seinem Herrn zehn Talente bekommen und sie um den unermesslichen Schatz der Liebe, Dankbarkeit und Verehrung vermehrt hat, um die Gaben, mit denen wir ihn auf seinem Wege in die Ewigkeit begleiteten. Sein ganzes Leben war eine ununterbrochene angespannte Hingabe; er arbeitete, ohne die Hände in den Schoß zu legen, setzte seine Kräfte bis zur Erschöpfung ein und hielt keinen Augenblick an auf dem Wege zum Aufstieg. Wenn wir heute den von ihm geistig durchschrittenen Raum betrachten, erkennen wir, wie unendlich viel er geleistet hat; dass niemand von uns den unerschöpflichen Reichtum dieses erstaunlichen Lebens jemals bis zu Ende verstehen und überblicken können wird. Die leuchtendsten Blumen im Kranze seines Lebens sind die der persönlichen Liebe, die seine Beichtkinder, Freunde und Schüler zu ihm hegten. Vater Sergius war ein Mensch persönlicher individueller Beziehungen. Er richtete sich niemals an Menschen, sondern stets an den Menschen. Seine Freundschaft war feurig und eifersüchtig. Er widmete sich seinen Freunden und Beichtkindern voll und ganz; er lebte mit ihnen und durch sie und scheute sich nicht, sich dieser Liebe hinzugeben. Wir sind überzeugt, dass seine Treue noch heute in der Fürbitte für uns vor dem Throne der Herrlichkeit Gottes brennt, dass der Tod ihn uns nicht entrissen hat, dass er noch immer im Gebete für die, die er liebte und die ihn liebten, verharrt. Es wäre jedoch falsch, wollten wir über dem Persönlichen das Nationale und Allgemeine, hinter dem Lebensbild die Geschichte vergessen. In seiner geistigen Entwicklung hat Vater Sergius einen ungeheuren Weg zurückgelegt: von der Gottlosigkeit zum Priestertum, vom Marxismus über den Idealismus zur Orthodoxie, von sozialen Utopien über den Dienst an der Allgemeinheit zum Hirtenamt. Diesen Weg ging nicht er allein. Wieviel Menschen gingen mit ihm! Er, der Idealist-Marxist, den die materielle Philosophie enttäuschte, der sie in wissenschaftlicher Kritik überwindet, der sein Herz Gott zuwendet, seine Religion mit dem Verstande belegt, stets zu höheren Erkenntnissen drängend – erscheint er hier nicht als ein Symbol Russlands, ja vielleicht der ganzen Welt, die vom Materialismus zu Gott geht? Dieser Weg ist aus seinen Werken ersichtlich. Er war ein verantwortungsvoller Denker, der alles mit seinem Verstande prüfte und mit wissenschaftlichem Fundamente versah. Jeder Abschnitt seiner Entwicklung ist in seinen [S. 41] ökonomischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Schriften festgelegt. Beim Studium dieser Schriften können wir den Weg erkennen, verfolgen und genau untersuchen. Hinter dem Lebensbild und der Geschichte steht jedoch auch – die Ewigkeit. Nicht die Ewigkeit, die wir der Zeitlichkeit entgegenstellen (wie das Himmelreich der Erde), hingegen die Ewigkeit in der Zeit, die immer und immer wieder neue historische Formen annimmt, doch in ihrem Wesen stets die gleiche bleibt. Es ist der Bereich ewiger Ideen, philosophischer Systeme, der Grundstimmung menschlichen Geistes. In der Lehre von Vater Sergius ist es das, von dem er selbst sagte, dass es "aus Marmor gehauen sei" (im Gegensatz zu dem, was aus "Papiermaché gemacht ist"): der Geist seiner Philosophie und die Weisheit seiner Theologie, die man noch jahrzehnte-, jahrhundertelang erlernen und lehren wird. Dieser Reichtum alles Persönlichen, Kulturhistorischen und Mystischen leuchtete unveränderlich durch alle Aspekte seines Lebens: in seinem Suchen, seiner Gelehrsamkeit, seinen Predigten, seinem Priester- und Prophetentum und in seinem Hirtenamt.

[I. Aspekte seines Lebens]

Der Philosoph

Vater Sergius ist immer und überall Philosoph, Wahrheitssucher. Er war Philosoph, da er sich zum Marxismus zu bekennen glaubte. Als er sich aber in diese Lehre vertiefte und ihre Doktrin verteidigte, schnitt er ihr die Wurzeln ab. Er war Philosoph in seinem Kampfe mit Kant. Als er den transzendentalen Idealismus überwand, erkannte er in ihm eine verzerrte und einseitige, religiöse Wirklichkeit. (Jede Philosophie ist notwendigerweise Häresie oder Wahrheit in bezug auf die Heilige Dreieinigkeit. Dies ist der Grundgedanke seines Werkes "Tragödie der Philosophie"). Er blieb Philosoph, nachdem er zur christlichen Wahrheit gekommen war; denn diese Wahrheit ist für ihn nicht träger Reichtum, sondern ein lebendiges Saatkorn von so großer Kraft, dass der menschliche Gedanke seinem starken Wachstum oft nicht Schritt halten kann. Das Dogma hielt er niemals nur für eine Glaubensnorm oder -regel. Es war für ihn stets Antwort auf ein Problem, ein Postulat der Vernunft, eine Aufgabe für sein Denken. Hier liegen die tiefen Zusammenhänge zwischen seiner philosophischen und theologischen Lehre. Eine Philosophie, die nicht zur Dogmatik führt, ist falsch. Eine Dogmatik, die das Problem der Philosophie nicht löst – ist tot. So kann man die Grundüberzeugung Vater Sergius' formulieren. Sie verleiht seiner Philosophie den Ernst religiöser Erfahrung, seiner dogmatischen Forschung aber die Kraft alles durchdringender Wahrheit. Von hier aus erklärt sich sein Bestreben, eine orthodoxe Philosophie aufzubauen und zu Grundpfeilern dieser Orthodoxie [sowohl] die Ontologie als auch die Kosmologie, Anthropologie, Kulturphilosophie und die Erkenntnistheorie zu machen.

Der Gelehrte

Bezeichnend für Vater Sergius (und nicht nur für sein Denken, sondern auch für sein Leben) war das Gefühl der Verantwortlichkeit. Er behauptete nichts, was er nicht mit allen erreichbaren Mitteln des Wissens und der Wissenschaft geprüft hat. Da er über einen außerordentlichenn Verstand verfügte, drückte sich sein Gefühl der Verantwortlichkeit in einer ungeheuren, eine [S. 42] ganze Reihe von Fakultäten und Disziplinen umfassenden Gelehrsamkeit aus. Vater Sergius ist (in chronologischer Reihenfolge) Ökonom, der umfangreiche Arbeiten über den Kapitalismus, die Märkte, Landwirtschaft, über soziale und ökonomische Lehren geschrieben hat. Er ist ferner Soziologe und Historiker (Untersuchungen über das frühe Christentum, über die Apokalyptik, den Sozialismus). Er ist Philosoph, nicht nur als Wahrheitssucher, sondern auch als Forscher, Kommentator und Kritiker philosophischer Systeme; Apologet (sein Kampf mit dem Mythologismus, Historizismus und Jesuanismus); Kulturhistoriker, der auf fast alle Strömungen des Denkens und Leben einging und eine Menge von Aufsätzen über einzelne Dichter und Denker schrieb; und schließlich Theologe und Dogmatiker, der in seiner ganzen Arbeit auf die Exegese der Heiligen Schrift, die Erforschung liturgischer Texte, auf die Urkunden der Ikonenmalerei usw. basierte. Überall stoßen wir auf einen ungeheuren wissenschaftlichen Apparat, auf die Kenntnis der Literatur (verschiedener Sprachen), auf den ehrlichen Wunsch, sich mit aufrichtigem Ernst mit den Gegebenheiten des dem Christentum verwandten wie ihm auch abgewandten Denkens auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse der Wissenschaft ändern sich, Gelehrsamkeit gehört der Geschichte an; doch das Bestreben, sein Denken am Denken anderer zu prüfen, der Wunsch, nicht isoliert, sondern in Verbindung mit dem Weltdenken zu leben und zu arbeiten – ist bezeichnend für den umfassenden Verstand, der zum großen Ganzen der Wissenschaft gehört und von dem Vater Sergius sich nicht absondert.

Der Prediger

Alle diejenigen, die Vater Sergius als Studenten, Dozenten, Publizisten oder Professor kannten, bezeugen einstimmig, dass seine Sprache immer eine Predigt war. Er predigte niemals Moral. Über was er auch sprach, der Inhalt seiner Worte war stets ein leuchtender Mittelpunkt, in dem sich die höhere Wirklichkeit spiegelte. "Sursum corda, sursum corda, sursum corda. Excelsior!" Diese Worte, die in seinem Buch "Das Tageslicht" stehen, können als Epigraph über alles, was Vater Sergius schrieb und sprach, über alles, zu dem er aufrief, gesetzt werden. Seine Ökonomie drang bis zur Moral vor. Seine Moral rief zum Glauben auf. Auch in der Religion, die anscheinend Ziel und Grenze alles Suchens ist, blieb er ein Pilger ohne "bleibende Stätte. Die zukünftige suchte er." [Hebr 13,14]. Hierin äußert sich sein Eschatologismus, sein Drang zum Anderen, zum Jenseitigen. Ihn dürstet nach dem Himmelreich, nach der Fülle des Vollendeten, und keine auf dieser Erde verwirklichten Geistesreichtümer konnten diesen heiligen Durst und Hunger stillen.

Selig sind, die da hungern nach der Gerechtigkeit! [Vgl. Mt 5,6].
Wohl dem, den Du erwählst und zu Dir lässest, o Herr! [Ps 65,5].

Voll und ganz erklang Vater Sergius' Prophetenstimme in seinem Priesteramt. Und hier trat zum Ruf, zum Aufruf, zur Offenbarung noch die Tröstung hinzu. "Tröstet, tröstet, mein Volk!" [Jes 40,1]. Vater Sergius liebte diese Worte zu zitieren. Wunderbar an seinen Predigten war, dass jeder, der sie hörte, glaubte, sie seien ausgesprochen an ihn persönlich gerichtet, sie seien eine Antwort auf seine Fragen, sein Suchen, seine Zweifel, dass sie seine seelischen Wunden heilten. Ich behaupte dies auf Grund einer Umfrage bei vielen Hörern, auf die die Predigten Vater Sergius’ denselben Eindruck aus- [S. 43] übten, wie auf mich. In geheimnisvoller Weise hat sich in seinen Worten Persönliches mit dem Universalen verbunden; die Stimme der Kirche erklang in seinem Munde intim und nahe wie das Wort eines nahen Wesens, wie das ungehörte Wort des Schutzengels.

Der Priester

15 Jahre liegen zwischen Vater Sergius' Abkehr vom Glauben und seiner Priesterweihe. All diese Jahre wissenschaftlicher und verkündender Arbeit hindurch (Priester im Gehrock, nannten ihn seine Freunde), fühlte Vater Sergius sich als "Verräter am Altare". In ihm sprach levitisches Blut von sechs Priestergenerationen (vielleicht auch mehr) seiner Väter und Ahnen. Nach der Weihe fühlte sich Vater Sergius im Priesteramt sofort wie im väterlichen Haus, trotz des Widerstandes, den sein Weltbewusstsein dem Priesteramte entgegensetzte.

Das Priesteramt bedeutete für ihn in erster Linie Gottesdienst, Vollzug der Sakramente, Dienen vor dem Altar. Priester sollte nur der werden, der ein unaustilgbares Verlangen nach der Vollziehung der heiligen Handlungen spürte. Alles Weitere, die Predigt, Seelsorge und Lehrarbeit, tritt auf den zweiten Platz zurück und kann auch von Nichtpriestern geleistet werden. So lautet der Rat Vater Sergius' all denen, die das Priesteramt suchen und erstreben. Vor dem Altare stehend, fühlte sich Vater Sergius im Himmel. Die Anwesenheit und das Mitdienen der Engel empfand er nicht als Allegorie, sondern als Wirklichkeit. Von tiefer Andacht und überirdischer Eingebung waren seine Gottesdienste umweht. Er war deshalb von ungewöhnlicher Strenge in der Beobachtung der Gottesdienstordnung, von nahezu alttestamentlichem Ritualismus, in dem er, seiner Auffassung nach, die apokalyptische Anbetung der Weisen vor dem Throne des Lammes vollzog [vgl. Apk 4,10]. Die Schönheit des orthodoxen Gottesdienstes verglich Vater Sergius mit dem golddurchwirkten Schleier über dem Abendmahlskelch; die sakramentarische Kunst mit dem Vorhof zum Allerheiligsten. Er war deshalb ein Feind aller künstlichen Schönheit wie aller elementaren Vereinfachung. Er verwirklichte in seinen Gottesdiensten jene höhere geistige Schönheit, die dem Nardenwasser, das die Heilige Magdalena über das Haupt Christi goss und das alle Aromate der Erde in sich enthielt, glich [vgl. Mk 14,3].

Der Prophet

Der Dienst des Propheten, als freie Eingebung des Heiligen Geistes, widersetzt sich gewöhnlich dem Dienst des Priesters, dem vorgeschriebenen Dienst am Wort. So wie das Priesteramt in der Kirche anerkannt und für unentbehrlich gehalten wird, so ist man im allgemeinen geneigt, den Prophetendienst als unnötig anzusehen und ihn zu vergessen. Vater Sergius war nicht nur Priester, sondern auch Prophet, und in diesem Zusammenspiel liegt vielleicht das wesentliche Geheimnis seiner geistigen Persönlichkeit. Der Kirchendienst verdrängte niemals die Stimme seines freien Wortes. Das Stehen vor dem Altar entriss ihn niemals den Menschen. Die heilige Handlung machte ihn niemals für die Fragen des Lebens taub. Im Gegenteil: sie entflammte und beflügelte ihn. Und wenn neue Erscheinungen geistigen Lebens auftauchten, die in den Rahmen der Kanonik sich nicht einfügten und die Anhänger der [S. 44] ordnungsgemäßen Frömmigkeit in Versuchung führten, hat Vater Sergius mutig an ihnen teilgenommen. Seine freie Prophetenstimme erklang dann wie eine Himmelsglocke, wie ein Aufruf zur Verwirklichung der Kirchlichkeit und Wahrheit immer und überall, und nicht nur in der gewohnten Form der traditionellen Gottesfurcht. Zu solchen Erscheinungen gehören die Jugendbewegung, die ökumenische Bewegung, die anglo-russische Bruderschaft. In allen diesen Organisationen war der Geist Vater Sergius' die Hefe, die den Teig säuert, der Funke, an dem die Seelen entflammen. Dessenungeachtet stieß Vater Sergius, der von Natur aus mutig war und in seinen Überzeugungen stets und überall bis zu Ende ging, als Prophet ständig auf Unverständnis, Gleichgültigkeit und Misserfolg. Er litt unter seinen Anklägern, doch er entlarvte sie niemals. Damit bewies [er] seine Demut und die Treue zu seiner Aufgabe, die da ein Aufruf war und keine Führerschaft, eine göttliche Eingebung und kein Zwang.

Der Seelsorger

Von dieser mehr intimen Seite von Vater Sergius' geistigem Wege können seine Beichtkinder, die über die ganze Welt zerstreut leben, zeugen. Als Priester war Vater Sergius nur Zeuge und Mitbeter der reuenden Seele. Er war niemals Richter, niemals Verurteiler. Er stellte hingegen wie ein erfahrener und liebender Arzt die Diagnose der Krankheit, sprach über die Mittel der Heilung, ermunterte und flößte neuen Mut ein.

Im Leben erschien Vater Sergius oft streng. Er liebte das Geschwätz nicht, besaß aber auch die Gabe des Zwiegespräches nicht: er sprach und hörte zu. Doch in der Beichte war er ein ganz anderer: einfach, aufmerksam und milde. Im Leben war er ein großer Aristokrat. Es war nicht leicht, sein Interesse auf etwas zu lenken und seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In der Beichte aber waren alle für ihn gleich. "Paul Florenskij (den er für einen Genius hielt und weit höher stellte als sich selbst) und der kleinste Bauer". Als er seine Stimme verlor nach der Operation seines Halskrebses, machte ihm Gott das Geschenk einer besonderen Liebe und Zärtlichkeit. Es genügte, zu ihm zu kommen, ihn zu sehen, um sich selbst in einer anderen Welt zu fühlen; alles Schwere, Dunkle und Schmerzliche entschwand und verlor seine Wirklichkeit. Er heilte ohne Worte, allein durch seine Gegenwart, mit seinem Dasein. Und deshalb ist uns die Welt so leer geworden, nachdem Vater Sergius sie verließ.

II. [Abschnitte seines Lebens]

Das Leben Vater Sergius’ umfasst einige Abschnitte, die mit dem Wechsel seines Aufenthaltsortes zusammenfallen.

Kindheit und Jugend (1871-1895)

Vater Sergius ist der Sohn eines bescheidenen Friedhofpfarrers des Provinzstädtchens Livny (Provinz Orel). Sein Vater war ein Mensch festen Glaubens, strengen Pflichtbewusstseins, etwas trockener, ironischer Natur. Die Mutter war eher poetisch, besinnlich veranlagt. Die zahlreiche Familie der Bulgakoff (sieben Kinder) lebte in großer Armut ein strenges, nach den Möglichkeiten bemessenes Leben, wobei sie sich fest an die kirchlichen Gebräuche hielt. Nicht zur Kirche gehen oder die Fastenzeit nicht einhalten, war einfach unmöglich. [S. 45] Mit 10 Jahren trat der zu Späßen geneigte, lebhafte Knabe in die dreiklassige geistliche Schule ein, die er als erster beendigte. Es folgten das Seminar in Orel, die religiöse Krisis, Austritt aus dem Seminar, Beendigung des Gymnasiums in Eletz (was für einen Seminaristen äußerst schwierig war) und Eintritt in die Moskauer Universität. Er interessierte sich besonders für Philosophie und Philologie, besuchte aber die juristische Fakultät, denn nur dort konnte er sich dem Studium des Marxismus widmen, in dem er (wie fast die ganze russische Jugend) die wissenschaftlich begründete öffentliche Moral als Dienst am Volk sowie auch als Pflichterfüllung gegenüber den niederen Brüdern erblickte. 1894 beendete er mit glänzendem Erfolg die Universität; ihm wurde sofort das Lektorat der politischen Ökonomie übertragen. Er begann seine Vorlesungen, verheiratete sich, legte das Magisterexamen ab und bekam den Auftrag, zu Studienzwecken ins Ausland zu reisen.

Der "Intelligente"

Zwei Jahre verweilt er im Ausland und arbeitet in den Bibliotheken Berlins, Londons und Paris. Zweimal reist er zu kurzem Aufenthalt nach Russland zurück. Diese Zeit ist von Gelehrtenarbeit ausgefüllt, von Begeisterung am Ausland, vom Glauben an den Sozialismus, von der Freundschaft mit Bebel, Liebknecht und anderen sozialdemokratischen Führern. Nur der Eindruck, den ihm die Kunst hinterlässt, – "Begegnung" mit der Sixtinischen Madonna – lenkt ihn vom Reich der Technik und des Fortschrittes ab und anderen Idealen zu. Im Jahre 1901 kehrt er nach Russland mit einer zweibändigen Arbeit "Landwirtschaft und Kapitalismus" zurück. Dieses Werk soll ihm wegen seines Umfanges und seiner Gelehrsamkeit den Doktorgrad einbringen. Doch es ist schon nicht mehr aus einem monolithischen Glauben an den Marxismus heraus geschrieben. Seine sozialistische Weltanschauung ist bereits im Umbruch. Und hinsichtlich des kalten Verhältnisses der Professoren verleiht ihm die Universität nur den Grad eines Magisters. Doch kurz darauf beruft ihn das Kiewer Polytechnische Institut, wo er als Professor fünf Jahre lehrt.

Kiew (1901-1906)

Eine Zeit inneren Kampfes und geistiger Selbstbesinnung. Der sozialistische Glaube wankt, die Religion des Fortschrittes ist ausgelebt. Der Westen hat längst aufgehört, das "gelobte Land" zu sein, das Land "heiliger Wunder". Und so tritt an Stelle des naiven jungen Enthusiasmus der "philosophische Nihilismus", die düstere Resignation, ein Prototyp dessen, was er im "seelischen Drama Herzens" findet. (So ist sein Aufsatz benannt, den er dem Schaffen dieses äußerst klugen Menschen widmet.) Doch seine Seele gibt sich mit der geistigen Leere nicht zufrieden. In ihr schreitet ständig eine langsame, kapillarisch aufbauende Arbeit fort. Die Natur, Kunst und Familie nähren ihre religiösen Wurzeln, und um 1901 erfolgt der Umbruch. Er fällt ihm nicht leicht. Das Tor seines Herzens öffnet sich nicht sofort dem anklopfenden Christus. Als es sich aber hingab, wurde seine Kammer zum Gotteshaus, in der der Herr ganz und für immer waltet... In diese Zeit fällt auch der Aufstieg seines jungen Ruhmes. Nach einem Vortrag über das religiös-philosophische Schaffen Dostojewskijs (21. November 1910) trägt ihn die Masse [S. 46] begeisterter Studenten auf den Händen. Er wird zum Führer der religiösen Intelligenz und Lehrer der zum Licht strebenden Jugend. 1903 erscheint sein Buch "Vom Marxismus zum Idealismus". Im Jahre 1906 verlässt er Kiew und übernimmt den Lehrstuhl für politische Ökonomie in Moskau.

Moskau (1906-1918)

Zeit geistiger Reife, kirchlich-akademischen Dienstes und weltlich-religiöser Predigt. Ununterbrochen geht seine Gelehrtenarbeit weiter: Unterricht, Vorlesungen, Schreiben von Büchern (Abriss politischer Ökonomie, Geschichte der politischen und ökonomischen Lehren). Doch das ist nicht die Hauptsache. Der Schatz geistiger Erfahrung, der Glaube und ein Leben in Jesu Christo müssen in einer Weltanschauung zum Ausdruck gelangen, müssen das ganze Denken und Wissen befruchten. Hier eröffnet sich ihm ein endloses fruchtbares Arbeitsfeld. Die Orthodoxie besitzt noch keine Philosophie. Sie lebt als Glaube, Gottesfurcht und Gottesdienst; nur einige Vorgänger (Gogol', Dostojewskij, Bucharew) fühlen, dass dieser geistige Reichtum zur Quelle eines neuen Schöpfertums in allen Gebieten des Lebens werden wird. Dazu ist es aber notwendig, alle philosophischen Probleme im Lichte der Orthodoxie durchzudenken, den Weg zum positiven religiösen Denken und den rechten Beziehungen zum Leben zu bahnen. Hier gewinnt zum ersten Male die religiös-philosophische Grundidee Vater Sergius' Form: die Sophiologie. Die Welt ist das Werk der Weisheit Gottes. Das Siegel der Weisheit liegt auf allem. Alles ist Weisheit. Gott und die Welt sind von keinem unüberbrückbaren Abgrund voneinander getrennt: die Welt ist göttlich – Gott ist menschlich. Das ist nicht Pantheismus (denn der Schöpfer bleibt immer Schöpfer und die Welt Schöpfung), sondern Panentheismus. Alles muss in Gott gedacht und Gottes Bild muss in allem erblickt werden. Höchstes positives Pathos beflügelt diese geistige Feststellung. Sie wird zum Schlüssel aller Probleme des Lebens und Denkens, zum Koeffizienten der ganzen philosophischen und theologischen Gedankenarbeit und von Vater Sergius erstmals in dem Buche "Philosophie der Wirtschaft" dargelegt, einem Buche voller Frische und Inspiration. Es ist ein junges Buch, für die Jugend geschrieben, das von der Welt der Wirtschaft, der Technik und Wissenschaft spricht wie vom Garten Gottes, zu dessen Bestellung der Mensch berufen ist.

Zum vollen Ausdruck gelangt die Sophiologie in "Tageslicht", das zusammen mit Vater Paul Florenskijs "Säule und Grundfeste der Wahrheit" ein wahres Kompendium russischen religiös-philosophischen Denkens bildet. In diesen Arbeiten überwindet Vater Sergius den Kantianismus (als Barriere zur Metaphysik), den Idealismus (als System des Weltwillens und Weltverstandes), den Soziologismus (als übertriebene Heraushebung des Problems der Gemeinschaft zum Nachteil der religiösen Persönlichkeit). Als Zeugen dieser ungeheuren Arbeit treten (außer den genannten Werken) zwei Sammelbände auf: "Zwei Staaten" und "Stille Gedanken", die ausgezeichnete Aufsätze über das Urchristentum, Kultur, Ökonomie, Nation usw. neben Charakteristiken über Feuerbach, Carlyle, Marx, Ruskin, Picasso, Feodoroff, Leontieff, Dostojewskij, Tolstoj, Solovjew enthalten. Seiner Natur nach ist Vater Sergius Gelehrter, Denker, Erforscher. Seine Predigt trägt rein akademischen Charakter und ist nicht an die Masse, son- [S. 47] dern an die Person gerichtet. Das öffentliche Leben zieht ihn dauernd zu anderen Lehrstühlen; 1907-1908 ist er Mitglied der zweiten Duma (in der er gegen die Todesstrafe auftrat) und ist öffentlich als Publizist tätig. Auch in dieser Tätigkeit vertritt er keine Partei, sondern das moralische Bewusstsein und christliche Gewissen.

Krim (1918-1922)

Die Revolution reißt das alte Rußland mit seinen Wurzeln aus. Alles geht unter. Doch im Brausen der Grundgewalten erwirbt die orthodoxe Kirche, die ihren despotischen Beschützer, den Staat, verlor, sich ein neues Leben freien Bekenntnisses und heroischen Märtyrertums. Vater Sergius, dessen kirchliche Tätigkeit bereits bekannt ist, gehört jetzt dem allrussischen Konzil an und ist nächster Mitarbeiter des Patriarchen Tichon. Im Sommer 1918 empfängt er die Priesterweihe und wird dafür sofort von der Universität entlassen. Er begibt sich in die Krim, wo er auf dem Gute Oleis, das seiner Schwiegermutter gehört, zwei Jahre in der Umgebung eines irdischen Paradieses und einer menschlichen Hölle verbringt. Ringsum Hinrichtungen, Haussuchungen, Terror. Vater Sergius befindet sich ständig in Lebensgefahr. Trotzdem hält er Vorlesungen (in der Simferopoler Universität, so lange, bis man ihn auch dort herausgestellt hat), vor allem aber schreibt er. Er vollendet in dieser Zeit zwei seiner allerphilosophischsten Bücher, die "Tragödie der Philosophie" und die "Philosophie des Namens". Das letztere ist zur philosophischen Begründung der "Namensverehrung" geschrieben. (Vater Sergius setzte sich als Glied des allrussischen Konzils schriftlich für dessen Anerkennung ein). Es ist zugleich ein erster Schritt zum Aufbau einer orthodoxen Erkenntnistheorie und gilt als sein allerrevolutionärstes Buch. Er verwirft nicht mehr und nicht weniger als – die traditionelle Logik. Grundlage des Denkens sind nach Vater Sergius nicht abstrakte Begriffe, sondern das konkrete Wort. Praktisch kommt also die Gnoseologie nicht in der Logik, sondern in der Sprache zum Ausdruck. Wir sind zunächst über die paradoxe Behauptung verwundert; doch dann sehen wir, dass dies nichts anderes ist als eine ganz verantwortungsbewusste Haltung gegenüber dem ersten Spruch des Johannes-Evangelium: "Im Anfang war das Wort" [Joh 1,1]. Für Vater Sergius ist dies nicht nur eine theologische und ontologische, sondern auch eine gnoseologische Wahrheit. Das Wort ist nicht nur Anfang des Lebens und der Schöpfung, sondern auch des Denkens und der Sprache.

Am 1. Januar 1923 vertreibt die Regierung Vater Sergius aus Russland. "Sie sind uns gefährlicher als eine ganze Weiße Armee", sagte ihm ein Tschekakommissar, der ihn in die Verbannung trieb. Ein Flüchtling, der alles verlor, begibt sich Vater Sergius zunächst nach Konstantinopel und von dort aus nach dem damaligen Zentrum der russischen Emigration – nach Prag.

Prag (1923-1925)

Hauptstadt der russischen Flüchtlinge, der meisten öffentlichen Organisationen, von Anfängen, Plänen, Hoffnungen auf baldige Rückkehr nach Russland voll. Mittelpunkt für die Ausbildung verschiedenster Kader für das zukünftige Russland. Russische juristische Fakultät. Christliche Studentenbewegung. Und viele unausführbare Pläne, viel Naivität und Kurzsichtigkeit, [S. 48] aber auch wahre Begeisterung, heißer Enthusiasmus. Am dauerhaftesten und widerstandsfähigsten erwies sich alles, was mit der Kirche in Verbindung stand. Vater Sergius hält Vorlesungen an der juristischen Fakultät, nimmt an der Jugendbewegung teil, arbeitet aber vor allem wissenschaftlich. Hier beginnt der dritte – theologische – Abschnitt seines Schaffens. Er schreibt ein Werk über die Verehrung der Gottesmutter (in dem er sich mit dem katholischen Dogma von der unbefleckten Empfängnis auseinandersetzt), eine Untersuchung des Dogmas von der Heiligen Dreinigkeit (Kapitel über die Trinität), Abrisse der Lehre von der Kirche, das Buch "Petrus und Johannes, zwei Urapostel". Bald nimmt sein theologisches Schaffen einen mehr systematischen Charakter an. Im Jahre 1925 beschließt der Metropolit Eulogius, in Paris eine höhere theologische Schule zu gründen – das Orthodoxe Theologische Institut. Er beruft Vater Sergius, ihm vorzustehen. Vater Sergius siedelt nach Paris über und gibt sich diesem Werk, dem es beschieden war, eine seiner hauptsächlichsten Schöpfungen zu werden, mit ganzer Seele hin.

Paris (1925-1944)

Ein kleiner Hügel im Arbeiterviertel am Rande der Stadt. Auf dem Hügel das Gotteshaus und zwei alte Gebäude. ln einem von diesen, in einer engen Wohnung und asketischer Umgebung wohnt Vater Sergius. Aus seinem Fenster ist die Kirche sichtbar, und wenn das Fenster offensteht, erklingen die Worte und Gesänge des Gottesdienstes bis an seinen Schreibtisch.

Das Leben Vater Sergius' verläuft in klösterlicher Tagesordnung. Um 7 Uhr früh ist er in der Kirche. Nachher arbeitet er, hält Vorlesungen und schreibt. Er hätte wohl den ganzen Tag geschrieben, wenn man ihn nicht davon abhielte. Beichtkinder und Freunde ziehen in langer Reihe durch seinen bescheidenen Arbeitsraum. Er unterhält sich lange mit ihnen, dann – nach dem Abendgottesdienst – nimmt er ihre Beichte entgegen und verweilt so oft bis tief in die Nacht hinein in der Kirche. Oft muß er Paris verlassen. England (anglo-russische Bruderschaft), die Schweiz (ökumenische Bewegung), Amerika (bischöfliche Kirche) sehen ihn als Gast abwechselnd bei sich und hören sein Wort. Es ist unbegreiflich, wie er all diese Arbeit vereinigen konnte. Seine Vorlesungen, Predigten, internationalen Beziehungen erforderten große Vorbereitungen: Vater Sergius hat niemals improvisiert.

Daneben bleibt ihm noch Zeit für die Hauptsache; sein theologisches Schaffen. Eines nach dem anderen seiner theologischen Bücher erscheint: über Johannes den Vorläufer (Der Freund des Bräutigams), über die Engel (Die Jakobsleiter), welches zusammen mit dem Buche über die Gottesmutter (Der brennende Dornbusch) die erste dogmatische Trilogie – von der Weisheit Gottes in der Schöpfung – bildet. Es folgen drei monumentale Bände, die die zweite Trilogie bilden; über das Gottmenschtum ­– das Lamm Gottes, der Tröster, die Braut des Lammes. Ferner eine Menge von Aufsätzen, darunter bedeutende, an ganze Bücher grenzende und andere, kürzere, erbaulichen Inhaltes, Predigten und Vorträge. Es gibt kein theologisches Problem, mit dem Vater Sergius sich nicht beschäftigt hätte, keine Frage des Lebens, auf die er nicht eingegangen wäre, und immer vereinigen sich in ihm Gottesfurcht und Gelehrsamkeit mit schöpferischer Spannung und beharrlichem Streben nach vorwärts.

[S. 49] Die Pariser Zeit ist ohne Zweifel die reichste und reifste seines Lebens. Hier warten auf ihn auch schwere Heimsuchungen. Der misstrauische Konservativismus der Emigranten, der sich vor allem Neuen fürchtet, konnte seinem furchtlosen, schöpferischen Denken nicht folgen. Man ruft ihn als Neuerer, Modernisten, Häretiker aus. Vater Sergius selbst trug ständig das Verlangen nach einer theologischen Kritik seiner Ideen. An ihrer Statt aber entlarvte man ihn als nicht zur Orthodoxie gehörend, belegte ihn mit kanonischen Verboten und antwortete ihm aus einer völligen Unkenntnis der Sachlage, dass es ihm unmöglich ist, seinen Gegnern zu erwidern. Das Episkopat der westeuropäischen Metropole, der Vater Sergius angehörte, ist glücklicherweise auf die Provokation dieser Verleumdung nicht eingegangen. Es schätzte in ihm nicht nur den Denker, sondern auch den Weisen und Frommen, verteidigte ihn mit seiner kanonischen Autorität und gab ihm damit die Möglichkeit, seine Arbeit zu Ende zu führen. Im Jahrer 1939 ereilte ihn ein neues Übel: Halskrebs, eine schwere Operation und der Verlust beider Stimmbänder. Nach unmenschlicher Anstrengung lernt er, ohne Stimme zu sprechen. Er hielt sogar Vorlesungen (niemand weiß, wieviel Mühe mir dies kostet, sagte er), er feierte die Liturgie (doch auch den Orthros, zu dem sich seine Freunde einfanden). Ständig fühlte er sich invalid und litt heftig darunter. Während des Krieges aber und aller Entbehrungen, während der Bombenangriffe und der allgemeinen Mutlosigkeit überraschte er uns mit seiner Ruhe, mit seiner freudigen Seelenstimmung und dem fast überirdischen Lichte, das von ihm ausging. Erst jetzt, nach der Lektüre seiner Handschrift über die Apokalypse (nach deren Beendigung er verschied), verstehen wir, dass seine letzten Jahre vom eschatologischen Lichte umstrahlt waren, dass er im Anblick der Ewigkeit lebte. Sein liebstes und innigstes Gebet "O komm, Herr Jesus" hat sich im gewissen Sinne für ihn schon hier auf Erden erfüllt.

Anmerkung

Aus: Kyrios 1960/61, S. 40-49. Dieser Aufsatz war vorher in der "Internationalen Kirchlichen Zeitschrift" 1946, Heft 1, S. 17-29, erschienen.

Bibliographie Bulgakovs

 

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