Die Welt als Offenbarung der Weisheit Gottes

Die Sophiologie von Sergius Bulgakov

Leo Zander

 

[Seite 140] Der Begriff der Weisheit hat in der philosophischen und der theologischen Lehre Bulgakovs eine zentrale Bedeutung. Er ist der eigentliche Schlüsselbegriff für das Verständnis seines gesamten Werkes, das große "und", das in seinem Denken Gott und Welt, Sein und Geschehen, Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit zusammenbindet. Dieser Begriff ist aber nicht eine neue Erfindung: "unter verschiedenen Namen und unter verschiedenen Gestalten begegnen wir ihm in der Geschichte des Denkens", sagt Bulgakov: "Weltseele, Göttliche Sophia, Pleroma, Natura naturans...". Allein diese Aufzählung zeugt von der Vielgestaltigkeit und vom Reichtum des Inhaltes des Begriffes Sophia. Verschiedene Denker und Schulen gebrauchen ihn im verschiedenen Sinne; aber alle diese Interpretationen sind nur verschiedene Antworten auf dieselbe Frage, auf das Problem, das zu den Fundamenten des Denkens gehört und im Wesen der Dinge liegt. Dies ist die Frage nach dem Verhältnis vom Absoluten und Relativen, von der Einheit und Vielheit, vom Bild und Urbild, von Gott und Welt. Wie ist dies Verhältnis zu denken, damit das Relative vom Absoluten nicht absorbiert wird, aber damit auch das Absolute im Relativen sich nicht auflöst? Jedes philosophische Denken versucht auf diese Frage eine Antwort zu geben, und wenn es die Einseitigkeiten eines Parmenides und eines Heraklit vermeidet, läuft es notwendig in den Bahnen des Platonismus, indem es ein "tertium datur" behauptet, es zu formulieren sucht. Auf dieses bezogen ist die Sophiologie weder ein individuelles Gedankengebäude noch ein isoliertes System und muss als ein besonderer Typ der Lösung des allgemein-philosophischen Problems bezeichnet werden. Die Tatsache, dass das "Tertium datur' als Weisheit Gottes bezeichnet wird, orientiert unser Denken in drei Richtungen: erstens bedeutet es einen mächtigen ontologischen Optimismus; die Weisheit setzt die Realität dessen voraus, der sie besitzt, dem sie angehört; das bedeutet, dass der Bund zwischen Himmel und Erde nicht nur ein Postulat der Vernunft ist, sondern tatsächlich existiert; zweitens weist es darauf hin, dass dieses Problem auf den Wegen des Denkens erkannt werden muss: die Philosophie ist eine wahre Liebe zur Weisheit – zu dem, was die beiden Welten real vereinigt, drittens verbindet der Name Sophia das philosophische Denken mit dem religiösen Glauben, insofern das Grundprinzip des Seins die Weisheit Gottes ist, "die vor der Schöpfung der Welt bei Gott war und deren Ergötzung bei den Menschenkindern war" (Spr. Sal. 8, 22 u. 31).

[S. 141] Diese Gleichsetzung des Weltprinzips mit der biblischen Chochma öffnet die Tür für eine weitere religiöse Interpretation der Sophia, die als Tochter des Vaters, als Braut des Lammes und als Gefäß des Heiligen Geistes, d.h. der Kirche erscheint. So werden die Wahrheiten des Glaubens zur Lösung der Fragen menschlicher Vernunft, die Philosophie wird durch Religion durchwirkt und der Glaube mit Problematik gesättigt. In diesem Sinne erweist sich der Name Sophia als Symbol einer christlichen Weltanschauung, deren konkrete Formen verschieden sein können. Es gibt nämlich eine sophiologische Einstellung (die vielen Denkern, Mystikern, Poeten und Künstlern gemeinsam ist) und es gibt sophiologische Lehren – als verschiedenartige Versuche, die Grundeinstellung in vernünftigen Formen durchzudenken und darzustellen. Die erste kann als das Schauen Gottes in der Welt definiert werden, als ein Erschauen des Schöpfers in der Schöpfung, als ein unaufhörliches Empfinden jenes "gut" oder "schön", die das eigentliche Wesen der ganzen geschaffenen Welt bilden. Es ist also nicht ein Verlangen, nicht ein Suchen der Vollkommenheit – sei es auf den Wegen [des Denkens] oder des Handelns –, sondern eine konkrete und grundlegende Schau dieser Vollkommenheit als der Wurzel und des Wesens von allem, was von Gott geschaffen wurde. Von diesem Standpunkt aus charakterisiert B. seine Sophiologie "nicht als eine neue Doktrin oder eine neue Wahrheit..., sondern als eine theologische und philosophische ‚metanoia', als Veränderung und Erneuerung des Herzens in einem neuen Weltempfinden, durch die sophianische Aufnahme der Welt als der Offenbarung der Weisheit Gottes".

"Existiert zwischen Himmel und Erde eine Leiter, auf der die Engel auf- und niedergehen? fragt B.: "Und was ist die Welt: das Weib, das mit der Sonne bekleidet ist (Offbg. 12,1) und nur vom Drachen in die Wüste gejagt, oder ist sie selber diese Wüste, dieses ‚leere Haus', das vom Herrn verlassen ist". Und er antwortet: "Die Welt ist die sich offenbarende göttliche Weisheit, in ihr hat sich der Himmel zur Erde geneigt. Die Welt existiert nicht nur in sich, sondern auch in Gott, und Gott ist gegenwärtig nicht nur im Himmel, sondern auch auf der Erde – in der Natur und im Menschen. Das ist die Antwort, die im Grunddogma des Christentums – in der Wahrheit von der Gottmenschheit – enthalten ist und uns gleichzeitig zur Askese und zum Schaffen ruft, zur Befreiung von der Welt und zur Befreiung der Welt." Wie wird nun diese himmlische Schau im Prisma des philosophischen Denkens sichtbar? Welche Formen nimmt die sophiologische Einstellung an, indem sie zu einer Lehre wird? Als was erweist sich der "Versuch, die göttlichen Dinge in menschlicher Sprache zu fassen?" Im Werke B.'s finden wir nicht eine, sondern zwei sophiologische Varianten. Die erste von ihnen (dargelegt in der "Philosophie der Wirtschaft" und in dem "Licht, das nicht dämmert")1) kann als monistische Sophiologie charakterisiert werden, denn wir finden in ihr die Lehre von einer geschaffen-ungeschaffenen, himmlisch-irdischen Sophia. Aber angefangen vom "Lamm Gottes" (1933) zersplittert sich der Begriff der Weisheit, und B. spricht von der göttlichen und von der geschaffenen Sophia, die zwar einander entsprechen (insofern die zweite ein Anderssein der ersten ist), aber in ihrem Wesen und Leben unterschieden sein müssen. Somit muss die zweite Variante als sophiologischer Dualismus bezeichnet werden, wobei die Was- [S. 142] serscheide zwischen beiden die Untersuchung "Capita de Trinitate"2) bildet. Diese beschäftigt sich mit dem Begriff der göttlichen Natur (Physis oder Usia) und dem Verhältnis zu den göttlichen Hypostasen (Personen). Sie macht es offenbar, dass die Sophialehre auch im Verhältnis zu der Hl. Trinität entwickelt sein muss, und dass die erste Variante, in der die Weisheit rein kosmisch gedacht wurde und am Rande der Triadologie blieb, unzulänglich ist. Die kosmische Sophia blieb "außerhalb der göttlichen Welt" und hatte ihrem Inhalte nach kein Verhältnis zu der absoluten und allumfassenden Fülle, die zur Natur Gottes gehört und in dem Leben der drei Hypostasen offenbart wird. Die göttliche Weisheit muss nicht nur in der Welt, sondern auch in Gott gedacht werden: "Sie ist nicht nur die sich offenbarende Sophia, sondern auch die mystische schweigende Usia." So löst sich die geschaffene Sophia von der göttlichen Sophia: ihrem Inhalt nach (der der Inbegriff aller Vollkommenheit ist) gleicht sie der göttlichen, ist aber von ihr im Bilde ihres Seins sehr verschieden (geschaffen, relativ, zeitig, werdend). Die sophianische Antinomie wandelt sich auf diese Weise um zum Problem des Verhältnisses zwischen den beiden Aspekten der Weisheit, was von B. im Lichte des Dogmas von Chalcedon (Verhältnis der zwei Naturen Christi, ihr Verhältnis zueinander und die Voraussetzungen ihrer Einigung) gedacht wird. Ein anderer Unterschied zwischen den zwei Varianten besteht in dem, dass die kosmische Sofia von B. als Weltperson gedacht wurde. Denn sie ist Gegenstand der göttlichen Liebe und antwortet Gott mit eigener Liebe, sie ist "die Liebe der Liebe und die Liebe zur Liebe" – und insofern Liebe zum Wesen der Person gehört, musste auch sie in den Kategorien des persönlichen Lebens gedacht werden. Aber in den "Kapiteln über die Trinität" erwies sich für B. die Möglichkeit einer nichthypostatischen Liebe. Als Resultat dieser Einsicht trat eine Umwandlung der Liebe ein, und in der zweiten Variante spricht B. den persönlichen Charakter den beiden Weisheiten ausdrücklich ab.

So sehen wir, dass die Sophien-Lehre im Werke B. eine dreifache Evolution durchgemacht hat: vom kosmologischen Verständnis zum theologischen; vom monistischen zum dualistischen; vom persönlichen zum unpersönlichen. Wenn wir uns jetzt zu dem Inhalt der Sophiologie der ersten Variante wenden, so finden wir eine Charakteristik der Sophia als Weisheit, als Liebe, als Prinzip des Weiblichen, als Schönheit und als Wesen des Alls oder als Weltseele. Die göttliche Weisheit erweist sich als die Gesamtheit der Ideen Gottes. Die Ideen Gottes sind aber keine idealen Gebilde oder subjektive Vorstellungen, denen die lebendige Konkretheit und die Kraft des Seins fehlt. "Gott denkt in Dingen", und alles, was von Gott gedacht wird, bekommt damit ein absolutes Sein. Deshalb hat auch die Weisheit Gottes als Inhalt der göttlichen Ideen ihr objektives und für die Welt transzendentes Sein. In diesem Sinne ist Sophia "die himmlische Welt der intelligiblen Ideen", das ideale Alles. Sie ist die ganze Weisheit oder Allweisheit, alles in allem und gleich in der Vielheit. Für unser Denken erweist sich dieser organische Charakter der Weisheit als logisches Band, das uns die Welt als eine Ordnung, als Kosmos (und nicht als Chaos) darstellt. In dieser logisch-kosmischen Schau münden beinahe alle großen kosmischen Systeme und B. nimmt hier eine positive Stellung zu dem "Kosmos noetos" Platos, zu der "noesis tes noeseos" Aristoteles, zu der Lehre von [S. 143] der doppelten Weisheit (als Grundlegung und als Versiegelung) des hl. Athanasius, zu den "Paradigmen", und "Proorismoï" der Patristik, zu den Ideen Gottes des hl. Thomas von Aquin. Die kritischen Bemerkungen, mit denen er sich mit dem letzteren auseinandersetzt, treffen seine eigene Kosmologie (der ersten Variante) und führen ihn zu der theologischen Sophialehre.

Wenn sich vom Standpunkt der göttlichen Anschauung her Sophia als göttliche Weisheit erweist, so ist sie, vom Standpunkt des göttlichen Wirkens her genommen, Liebe. „Gott ist Liebe, und diese Liebe wird ewig in dem gegenseitigen Verhältnis der drei göttlichen Hypostasen verwirklicht. Die innertrinitarische Liebe ist absolut, vollkommen und selbstgenug. Die Welt braucht sie nicht. Wie ist denn eine äußere Selbstoffenbarung Gottes möglich, die auch der Kreatur zuteil wird? Auf diese Frage antwortet die Lehre von Sophia als von dem Gegenstand der göttlichen Liebe. Die Gottheit, die weder Neid noch Gier kennt, die in ihrer Unendlichkeit und Absolutheit kein Zunehmen kennt, will auch das Nichtsein, das nicht-göttliche Leben zu ihrer Liebe rufen. In ihrer göttlichen Herablassung will die Gottheit nicht nur sich, sondern auch das andere lieben und geht aus sich heraus in die Schöpfung... Die Strahlen der Liebe ergießen sich aus der göttlichen Fülle, in ihrer Überfülle geht die Gottheit aus sich selbst heraus und erleuchtet die Finsternis des nicht-göttlichen Nichts, des Nichtseins... Aber indem sie die außergöttliche Welt neben sich stellt, setzt die Gottheit damit zugleich zwischen sich und der Welt eine gewisse Grenze, und diese Grenze, die sich zwischen Gott und der Welt befindet, zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, ist selbst weder das eine, noch das andere, verbindet sie gleichzeitig. Das ist die Hl. Sophia... Denn zur Fülle und Freude des göttlichen Lebens kann auch das nichtgöttliche oder außer-göttliche Leben herangezogen werden". Sophia ist die Liebe der Liebe. Sie ist dazu geschaffen, dass die Freude und Seligkeit, die die Liebe mit sich bringt, nicht nur dem dreihypostatischen Gott zuteil sei, sondern auch ihr. Deshalb ist sie nicht nur geliebt, sondern liebt auch mit antwortender Liebe, und in dieser gegenseitigen Liebe erhält sie alles, wird alles. Diese Liebe muss anthropomorph verstanden werden; sie ist frei von jedem Psychologismus, von jeder Leidenschaftlichkeit, von Unruhe und Romantik. Die metaphysische Liebe besteht in einem Leben für einen anderen, in einem Selbstopfer und Selbstaufgeben. Im Verhältnis zur menschlichen Liebe gilt sie als ihr Prototyp und Ideal (die durch die Erbsünde verdorben wurde). Es ist dieser himmlische Eros, der es möglich macht, die Kirche als Braut des Sohnes und als Weib des Lammes zu bezeichnen. In dieser Liebe gibt sich die Hl. Sophia der göttlichen Liebe hin und empfängt ihre Gaben. Sie hat selber nichts zu geben (außer sich selbst), ihre Eigenschaft ist zu empfangen. In diesem Sinne ist sie das Ewig-Empfangende, als Ewig-Weibliche. Damit ist sie aber zugleich die Wurzel des Alls, das wahre "hen kai pan", die intelligible Seele der Schöpfung. Von daher wird es auch verständlich, warum die höchste und vollkommenste Verkörperung der Sophia in der Menschheit in der Gestalt, der heiligen Weiblichkeit – der Braut und der Mutter stattfindet. Die Kosmologie erhält auf diese Weise ihre Vollendung in der Mariologie.

[S. 144] Die Weisheit Gottes, die alles in sich enthält, hat die höchste Realität: Die himmlische Idee muss deswegen nicht nur anerkannt, sondern auch empfangen werden. Dieser Empfindung entspricht die Tatsache, dass die Sophia sich auch als Schönheit entfaltet. Die Schönheit ist in diesem Sinne ein Selbstempfinden der Ideen, eine sündlose und heilige Sinnenhaftigkeit des Weltalls. An sich ist die Schönheit dem durch die Sünde verdunkelten Auge nicht zugänglich, aber alles, was der Mensch in der Natur als Schönheit empfindet, ist nichts anderes als das Licht der Sophia, das in den irdischen Formen durchschimmert. Die Erlösung der Welt fällt demgemäß mit dem Begriff ihrer Verklärung zusammen. Dieser Prozess, der seine Vollendung im himmlischen Reiche haben wird, kann schon hier auf Erden durch menschliche Tätigkeit gefördert werden. Jede "Logisierung" der gefallenen Natur ist ein Entdecken und ein Fördern ihres idealen Urbildes. In dieser Weise finden Kultur, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft ihre sophiologische Begründung. Die Sophiologie ist nicht nur eine optimistische Schau der ganzen Natur, sondern auch ein Ruf zur schöpferischen Tätigkeit des Menschen.

Wenn wir uns jetzt zu der Lehre über die ungeschaffene göttliche Sophia wenden, so sehen wir, dass alle oben entwickelten Eigenschaften auch ihr eigen sind. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass in der zweiten Variante B. der Sophia den persönlich-hypostatischen Charakter ausdrücklich abspricht, und zwar für ihre beiden Seinsdefinitionen: in Gott sowohl als auch in der Welt. Dies hängt am engsten mit der Analyse des Begriffes des Geistes zusammen, in der B. mit der origenistischen Tradition bricht (den Geist als "asomaton" zu definieren, was ja keinen positiven Inhalt hat, denn "definitio ne sit negare") und die Eigenschaft des Geistes auf Grund der christlichen Dogmatik zu zeigen versucht.

Der Glaube an einen drei-persönlichen Gott setzt voraus eine Unterscheidung von Person und Natur, vom "Ich" und vom "meinen". Dies ist die höchste Intuition und das grundlegende Axiom des ganzen Denkens in den gesamten theologischen und philosophischen Gebieten. Der Geist muss als Person gedacht werden, als Selbstbewusstsein und Selbstbejahung. "Ich bin, der ich bin" (Ex. 3,14). Aber diese Funktion des Selbstbewusstseins und der Selbstbejahung muss einen Inhalt haben, der von dem bejahenden Ich unterschieden werden muss: dieser Inhalt ist die Natur, das "meine", in dem das "Ich" lebt und welches durch dieses Leben sich offenbart. So kommen wir zum Begriff des Inhaltes des göttlichen Lebens, zur Natur Gottes, zu der Fülle, Reichtum und Vollkommenheit der Gottheit. Die Gottheit als das unpersönliche Prinzip in Gott vereinigt die drei Hypostasen und offenbart sich in ihrem Leben – dem persönlichen Charakter jeder Hypostase gemäß. Sie ist aber kein "prius" der Hypostasen (wie etwa der Ungrund von Böhme), sondern existiert nur im Leben der Hypostasen; wenn wir sie von ihnen unterscheiden, ist es nur eine intellektuelle Operation, eine "epinoia" der unvollkommenen menschlichen Vernunft, die ohne Unterscheidungen überhaupt nicht denken kann. Die Natur Gottes, die Fülle göttlichen Lebens, ist Seine Sophia und Seine Doxa, die auch im Grunde der Schöpfung liegt. Denn die Schöpfung ist nichts anderes als die Offenbarung Gottes, – "Seines unsichtbaren Wesens, das ist Seiner ewigen Kraft und Gottheit" (Röm. 1,20), die durch das schöpferische Wort und durch den alles belebenden Geist wirklich wird.

[S. 145] Die Gleichsetzung der Natur Gottes mit dem Begriff der Sophia stellt uns vor zwei Problemreihen, die die Sophiologie einerseits mit der Lehre von Gott, andererseits mit dem Problem der Welt verbinden. In der ersten Reihe begegnen wir der Frage: "Was kann man über die Usia als Sophia sagen, von der Natur als einem Inhalt, von der Gottheit als von der göttlichen Welt?" Darauf antwortet die Lehre von der Sophia als von der All-Einheit, Weisheit, Herrlichkeit und Gottmenschentum; das ist sozusagen die "göttliche" Sophiologie. In der zweiten Reihe begegnen wir der Hauptschwierigkeit des ganzen Systems: Wie verhält sich die göttliche Sophia zur geschaffenen: wenn sie in Gott ist, Gottes Natur ist, wie kann sie der Begründung der relativen und vergänglichen Welt dienen? Auf diese Frage antwortet B. mit der Lehre von der geschaffenen Sophia als vom Anders-Sein der göttlichen; sie ist nicht eine zweite Sophia, kein neues Wesen, sondern derselbe Inhalt, dieselbe Fülle der göttlichen Welt, die durch den schöpferischen Akt Gottes in die Zeit, in das Geschehen gesetzt wird. In diesem Sinne kann man sagen, dass im Grunde der Welt etwas Göttliches liegt, das Gott selbst in ein relatives und werdendes Leben gebracht hat. "Alles ist eins und identisch seinem Wesen nach in der göttlichen und in der geschaffenen Welt, in der göttlichen und in der geschaffenen Weisheit. Die eine Sophia offenbart sich in Gott und in der Schöpfung". In Gott erweist sich die Sophia, die als Fülle der Gottheit gedacht sein muss, als Weisheit und Herrlichkeit. Sie ist Gesamtheit der Ideen Gottes, und obwohl sie allen drei Hypostasen der Trinität eigen ist, findet sie ihre vollste Offenbarung im Logos als in der Hypostase des Wortes, der Weisheit. In Ihm ist sie die sich selbst denkende Idee – "noesis tes noeseos". Aber sie ist nicht nur Weisheit, sondern auch Herrlichkeit. Diese muss nicht als etwas Subjektives und dem Menschen Relatives gedacht werden (etwa als Verherrlichung), sondern als eine real existierende Wesenheit, als innergöttliches Prinzip, von dem wir in der Schrift so viele Mahnungen finden. Das ist die Freude Gottes an sich selbst, sein Wohlgefallen, sein sich selbst in Schönheit schauen. Das ist die Allgüte Gottes als Selbstbewusstsein und Selbstoffenbarung... Jeder Hypostase der Hl. Trinität entspricht ein besonderes Angesicht der göttlichen Sophia. Das Reich, die Kraft und Herrlichkeit sind nichts anderes, als die Aspekte der Sophia, die durch den Vater, den Sohn und den Hl. Geist offenbart werden.

Als letzte Definition der göttlichen Sophia tritt der Begriff der Gottmenschheit ("Theo-Anthropia") auf. In seiner Absolutheit und Transzendenz ist Gott dem Menschen unzugänglich. Jede Selbstoffenbarung Gottes, seine Beziehung zum Menschen, muss in den Kategorien einer Analogie des Göttlichen und des Menschlichen gedacht werden. Diese besteht nicht nur in der Göttlichkeit des Menschen (Ebenbildlichkeit, Sohnhaftigkeit), sondern auch in einer Art Menschlichkeit Gottes: "Wir sind sein Geschlecht" (Act. 17,28). Es existiert etwas im Menschen, das direkt auf das göttliche Wesen bezogen werden muss, und dieses etwas ist die Menschlichkeit des Menschen selbst, die das Ebenbild Gottes in ihm bildet... Die göttliche Sophia, die die Fülle der Ideen darstellt, enthält in sich das Urbild des Menschen, ist die Gott-Menschheit. Dieser Begriff ist für das ganze Denken B.’s kennzeichnend: er wird nicht müde zu wiederholen, dass in Christo nichts allein [S. 146] göttlich oder allein menschlich ist, sondern alles und immer eine gottmenschliche Natur ist. Wie ist nun das Verhältnis der Usia-Sophia zu den Hypostasen Gottes zu denken? In erster Linie muss hier die volle letzte Realität der göttlichen Natur behauptet werden; damit werden alle rein idealistischen und spiritualistischen Interpretationen eines Gottes, dem die Natur fehlt, abgewiesen; aber fortgesetzt stehen wir vor einer Antinomie: wir müssen die Realität der Sophia anerkennen, denn sonst würde Gott seiner einen Natur beraubt sein und die Trinität würde in eine Dreigötterei verwandelt. Aber wir können sie den Hypostasen nicht gegenüberstellen, denn dann wäre die Sophia zu einem selbständigen Prinzip neben der Trinität (Joachim von Fiore, Gilbert de la Porrée) [geworden] und die Hypostasen würden in der Beziehung zu ihr eine sekundäre Bedeutung haben (die Lehre vom Ungrund bei Jakob Böhme, die meonale Freiheit bei Schelling). B. löst diese Schwierigkeit durch den Begriff der "Hypostasierung". Dem geschaffenen Geist ist seine Natur gegeben; sie bildet für ihn eine unerschöpfliche Potentialität, denn sein ganzes Leben besteht in dem, dass diese Natur sich in der Selbstbejahung seiner Person aktualisiert und verwirklicht. Das "Nicht-Ich" wird stets zum "Ich" – dies ist der Prozess des ewigen Werdens des geschaffenen Geistes. Anders ist es im göttlichen Geist: in ihm gibt es keinerlei Gegebenheit oder Nicht-Realisiertheit. Seine Natur ist für ihn kein "Nicht-Ich", keine Grenze seiner Person. Gott kennt sich selbst absolut durch ein erschöpfendes Wissen: "Der Geist durchdringt alles, auch die Tiefen der Gottheit" (I. Kor. 2,10). In der Natur Gottes ist nichts, was nicht realisiert ist, kein meonales Dunkel, kein nächtlicher Schatten: Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis' (I. Joh. 1,5). Die Natur Gottes ist in dem Leben seiner Hypostasen vor aller Zeit hypostasiert und realisiert – und dies bildet den prinzipiellen Unterschied zwischen dem göttlichen und dem geschaffenen Geist, die gleichzeitig analog (im Inhalte des Lebens) und verschieden (in der Gestalt des Seins) sind. In diesem Sinne entwickelt B. sein Verständnis der Ebenbildlichkeit des Menschen: Er ist nämlich ein geschaffener Geist und besitzt ebenso wie Gott seine Natur, die aber – im Unterschiede zum göttlichen Geist, vor ihm liegt, als reine, nicht-realisierte und sich ewig realisierende Möglichkeit. Der Mensch als Person ist die Hypostase der geschaffenen Natur, in ihm findet sie ihre Offenbarung und ihr Leben. Damit wird der geschaffenen Sophia die Eigenschaft der Weltseele eigentlich abgesprochen. Zwar ist die Seele ein vieldeutiger Begriff und deshalb finden wir auch in B.' s Schriften einige Unklarheit. Es steht aber fest, dass das Persönliche, das Hypostatische, durch das die geschaffene Sophia sich offenbart, der Mensch ist: ohne ihn würde sie eine reine schlummernde Potentialität bleiben... Wenn wir uns jetzt dem schöpferischen Akt Gottes zuwenden, rnüssen wir anerkennen, dass unser Verstand sich hier vor einem Grenzbegriff befindet. Verstehen können wir ihn nicht. In der ersten Variante begnügte sich B. damit, einfach dieses Mysterium zu behaupten, ohne eine weitere Analyse des Schöpfungsaktes zu versuchen.. In der zweiten Variante geht er einen Schritt weiter und beschreibt diesen geheimnisvollen Akt als eine Tat Gottes, durch die Er die Fülle seiner Natur in die Zeitlichkeit, in das Geschehen setzte (ohne sie in Sich zu verlieren). "Gott hat sich selbst sozusagen wiederholt in der Schöpfung, hat sein Ange- [147] sicht im Nichtsein wiedergespiegelt". Deswegen ist die Welt für Gott nicht etwas ontologisch Neues – in ihr wurden die gleichen Worte des ewigen Wortes entfaltet, die in dem idealen Inhalte der göttlichen Sophia von Ewigkeit sich befinden. So erklärt B. den Sinn der Sinn der Schöpfung ex nihilo. Es gibt nichts außer Gott, das für die Schöpfung der Welt dienen konnte. Den idealen Grund der Welt hat der Schöpfer aus sich selbst genommen: ihrem Inhalte nach sind das Göttliche und das Geschaffene identisch. An diesem Punkt angelangt, fragt sich B.: Ist es nicht Pantheismus? Ist es nicht eine Vergöttlichung der Welt? Diese Gefahr würde uns nur in dem Fall drohen, wenn die Person Gottes in der Welt aufgelöst sein würde, was ja in keinem Fall zu denken ist. Der persönliche Gott bleibt der Welt transzendent als Schöpfer, Herrscher und Vater, und der Mensch hat im Gebete zu Ihm eine persönliche Beziehungsmöglichkeit. Der Pantheist, der seinen Gott in der Welt auflöst, kennt kein Gebet, denn es fehlt ihm das grosse "Du", zu dem er reden würde. Für B. aber steht fest: Wo kein Gebet ist, ist auch keine Religion"... Aber das, was im Pantheismus positiv ist – die Schau der Welt sub specie aeternitatis – übernimmt B. in sein System, das er mit dem Krausischen Terminus des Pan-en-theismus (alles in Gott zu erblicken) charakterisiert. Dies hält er für unvermeidlich, denn eine zu weit gehende Abscheu vom Pantheismus führt seine Kritiker zu der Postulierung einer außergöttlichen Welt, die sich dann vor Gott als etwas Selbständiges und Widergöttliches aufballt.

Die Sophiologie, wie sie von B. dargestellt ist, gehört zu den Voraussetzungen des religiösen und des philosophischen Denkens. In der Geschichte der Philosophie, der Mystik und der Poesie finden sich viele Analogien, die dasselbe Weltgefühl in anderen Formen ausdrücken. In diesem Sinne kann man von einem sophiologischen Denktypus sprechen, der der akosmischen Weltanschauung gegenübersteht. B. sagte einmal, daß in seinem Denken Teile sind, die aus Marmor und andere aus Papiermaché gemacht sind. Die letzteren würden von ihm selbst umgeformt und geändert (deshalb die zwei Varianten, die sich trotz der formellen Unterschiede im wesentlichen nicht widersprechen). Aber im Grunde genommen ist seine Sophiologie eine Stellungnahme des Menschen zu Gott und zu seiner Schöpfung; und diese Stellungnahme hat einen tief positiven Charakter, in der das große "Ja", das der Mensch seinem Schöpfer sagt, indem er Ihn als seinen Herrn und sein Urbild anerkennt und die Welt, in die Gott ihn gesetzt hat, billigt und annimmt.

Die Grundzüge der Sophiologie konnten hier nur in einer gedrängten Form dargestellt werden. Wegen der Kürze des Aufsatzes mussten wir auf die Zitate sowie auf alle schriftlichen Referenzen und erklärenden Notizen verzichten. Wir begnügten uns mit einem Skelett dieser Lehre, die wir einfach als etwas Gegebenes dogmatisch dargestellt haben. Eine weitere Kenntnis und Verständnis dieser Weltanschauung bedürfte des Studiums von B.'s Werken, die teilweise in die westlichen Sprachen übersetzt wurden. Wir geben die Titel aller seiner Schriften, die in deutscher Sprache erschienen, und der wichtigsten, die in französischer und englischer Sprache zu haben sind.

[148] Werke von S.Bulgakov, die in deutscher Sprache erschienen sind:

1.      Die Tragödie der Philosophie, Darmstadt 1927.

2.      Apostolische Sukzession, Eucharistie und kirchliche Einheit, in: "Hochkirche" 1931, August, 8. Heft, Sondernummer, S. 259-260.

3.      Autorität und Freiheit in der Russischen Kirche, in: Orient und Occident 1936, März, S. 27.

4.      Das Lamm Gottes, in: Theologisches Zentralblatt 1934.

5.      Capita de Trinitate, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 1935, S. 144-167, und 1936, S. 210-230, ferner 1945, S. 24-55.

6.      Das Sakrament der Buße in der orthodoxen Kirche des Ostens, in: "Die heiligen Sakramente", Heft 3, Sonderheft der "Einen heiligen Kirche", 1935 Juli-Sept. 7/9. Heft. S. 228-232.

7.      Die christliche Anthropologie, in: Kirche, Staat und Mensch, Genf 1937, S. 209-255.

8.      Die Gottesmutter und die ökumenische Bewegung, in: "Die Gottesmutter", Sonderheft der "Hochkirche", 1931, S. 243-246.

9.      Die Heiligenverehrung in der Orthodoxen Kirche des Ostens, in: "Die Heiligenverehrung der Christlichen Kirchen", Sonderheft der "Einen Heiligen Kirche"; 1936, 10/12, S. 301-305.

10.  Die Verwandlungslehre im eucharistischen Dogma der orthodoxen Kirche des Morgenlandes, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 1932, S. 129-147.

11.  Die Wesensart der russischen Kirche, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 1930, S. 181-185.

12.  Judas Ischariot der Verräter-Apostel, in: Orient und Occident, 11. Heft. S. 8-24.

13.  Kosmodizee, in: "Östliches Christentum", Bd. II, München 1925, S. 195-245.

14.  Thesen über die Kirche, in: Procès-verbaux du Premier Congrès de Théologie Orthodoxe à Athènes en 1936, Athen 1939, S. 127-134.

15.  Was ist das Wort? Eine Festschrift T. G. Masaryk, zu seinem 80. Geburtstag, Bonn, Verlag F.Cohen, 1930, S. 25-46.

16.  Was ist die Wirtschaft? Internationale Bibliothek für Philosophie, Bd. V, No. 4, Prag 1942.

17.  Zur Frage nach der Weisheit Gottes, in: Kyrios 1936, S. 93-101.

18.  Dialog zwischen Gott und Mensch. Ein Beitrag zum christlichen Offenbarungsbegriff, Marburg/Lahn, Verlag R.Edel, 1961.

Französisch: Du Verbe Incarné (Agnus Dei), Paris 1943; Le Paraclet, Paris 1946.

Englisch: The Wisdom of God. A brief summary of Sophiology, London 1937; Revelation, in "Revelation". A Symposion. London 1937, S. 125-177.

Anmerkungen

 [S. 149] 1). Deutsch unter dem Titel "Was ist Wirtschaft?", in: Internationale Bibliothek für Philosophie, Bd. V, Nr. 4, Prag 1942, S. IX und 33 (Drei Kapitel des Werkes). Deutsch unter dem Titel: Kosmodizee, in: Östliches Christentum, Bd. II, München 1925, S. 195-244 (Auszüge aus dem "Licht, das nicht dämmert". Im Östl. Christentum lautet der Titel dieses Buches "Tageslicht").

2). Deutsch in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 1935, S. 144-167, ferner 1936, S. 210-230, zuletzt 1945, S. 24-55.

Aus: Kyrios 1960/61, S. 140-149.

 

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