Der Geist des Großinquisitors

(Zum Dekret des Metropoliten Sergius.)

Nikolai Berdjajew

 

«Ihr wisset, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch». (Mt 20,25.)

«Wir sind nicht mit Dir, aber mit Ihm, das ist unser Geheimnis.» (Dostojevskij «Legende vom Großinquisitor».)

 

Der die theologischen Anschauungen des hochw. S.Bulgakov verdammende Erlass des Metropoliten Sergius hat eine viel weitere Bedeutung als der Streit um «Sophia». Es geht hier um die Schicksale des russischen religiösen Denkens, und es entsteht die Frage nach der Freiheit des Gewissens, ja nach der Existenzmöglichkeit des Denkens selbst im orthodoxen Glauben. Ist die Orthodoxie eine Religion der Geistesfreiheit oder eine Folterkammer? Da der Metropolit sich und seine Synode, mehr noch als der Papst, für unfehlbar hält und die katholische Praxis des Index einführen will, so entsteht die Frage: was ist Orthodoxie?

Die Bedeutung des Dekretes wird durch den Umstand, dass der Metropolit die Bücher des Vaters S.Bulgakov nicht gelesen hat und sein Urteil auf Grund der Darstellungen eines gewissen Herrn Stawrogin* und der sog. Fotius-Bruderschaft bildete, nicht nur kompromittiert, sondern auch annulliert. Wenn man in Wissenschaft und Literatur die Ansichten eines Verfassers beurteilt, ohne seine Werke gelesen zu haben, so wird das als gewissenlos und unmoralisch erachtet. In der administrativen Regierungsliteratur jedoch, ob kirchlicher oder staatlicher Art, gründet man sich allzu oft auf Anzeigen und Denunziationen, eine andere Ethik scheint hier maßgebend zu sein. Es gibt keinerlei Charisma, das ein Urteil über ungelesene Bücher zuließe! Hier haben wir es, mit einer für unsere Zeit charakteristischen Erscheinung zu tun. Das ist der Kirchenfaschismus. Faschismus ist Diktatur der Jugend über den Gedanken. Ist jedoch schon politischer Faschismus mit seiner Vergewaltigung und seiner Missachtung menschlicher Würde höchst abstoßend, so ist er noch abstoßender im kirchlichen Leben. Das betreffende Dekret ist für mein Gefühl vom Geiste jenes engen Seminarismus, welcher jegliches Denken verneint und einen sinnwidrigen Glauben an die Autorität verlangt, zu gleicher Zeit aber von vulgärstem Nationalismus durchtränkt ist. Ich begreife, wie schwer der Konflikt eines Mannes von so hoher intellektueller Kultur, wie Va[ter] S.Bulgakov es ist, mit jenem dumpfen Geiste sein muss. Das Dekret bezeichnet Va[ter] S.Bulgakov tadelnd, als «echten» Intelligenten, wodurch wohl seine «häretischen» Abirrungen erklärt werden. Anders stünde es, wenn Va[ter] S.Bulgakov ein Krämer oder ein Konsistorialbeamter wäre: dann wären ihm wohl die einem intelligenten Menschen verschlossenen Geheimnisse des orthodoxen Glaubens zugänglich. Die Orthodoxie wird offensichtlich als eine Standes- und Klassenreligion aufgefasst. Russische Orthodoxie hatte stets eine besondere Zuneigung für Kaufleute und Kleinbürger. Va[ter] S.Bulgakov entstammt der geistlichen Schicht, er ist der Sohn eines Priesters und ist im Seminar erzogen worden, aber er hat eine hochintellektuelle Vorbereitungszeit hinter sich, ist einen komplizierten Erkenntnisweg gegangen, und sein Name gehört zu der Geschichte der russischen Intelligenz – was ihm seitens der alten, kleinbürgerlich-seminaristischen Orthodoxie nie verziehen wird. Doch dies ist es ja gerade, was das menschliche Schicksal Va[ter] S.Bulgakovs so bedeutend macht. Es ist unzulässlich, einen solchen Menschen in der unchristlich lieblosen und undankbaren Art des Dekretes zu behandeln. Es ist vollkommen klar, dass der Metropolit Sergius theologisches und auch jegliches Denken verneint. Theologie soll nichts als Verfassen seminaristischer Lehrbücher sein. Va[ter] S.Bulgakov versteht das Christentum etwas anders, als es diese Lehrbücher tun. Die Auffassung des Christentums aus dem Geist solcher Lehrbücher heraus war eben einer der Hauptgründe, weshalb ein großer Teil der Menschheit vom Christentum abfiel. Ein entwickelteres Bewusstsein und Gewissen konnten sich mit einer so dunklen und sklavischen Religion nicht abfinden.

Das Dekret des Metropoliten Sergius will die russische Orthodoxie zu jenem unsinnigen Zustand zurückbringen, in dem sie sich im alten Moskovitischen Reich befand. Er will den russischen religiösen Gedanken des XIX. und XX. Jahrhunderts – den einzigen nach der griechischen Patristik und den byzantinischen Strömungen des XIV. Jahrhunderts orthodoxen Gedanken! – gänzlich streichen. Vom Standpunkt des Dekretes aus muss das ganze russische Denken für unorthodox und häretisch gefärbt erklärt werden. Die Verurteilung Va[ter] S.Bulgakovs ist gleichzeitig eine Verurteilung Chomjakovs, Bucharevs, Dostojewskis, W.Solovjevs, Nesmelovs und N.Fedorovs, wiewohl diese wiederum stark voneinander abweichen. Was bleibt, ist eine Wüste. Indem er zwischen Dogma und theologischer Lehre keinen Unterschied macht – was eine katholische Tendenz ist – muss der Metropolit Sergius jegliche theologische Schöpfung verneinen. Zum schöpferischen Gedanken gehört ein Talent von Gott, aber das Talent erweckt ein Ressentiment! Das ist orthodoxer Nihilismus und Feindseligkeit gegenüber der Kultur. Es gibt nicht nur pflichtgemäße Dogmen des orthodoxen Glaubens, sondern auch eine einzige pflichtgemäße theologische Lehre der Kirche, und die unfehlbaren Hüter dieser kirchlichen Lehre sind der Metropolit Sergius und seine Synode.

Es ist unbegreiflich, woher eine solche Auffassung der Orthodoxie stammt. Es gibt in der Orthodoxie nicht einmal allgemeingültige «symbolische» Bücher. Va[ter] Bulgakov kann sich mit der Tatsache trösten, dass es keinen Kirchenlehrer gegeben hat, den man nicht irgend einer Häresie beschuldigt hätte. Jede schöpferische Manifestation theologischen und religiös-philosophischen Denkens, jede nette Problematik wurden stets als häretisch verdächtigt. Ich empfand das Dekret, als von einer Religion der Synagoge kommend, der Religion der Schriftgelehrten und Pharisäer. Im Laufe der Geschichte hat sich das Christentum ständig verwandelt und ist zu einer Religion des Gesetzes ausgeartet. Obwohl die orthodoxen Metropoliten sich stets dem Katholizismus entgegensetzten, strebten sie eine Unfehlbarkeit, einen kollektiven Papismus an, der viel schlimmer ist, als der individuelle Papismus. Die Geschichte des Christentums ist durch einen sündhaften Drang zur Macht, zur Herrschaft und Tyrannei geschändet worden, wodurch gar vieles erklärt werden kann. Hier ist es endlich am Platz, die Ungerechtigkeit gegen den Katholizismus richtig zu stellen.

Wenn die Orthodoxen den Katholizismus kritisierten, so richteten sich ihre Beschuldigungen gegen seine Autorität, gegen die Negierung der Denk- und Willensfreiheit, gegen die Inquisition. Tjutschev schrieb vom Papst: Das fatale Wort «Freiheit des Gewissens sei ein Wahn!», werde ihn zugrunde richten.

Die Slavophilen, Dostojewski und auch alle offiziellen Theologen, welche gegen den Katholizismus auftraten, hoben den katholischen Klerikalismus vor, die Gewalttätigkeit einer sich als unfehlbar hinstellenden hierarchischen Autorität. Es wurde angenommen, dass die Orthodoxie mehr Geistesfreiheit und keinen Klerikalismus kenne. Doch dies galt nur solange, als man gegen den Katholizismus wütete. Sobald man sich jedoch zum innern Leben der orthodoxen Kirche wendete, so fand man keine Freiheit, weniger, als im Katholizismus. Chomjakov, der von der Freiheit als Basis der orthodoxen Kirche schrieb, konnte seine theologische Schriften nicht in Russland herausgeben und musste es in französischer Sprache tun. Bucharev hat eine regelrechte Verfolgung erlitten. Nesmelov musste den Schluss seiner Dissertation über den hl. Gregor von Nyssa ins Gegenteil umkehren, damit sie von der Geistlichen Akademie angenommen wurde. W.Solovjev konnte vieles nicht in Russland drucken lassen und stand stets unter Verdacht. Die geistliche Zensur in Russland machte eine Entwicklung des russischen theologischen Gedankens unmöglich. Man spreche ja nicht von der Abhängigkeit der Kirche vom Staat! Das Episkopat zeichnete sich stets durch seine niedere Untertänigkeit der Regierungsmacht gegenüber aus. Doch wenn man Bischöfen die Freiheit gäbe, so wäre der geistige Druck noch stärker.

Nicht die offizielle Orthodoxie, nicht die kirchliche Hierarchie, sondern der orthodoxe, den Urquellen des Christentums treugebliebene «Moderismus» behauptete die Freiheit. Ganz dasselbe gilt von der kirchlichen Gemeinschaftsidee (Sobornost'). Chomjakov hatte geniale Intuitionen über Freiheit und kirchliche Allgemeinschaft, aber sie entsprachen nicht der tatsächlichen Lage der orthodoxen Kirche. Die kirchliche Gemeinsamkeit existierte als Idee, nicht aber in der Praxis. Man muss ganz entschieden behaupten, dass die Katholiken viel mehr Gedankenfreiheit besitzen, als die Orthodoxen, und zwar in Wirklichkeit, nicht nur im abstrakten Begriff. Deshalb auch war eine reichhaltige und vielfältige theologische Literatur im Katholizismus möglich. Gar nicht zu reden vom westlichen Mittelalter, als die Freiheit des katholischen Gedankens sehr groß war, größer als in der Neuzeit. Deswegen ermöglichte das Mittelalter eine Blüte sehr verschiedenartiger, miteinander kämpfender theologischer, philosophischer, mystischer Schulen. Nichts Derartiges war dem orthodoxen Orient bekannt. Auch jetzt findet der katholische Gedanke die Möglichkeit, sich zu regen und die neuzeitlichen Probleme zu beantworten, ohne gänzlich erstickt zu werden. So z.B. bildet sich zwischen den französischen Thomisten, d.h. Menschen mit Wertschätzung für die Orthodoxie, eine ganze neohumanistische Bewegung, sehr radikal in sozialen und kulturellen Fragen und vollkommen auf der Höhe der modernen Problematik. In dieser Bewegung nehmen Priester, Dominikaner-Mönche u.a. regen Anteil. Und man lässt sie gewähren. Nichts derartiges kann man sich im orthodoxen Milieu unter orthodoxen Geistlichen und Mönchen vorstellen, die ja selbst vor allem bildungs- und kulturbedürftig sind. Der obskurste Klerikalismus wuchert unter den Orthodoxen. Bei uns gibt es nur einzelne, und die befinden sich in tragischer Lage. Dies qualvolle Thema wird durch das erschütternde Schicksal der «Legende vom Großinquisitor» illustriert. Dieselbe wurde von K.Pobedonoscev, der von allen denkenden Russen für den Großinquisitor gehalten wurde, lebhaft begrüßt. Dies Missverständnis war nur deshalb möglich, weil er die Legende vom Grossinquisitor ganz auf den Katholizismus bezog – und nicht einmal den Gedanken zuließ, dass sie sich auf die Orthodoxie beziehen könnte. Offenbar verstand Dostojewskij selber nur ungenügend, was er geschrieben hatte, vielleicht wäre er vor den folgerichtigen Konsequenzen zurückgeschreckt. In Wirklichkeit lehnte sich Dostojewski in der Legende gegen jede autoritäre Religion auf als gegen eine Versuchung des Antichristen, wo und wie sie sich auch äußere. Es ist eine unerhörte Hymne auf die Freiheit des Geistes, die extremste Form des religiösen Anarchismus. Die Legende hat einen antikatholischen Aspekt, aber sie bezieht sich nicht nur auf den Katholizismus, sondern auch auf die Orthodoxie, wie auch auf die autoritative Religion des atheistischen Kommunismus. Die Autorität in der Religion erscheint Dostojewski als der Geist des Antichrist, als eine Annahme jener Versuchung in der Wüste, die von Christus abgelehnt wurde. Alle historischen Kirchen sind dieser Versuchung unterworfen. Sie rechtfertigten sich dabei so, wie der Großinquisitor es tut, mit der Sorge um die «Kleinen». Das Dekret des Metropoliten Sergius ist ganz vom Geiste des Großinquisitors, nur ohne seine Melancholie und Poesie. Man muss aufhören den Katholizismus zu beschuldigen und soll sich lieber auf sich selbst besinnen. Falls dem russischen Christentum eine Wiedergeburt bevorsteht, muss es seine Selbstzufriedenheit, seinen dumpfen Provinzialismus und seinen unchristlichen Nationalismus überwinden, es muss sich mit der weiten Welt vereinigen.

Ich bin weder ein Geistlicher noch ein Dogmatiker und Theologe, ich bin ein eifriger Philosoph und deshalb stelle ich mich in der Kritik des Metropoliten-Dekretes auf eine andere Basis, als es Va[ter] S.Bulgakov notgedrungen tut. Einen Streit über Häresien gebe ich nicht zu und werde versuchen, eine eigene psychologisch-soziologische Analyse der Begriffe Orthodoxie und Häresie durchzuführen. Als Philosoph war ich erstaunt zu hören, was der Metr. Sergius von Plato und von Plotin, den größten Philosophen des Altertums, sagt. Die Berufungen Bulgakovs auf Plato und Plotin hält er für tadelnswert und will hierin den Urquell der theologischen «Häresien» Bulgakovs erblicken. Es scheint ihm klar, dass dieser Urquell die heidnische Philosophie ist. Man muss entschieden gegen solch seminaristisch-dumpfen Ausdruck protestieren. Plato's und Plotins Philosophie sind nicht heidnisch, sondern schlechtweg Philosophie. Es ist unerdenklich, welche Philosophie der Metropolit annehmbar finden würde. Nicht Kant und Hegel und auch kaum den hl. Thomas von Aquin und Duns Scotus! Es ist ja klar, dass er überhaupt jegliche Philosophie verneint und sie für gottwidrig hält. Doch muss er sodann auch die Theologie verneinen, da dieselbe unmöglich ist ohne Philosophie und ohne die Gedankenkategorien, welche von der Philosophie ausgearbeitet wurden. Es ist allzu bekannt, dass die griechische Patristik von griechischer Philosophie und vom Neoplatonismus durchtränkt war. Der hl. Johannes von Damaskus, die größte orthodoxe Autorität, war von Aristotelismus durchdrungen, wie auch die westliche Scholastik. Glaubt denn der Metropolit Sergius, dass Orthodoxie gleichbedeutend ist mit reinem Fideismus oder einer Art von Gefühlsreligion? Dann aber steht er manchen protestantischen Strömungen (Schleiermacher, Rietschl) näher, als den griechischen Kirchenvätern. Fraglos ist Bulgakov Platoniker. Ich bin es nicht und in den Augen des Metropoliten bekenne ich wohl eine viel schlimmere Philosophie als den Platonismus. Aber es wäre interessant zu wissen, seit wann es Häresie und Verbrechen ist, ein Platoniker zu sein? Natürlich ist die Theologie Bulgakovs eine Gnosis, ein religiöses Wissen, und keineswegs ein administrativer Synodalerlass. Jedoch, das heißt nicht, dass er etwas gemein hat mit Valentinos oder Basilides. Ich glaube, er hat nichts mit ihnen gemein. Die Gnostiker hatten eine dualistische Tendenz, welche der Sophiologie ganz fremd ist. Was weiß man übrigens auch von den Gnostikern anderes, als was ihre Feinde von ihnen aussagten, die ihre Ideen verzerrten! Ich fürchte, man weiß ebenso wenig von den Gnostikern, wie der Metropolit Sergius von den Ideen Bulgakovs erfahren hat aus der Darlegung des Herrn Stawrowski. Aber in freien und zivilisierten Ländern haben die Eiferer der Orthodoxie kein Recht, die Werke derjenigen zu vernichten, die sie der Häresie beschuldigen. Trotz der Unklarheit der theologischen Gedanken, die im Dekret enthalten sind, scheint eins klar: Der Metropolit Sergius steht ausschließlich auf soteriologischer Basis, d.h. er erkennt nur den Heilsgedanken an. Das ist sehr charakteristisch und selbstverständlich. Eine bloß soteriologische, d.h. utilitaristische Auffassung der Gottinkarnation, die Zusammenfassung der ganzen christlichen Weltanschauung als Soteriologie, gibt die Möglichkeit, die Machtorganisation zu befestigen. Diejenigen, die in ihren Händen die Schlüssel des Heiles halten, herrschen über menschliche Seelen. Das ist für die Theorie des Großinquisitors sehr vorteilhaft. Das Dekret wirft Bulgakov auch vor, dass er die ewigen Höllenqualen verneine, wiewohl nichts davon in seinen Büchern steht. Das ist ja das Leitmotiv der soteriologischen Strömungen. Namentlich die Lehre von den ewigen Qualen war stets die Hauptstütze der Macht, der Herrschaft, der religiösen Tyrannei.

Im Streit des Metr. Sergius mit Va[ter] S.Bulgakov erscheint mir die Frage der Inkarnation, nicht diejenige der «Sophia», am wesentlichsten. Ist die Inkarnation ausschließlich Sache des Heils oder ist es die Fortsetzung der Weltschöpfung? Ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes ein Zufall, durch die Sünde bedingt, die Gutmachung eines Fehlers, oder gehört sie zum Schöpfungsplan? Ist die Inkarnation Gottes nicht vielmehr ein göttlicher Weltprozess? Der Metropolit negiert den vom ganzen russischen religiösen Denken getragenen Grundgedanken, den Gedanken der Gottmenschheit, er negiert die Konformität zwischen Gottheit und Menschheit, die Menschlichkeit Gottes und die Menschlichkeit des Christentums. Somit kehrt er zum vorchristlichen Bewusstsein zurück, welches übrigens im offiziellen Christentum stets eine große Rolle gespielt hat.

Nun zur Grundfrage: Orthodoxie und Häresie. Es ist mir vollkommen klar, dass beide Begriffe soziologischen Charakters sind. Die Orthodoxie ist das religiöse Bewusstsein eines Kollektivs, hinter ihr verbirgt sich die Herrschsucht des Kollektivs über seine Mitglieder. Dies ist eine organisierte Herrschaft der Gattung über das Individuum. Das Wesen von Orthodoxie und Häresie liegt ganz klar im russischen Kommunismus. Die ganze Sovietphilosophie steht unter dem Zeichen der Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie, nicht aber zwischen Wahrheit und Irrtum. Mittels der Orthodoxie herrschen die Zentralorgane der kommunistischen Partei über Menschenseelen. Auch dies ist eine eigenartige, antichristliche Soteriologie. Die Häretiker werden verdammt. Es ist eine Nachahmung dessen, was früher im religiösen Leben behauptet wurde. Hinter dem Aufspüren und der Verdammung der Häresien verbergen sich stets Instinkte der Herrschsucht und des Sadismus, der überhaupt in der religiösen Geschichte eine ungeheure Rolle gespielt hat. Die ganze Lehre von der Hölle ist ein Produkt des Sadismus der einen und des Masochismus der andern. Die Verdammung der Häresien hatte immer kirchlich-politische Gründe und einen boshaften Ursprung. Es ist ganz falsch anzunehmen, das Pathos der Orthodoxie sei das Pathos der Wahrheit. Orthodoxie und Wahrheit sind vollkommen verschiedene Begriffe und sie haben sehr verschiedene Urgründe. Das Pathos der Orthodoxie ist Herrschsucht, Macht und Zwangseinheit, nicht aber Wahrheit und Erkenntnis. Die orthodoxale Lehre ist keine Erkenntnis und verneint das Wissen. Sie hat immer einen utilitären Charakter. Es mögen besser die konservativen Orthodoxen nicht ihre Wahrheitsliebe hervorheben, das steht ihnen nicht zu. Sie waren es ja, die nicht nur eine gewissenlose Verzerrung der historischen Wahrheit durch die kirchlichen Historiker nicht nur duldeten, sondern diejenigen verdammten, die die historische Wahrheit verteidigten. Die deutsch-protestantische Wissenschaft hat große religiöse Verdienste gerade, weil sie die Wahrheit suchte. Die Fälschung der Geschichte ist ein spezielles Produkt der Orthodoxie. Darin unterscheidet sich die marxistische Orthodoxie nicht von der religiösen. Nur durch Freiheit eröffnet sich die Wahrheit, nicht durch die gedankentötende Autorität. Die Macht in der Kirche trägt einen sozialen Charakter und ist derjenigen im Staat oder in primitiven Horden und Völkerschaften sehr ähnlich. Alles ist darin dem Evangelium entgegen, entgegen dem Reich des Geistes, alles ist auf dem Unglauben an den Geist aufgebaut. Die christliche Reform verlangt eine endgültige Überwindung der Begriffe Orthodoxie und Häresie, da sie einen offenbar sozialen und zweckmäßigen Charakter haben; sie sind durch die Begriffe Wahrheit und Irrtum oder Lüge zu ersetzen. Die Wahrheit gibt Freiheit, befreit, während die Orthodoxie Inquisitionskammern schafft und nur die sadistischen Instinkte der Machthaber frei macht. Christus sagte von sich, Er sei die Wahrheit, und das herrschsüchtige Begriffssystem sagt, es sei Orthodoxie. Christus sagte auch, Er sei der Weg und das Leben, während die Orthodoxie Weg und Leben negiert [vgl. Joh 14,6]. Soll man überhaupt das Wort gebrauchen, so ist die einzige wahre Häresie die gegen das christliche Leben, und nicht eine Häresie gegen Lehren oder ein Begriffssystem. Das Dekret des Metropoliten Sergius ist eben eine solche Häresie gegen das christliche Leben. Gerade aus Liebe zur Wahrheit und aus dem Hinstreben zur Wahrheit kann ein Mensch ein Begriffssystem abweisen, das sich die Orthodoxie nennt, das sich aber nicht vereinigen lässt mit einem feinfühlenden Gewissen, mit intellektueller Redlichkeit. Dogmen sind nur Symbole geistiger Erfahrung und geistigen Weges, nicht aber erstarrte Begriffssysteme, nicht intellektuelle Lehren, die ihrer Zeit angehören und sich ändern können. Die religiöse Wahrheit kann nur von einem aktiv einheitlichen Menschengeist aufgenommen werden, von seinem erleuchteten Verstand und seinem Gewissen. Nur ein Sklave vermag das ihm von einer Autorität aufgedrungene Lehrsystem anzunehmen, wenn das Gewissen sich dagegen sträubt, wenn die Freiheit nicht ja sagt. Ohne mein Freisein hat nichts für mich einen Wert. Phänomenologisch gehört der Freiheit das Primat über die Autorität. Die Autorität existiert nur, wenn an sie geglaubt wird, das aber heißt, dass dem Glauben das Primat gehört. Wenn die katholische Autorität versucht, das Gewissen und das Bewusstsein der Katholiken zu vergewaltigen, so nimmt im Grunde niemand die Vergewaltigung an, man schweigt und verbirgt seine Meinung oder man zerreißt das Band. Das religiöse Leben gehört dem geistigen Plan des Seins an, und es hat darin nichts einen Sinn ohne die Freiheit. Die Autorität versucht durch den Terror zu herrschen, der mit den Drohungen der Verdammung zu den ewigen Qualen verbunden ist. Darin besteht ihre Niederträchtigkeit, die dem geistigen Leben seinen Wert nimmt. Es ist eine Religion auf der sozialen und nicht auf der geistigen Ebene. Im Dekret des Metr. Sergius sehe ich denselben Unglauben an den Geist, denselben Glauben an Mittel, die den staatlichen Mitteln ähnlich sind und der sozialen Welt der Machtausübung entnommen sind, wie in allen kirchlich-administrativen und staatlichen Akten. Menschen der kirchlichen Autorität sind kleingläubig, sie negieren den Geist und glauben nur an die Welt der sichtbaren Dinge und ihre Methoden. Der Geist Gottes wirkt sich nur durch den Geist aus. Es kann kein Kriterium des Hl. Geistes geben, das den niederen Sphären entnommen ist, der Hl. Geist allein ist das Kriterium.

Das Bewusstsein konservativer Kirchenleute, besonders der kirchlichen Machthaber, befindet sich noch in einem Stadium des naiven Realismus, der einer Kritik der Erkenntnis voraus geht. Daher begreifen sie nicht die Zweigliederung der Offenbarung, die Aktivität des Menschen in der Annahme der Offenbarung, daher wird das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Offenbarung von ihnen auf naiv-realistische Weise erklärt. Die Offenbarung setzt nicht nur Gott, sondern auch den Menschen voraus. Es kann keine Offenbarung an ein Stück Holz oder an einen Stein geben. Der Geist offenbart sich nur dem Geist. Und der menschliche Geist ist stets aktiv im Empfang der Offenbarung. Die Offenbarung spiegelt sich im menschlichen Element und wird durch dasselbe bedingt, sie wird in menschlicher Sprache und in Kategorien menschlichen Denkens ausgedrückt. Daher die Offenbarungsstufen. Daher die Entwicklung. Daher auch die Relativität und Bedingtheit vieler Dinge, die in der Vergangenheit für sakral galten, jedoch mit der Beschränktheit des Menschen zusammenhängen. Daraus folgt die Notwendigkeit einer ständigen Reinigung des Christentums. Die Struktur des menschlichen Bewusstseins wandelt sich, der geistige Zustand ist verschiedenartig. Der Mensch reagiert schöpferisch auf das von oben Offenbarte. Dem Menschen als einem freien Geist stehen immer neue Probleme vor Augen und verlangen Antwort. Es gibt Probleme, die nie von ökumenischen Konzilien gestellt wurden. Die Probleme des Kosmos und des Menschen, das Geheimnis der Kreatur standen gar nicht vor den Konzilien und den Kirchenlehrern. Es gibt kein Dogma vom Menschen und vom Kosmos, nur ein Dogma von der Hl. Dreieinigkeit und Christus. Deshalb ist dogmatisches Gären und Kämpfen unvermeidlich. Aus komplizierten philosophischen Gründen bin ich kein Anhänger der Sophien-Lehre, jedoch erkenne ich die mit dieser Lehre verbundene Problematik als sehr bedeutend an. Ich bin beunruhigt in Bezug auf die Sophien-Lelire, und meine Unruhe ist derjenigen der konservativen Orthodoxen entgegengesetzt: Ich befürchte die möglichen konservativen Folgerungen aus dieser Lehre, ich befürchte eine geschichtliche Sakralisierung dessen, was nicht heilig sein kann, z.B. eines theokratischen Staates, des Eigentums, der Formen des organischen Lebens u.a. Aber in dem Kampf um seine neue Problematik und die Freiheit des religiösen Gedankens bin ich mit Va[ter] S.Bulgakov solidarisch. Manchmal will es mir scheinen, dass man ihn in Ruhe ließe, wenn das griechische Wort «Sophia» durch das russische Weisheit (Premudrost') ersetzt würde. Das ist bezeichnend für die Nichtigkeit und Armseligkeit der menschlichen Beschuldigungen.

Das Dekret des Metr. Sergius scheint vorauszusetzen, dass jedes Mitglied der Moskauer Patriarchen-Kirche die in dem Dekret enthaltenen theologischen Ansichten sowie die Verurteilung des Va[ters] S.Bulgakov zu teilen hat. Das Thema des Dekrets hat meines Erachtens gar keine Beziehung zu kirchlichen Kontroversen der Jurisdiktion. Aber als Mitglied dieser Kirche muss ich entschieden erklären, dass ich die Verurteilung des Va[ters] S.Bulgakov mit größter Empörung als einen obskurantistischen Gewaltakt am Denken empfinde und die theologischen Ideen dieses Dekretes nicht nur nicht teile, sondern gedanklich für sehr primitiv halte. Daraus mag man entsprechende Schlüsse in Bezug auf mich ziehen. Im voraus muss ich erklären, dass ich mich vor keiner Vergewaltigung des menschlichen Gewissens und Gedankens beugen werde. Trauriger macht der Gedanke, wie leicht die Verfolgten zu Verfolgern werden... Ich bleibe in der Kirche Christi, die auf Liebe und Freiheit aufgebaut ist. Man muss einen heroischen Kampf um Freiheit und Schöpfertum im religiösen Leben, um die Würde des Menschen führen. Die Wahrheit ist kein Ding, kein Gegenstand, kein vom Himmel fallendes Begriffssystem, sie enthüllt sich durch die schöpferische Tat und wird im Wandeln und Leben erworben. Die Wahrheit ist nicht zur Aufbewahrung da oder dort, an einem beliebigen Orte, gegeben worden, sondern zur Verwirklichung in der Fülle des Seins und zur Entfaltung.

Aus: Orient und Occident 1936, Neue Folge, 1. Heft, 30-38.

 (*) Hier schreibt Berdjajew "Stawrogin", im weiteren Verlauf des Textes "Stawrowski".

Anmerkung von K.Bambauer

Der Verurteilung S.Bulgakows war eine Zusammenkunft im Sommer des Jahres 1935 in Karlovci vorausgegangen, wo sich die Metropoliten Evlogij (1868-1946) und Antonij (1863-1936, Metr. Antonij war ins Ausland gegangen) auf Einladung des serbischen Patriarchen Varnava zu einem Treffen aller leitenden Hierarchen der russisch-orthodoxen Gemeinden im Ausland einfanden. Mit der Verurteilung S.Bulgakows, der sich N.Berdjajew mit dem hier wiedergegebenen Aufsatz widersetzte, sollte besonders Metropolit Evlogij getroffen werden. Vgl. zu den näheren Einzelheiten auch: S.Taurit, Zeuge russischer Kultur und Frömmigkeit in der Fremde, in: Stimme der Orthodoxie 1997, Nr. 3, 33-43. Stefan A.Reichelt, Nikolaj Berdjaev in Deutschland 1920-1950, ergänzt, dass Metr. Sergij den Erlass vom 7. September 1935 übermittelte, in dem Bulgakows Lehren verurteilt wurden und fährt fort: "Unabhängig davon verurteilte das Bischofskonzil von Sremski Karlovci nach Anhörung der mit dem Studium der Lehren Bulgakovs beauftragten Kommission dieselben [Lehren] in der Sitzung vom 17.-30. Oktober 1935. Die Entscheidung wurde Evologij in einem erklärenden Brief Antonijs mitgeteilt. Beide Verurteilungen gingen davon aus, dass die Sophienlehre gnostizistische Elemente enthalte, die der Lehre der Kirche widersprächen" (a.a.O., 58).

 

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