Verordnung des Moskauer Patriarchats

an den Hochheiligen Metropoliten von Litauen und Wilna Eleutherius.

Wir haben von der folgenden Anregung Seiner Heiligkeit Kenntnis genommen:

Es ist mir zu Ohren gekommen, dass der Professor der dogmatischen Theologie an dem russischen theologischen Institut zu Paris, der bekannte Schriftsteller Erzpriester S.N.Bulgakov, in seinen gedruckt vorliegenden Werken, wie in seinen Predigten eine besondere Lehre von der Sophia, der Weisheit Gottes, verkündet. Es gibt Leute, bei denen diese Theorie begeisterte Zustimmung findet und die sich die christliche Lehre im Sinne dieser Auffassung von der Sophia zu eigen machen und sie dementsprechend interpretieren; andere dagegen fühlen sich durch die Fremdartigkeit dieser Doktrin und ihre bisweilen ganz offen zutage tretende Unvereinbarkeit mit der Lehre der Kirche verwirrt. Ich habe mich daher an den Hochheiligen Metropoliten von Litauen, dem die Verwaltung unserer ausländischen Kirchen in Westeuropa anvertraut ist, mit der Bitte gewandt, mich genauer über Bulgakovs Lehre zu unterrichten. Das vorliegende Material gibt uns nunmehr die Möglichkeit, uns folgendes Urteil über diese Lehre zu bilden:

Es sei hier zunächst bemerkt, dass es unzweckmässig wäre, auf einzelne Punkte hinzuweisen, in denen Bulgakovs Anschauung in offenem Widerspruch zu der Lehre der Kirche steht, indem sie, wie dies bisweilen geschieht, häretische Ansichten erneuert, die bereits von der Kirche verworfen wurden. Nicht diese besonderen, der orthodoxen Lehre widersprechenden Lehrmeinungen sind charakteristisch für Bulgakov. Das sind bloß Einzelheiten, die direkte Folgerungen aus dem fundamentalen Prinzip, das dem ganzen System zugrunde liegt, darstellen: einem Prinzip, auf dem auch die ganze Lehre Bulgakovs von der Sophia, der Weisheit Gottes, beruht. Dieses Prinzip selbst entspricht nicht dem Geiste der Kirche, und das darauf errichtete System hat einen so selbständigen und eigenartigen Charakter, dass es entweder an die Stelle der kirchlichen Lehre treten oder ihr Platz machen müsste, sich jedoch in keinem Falle mit dieser zu verschmelzen vermag. Hierbei ist zu betonen, dass Bulgakov selbst durchaus nicht auf dem "kirchlichen" Charakter seiner Lehre zu bestehen scheint. Ganz im Gegenteil blickt er als echter Intellektueller auf die kirchliche Überlieferung ein wenig von oben herab, als auf einen Standpunkt, über den man bereits hinweg geschritten ist und der schon hinter uns liegt. Dennoch bleibt Bulgakov seiner geistlichen Würde als Erzpriester und seinem Amt als Professor der Dogmatik am orthodoxen Theologischen Institut nach, im gewissen Sinne ein Repräsentant der rechtgläubigen Kirche. Daher kann es dieser durchaus nicht gleichgültig sein, wie die Lehre beschaffen ist, die er als Lehre der Kirche verkündet.

Im allgemeinen erinnert Bulgakovs System an die halbpaganistischen und halbchristlichen Lehren der Gnostiker sowie anderer Denker der ersten christlichen Jahrhunderte, und dies um so mehr, als gerade die Lehren von der Weisheit, vom Logos und von der Vermittlung zwischen Gott und der kreatürlichen Weit das eigentliche Grundproblem der Gnostiker darstellen.

Da die Gnostiker noch gewisse Reste der heidnischen Philosophie mit sich schleppten, als sie zum Christentum gelangten, war es ganz unvermeidlich, dass sie hierdurch in Gegensatz zur christlichen Lehre gerieten... Wonach die Gnostiker suchten, was sie erstrebten, war eine philosophische Erkenntnis, und da die Lehre vom unerkennbaren Gott kein konkretes Material für ihre philosophischen Konstruktionen darbot, so ergänzten die Gnostiker das Fehlende durch ihre Phantasie, indem sie das unsichtbare, gestaltlose Sein mit Hilfe sinnlicher Bilder der Einbildungskraft zu erfassen suchten. So entstanden bisweilen wahrhaft schwungvolle großartige Dichtungen, die durch ihre Tiefe und Schönheit in Erstaunen setzen

Auch Bulgakovs System ist kein bloßes Produkt des philosophischen Gedankens, sondern in demselben Maße ein Werk der schöpferischen Einbildungskraft. Es ist gleichfalls eine Dichtung, die durch die Hoheit ihrer Ideen und durch ihre äußere Gestaltung zur Bewunderung zwingt. Bulgakov operiert mit einer Terminologie und mit Begriffen, wie sie auch in der orthodoxen Dogmatik und in der Heiligen Schrift verwendet werden. Und doch fragt man sich: ob das wirklich noch die Lehre der Kirche ist, die Bulgakov in diese neue Form kleidet? Kann unsere orthodoxe christliche Kirche die Lehre Bulgakovs noch als ihre eigene Lehre anerkennen? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir nicht das gesamte System Bulgakovs zur Darstellung zu bringen und zu analysieren. Wenn wir nicht seiner hypnotisierenden Wirkung verfallen wollen, tun wir gut, dieses System von einer andern Seite her zu betrachten. Nehmen wir einige Grundsätze der orthodoxen Dogmatik und sehen wir zu, worin sich ihr Inhalt in der Interpretation durch Bulgakov verwandelt.

I. [Die Sophia in der Hl. Dreieinigkeit].

Gott ist seinem Wesen nach ein einiger Gott und zugleich dreifaltig in seinen Personen. Wie ein einiger, absolut einfacher, reiner unteilbarer Geist drei Personen in sich zu fassen vermag, d.h. wie er ein dreifaches Bewusstsein oder drei «Iche» besitzen kann, die nicht auf einander zurückführbar sind – das wird für uns stets ein Geheimnis bleiben. Und das Gleiche gilt für den Satz von dem einen Prinzip der Gottheit in der heiligen Dreifaltigkeit. Der Vater gebiert den Sohn und lässt den Heiligen Geist von Sich ausgehen. Dieser Satz ist eher eine dunkle Hindeutung auf weitere Geheimnisse im Schoße der Gottheit, als ein Versuch, diese Geheimnisse aufzuhellen.

Nach Bulgakovs Lehre hat man in der Heiligen Dreieinigkeit außer den drei Hypostasen noch die Sophia, die Weisheit Gottes, zu unterscheiden. Die Sophia ist der Gott seit Urbeginn eigene Gedanke von der kreatürlichen Welt, das ideale Urbild der Welt. Und da ein Gedanke Gottes nicht ein bloßer Gedanke ohne Verwirklichung, kein bloßer Schein eines Seins bleiben kann, so ist auch die Sophia eine geistige Realität, ein Wesen, und zwar ein lebendiges Wesen. Die Sophia ist nicht allein Gegenstand der göttlichen Liebe, sondern sie erwidert auch die Liebe Gottes mit ihrer eigenen Liebe, d.h. sie liebt Gott. Als ein lebendiges Wesen, das einer geistigen Liebe fähig ist, müsste die Sophia Bewusstsein und somit auch eine Hypostase besitzen. Das ist es auch in der Tat, was Bulgakov anfänglich behauptet hat, wobei er freilich in jeder Weise betonte, dass diese Hypostase anderer Art wäre als die drei göttlichen Hypostasen, und sich von ihnen unterschiede. Allein allen solchen Reservaten zum Trotz bedeutete das dennoch eine offenkundige Negierung der christlichen Lehre von der Heiligen Dreifaltigkeit. Neuerdings identifiziert jedoch Bulgakov die Sophia mit der nichthypostasenhaften Usia, mit dem Wesen Gottes. Und da nunmehr die Sophia keine Hypostase darstellt, erwidert sie die Liebe Gottes nur noch in passiver Weise, durch eine hingebende. weibliche Liebe. Nach christlicher Anschauung muss die Liebe, selbst als passive, hingebende Liebe, um geistige, und um so mehr noch Göttliche Liebe sein zu können, Bewusstsein haben, d.h. einer Hypostase und nicht etwa einem seiner Natur nach nicht-hypostasenhaften Wesen angehören. Sonst wäre sie nichts mehr als ein bloßer Instinkt, eine «wortlose» Regung, die nicht von der Vernunft gelenkt wird, d.h. sie wäre ein Vorgang, der im absoluten Geiste völlig undenkbar ist. Selbst Eva ward erst nach dem Sündenfalle eine solche unbewusste, natürliche Liebe, ein «Verlangen nach dem Manne» zuteil (vgl. Gen III,16).

Was nun das Verhältnis der drei Hypostasen zur Sophia anbetrifft, so ist Bulgakov der Ansicht, dass die Sophia allen drei Hypostasen zugehört; er macht jedoch einen Unterschied zwischen der Selbstoffenbarung der zweiten Hypostase, wobei die Sophia zum Logos oder zur Weisheit im eigentlichen Sinne wird, und der Selbstoffenbarung der dritten Hypostase, wo die Sophia Gottes Herrlichkeit, Gottes Freude über Sich Selbst darstellt. Indem Bulgakov seinen anthropozentrischen Standpunkt näher zu begründen sucht, von dem aus er sein ganzes System konstruiert (wobei er anscheinend vergisst, dass die Geschichte der Menschheit nicht einmal das Leben der kreatürlichen Welt auszuschöpfen vermag – man denke z.B. nur an das Leben der Engel um wie viel weniger also das Leben der Gottheit!), – behauptet er weiter, dass «das Axiom, das den eigentlichen Ausgangspunkt der Offenbarung bildet», die «Ebenbildlichkeit der Gottheit und der Menschheit» wäre. Darnach wäre also Sophia die ewige Menschheit in Gott, als das Urbild und der Urgrund des menschlichen Seins. Den Unterschied zwischen Sohn und Heiligem Geist in ihrem Verhältnis zur der Menschheit in Gott, will Bulgakov gleichfalls als den Unterschied zweier geistiger Prinzipien in Gott nach Analogie der beiden Prinzipien im Menschen, dem männlichen und weiblichen, verstehen. Für das rechtgläubige Bewusstsein ist die Behauptung, dass die Sophia als die Herrlichkeit Gottes dem Heiligen Geiste zugehöre (heißt doch gerade der Sohn Gottes «der Glanz der Herrlichkeit des Vaters«), etwas höchst Unerwartetes. Genau so überraschend und befremdend ist jedoch die Behauptung, dass der Heilige Geist der Vollender des Werkes Christi sei. Überhaupt ist es schwer zu sagen, welch konkreten Nutzen für die Aufhellung des Geheimnisses, welches das Leben der unerforschlichen Gottheit umschwebt, diese, wer weiß wo hergeholte Unterscheidung zweier Prinzipien in dem einfachen Wesen Gottes – des männlichen und weiblichen – haben soll...(1) Es ist wohl kaum nötig hinzuzufügen, dass Bulgakovs Lehre vom Wesen Gottes nichts mit der kirchlichen Überlieferung, noch mit der orthodoxen christlichen Kirche im allgemeinen zu tun hat.

II. Von der Menschwerdung des Sohnes und des Wortes Gottes.

Wir glauben, dass des Menschen Sündenfall, zu dessen Wiedergutmachung der Sohn Gottes zu uns herniederstieg, keineswegs mit zu dem Schöpferplan Gottes gehörte. Der Mensch ward frei erschaffen, wobei allerdings immer die theoretische Möglichkeit seines Falles in die Sünde bestand; allein diese Möglichkeit wurde mehr als wettgemacht durch die Fähigkeit, in seiner ursprünglichen Sündlosigkeit zu verharren, auch konnten die erstgeschaffenen Menschen hierzu stets auf den Beistand der auf sie gerichteten Göttlichen Fürsorge zählen. Wäre der Mensch standhaft geblieben, so wäre die gesamte Geschichte der Menschheit völlig anders verlaufen als jetzt. Gleich den sündlosen Engeln hätte sich der Mensch in normaler Weise zum Ebenbilde Gottes emporentwickelt. Er hätte unaufhaltsam alle guten Anlagen seiner Natur zur Entfaltung gebracht und, ohne zu schwanken, die theoretische Möglichkeit des Sündenfalls überwunden, bis diese sich, wie bei den Engeln, in eine tatsächliche Unmöglichkeit verwandelt hätte. Da der Mensch "stark" gewesen wäre, hätte er «des Arztes nicht bedurft» (Matth. IX,12) und daher wäre es gar nicht zu einer Menschwerdung des Gottessohnes gekommen. Dies war der ursprüngliche Plan der Ordnung für die irdische Welt, wie ihn der Schöpfer im Hinblick auf die menschliche Freiheit entworfen hatte, doch der von dieser nicht verwirklicht wurde. Natürlich hat der Herr in seiner Allwissenheit auch den Sündenfall vorausgesehen und daher auch den Erlösungsplan – durch die Menschwerdung des Sohnes – vorentworfen. "Vorhersehen", heißt jedoch nicht etwa «Wollen» oder «Vorherbestimmen». In diesem Sinne kann man – im Hinblick auf die Wünsche und Absichten Gottes – den Sündenfall des Menschen und die hierdurch veranlasste Menschwerdung des Gottessohnes eine Zufälligkeit nennen, die durch den freien Willen der Kreatur in den ursprünglichen Weltplan hineingetragen wurde... Nach BuIgakovs Auffassung hingegen ist die Menschwerdung des Gottessohnes nicht bloß keine Zufälligkeit in dem Weltplane, sondern hat umgekehrt «Gott die Welt gerade um der Menschwerdung willen erschaffen». Von der «Notwendigkeit der Liebe» getrieben, schafft Gott die Welt aus dem Nichts, d.h. aus seinem eigenen Wesen heraus, da ein anderes Material nicht zur Verfügung stand. Im Schöpfungsakte «entäußert Sich» Gott, tritt Er aus der Ihm eigenen Ewigkeit heraus und in eine fremde, Ihm unnatürliche Region des Seins, in die der Zeit hinüber. Neben der ewigen göttlichen Sophia erscheint damit eine neue kreatürliche Sophia, eine zwar unter ihrer kreatürlichen Beschränkung leidende, nichtsdestoweniger aber dennoch göttliche Sophia. Dieselbe Notwendigkeit zu lieben, treibt nunmehr Gott dazu, die kreatürliche Sophia von ihrer kreatürlichen Unvollkommenheit zu befreien und sie der Fülle des göttlichen Lebens wieder zurückzugeben. Das aber geschieht durch die Fleischwerdung Gottes. Der Logos, die Hypostase der göttlichen Sophia, nimmt den Menschen, die Hypostase der geschöpflichen Sophia, in sich auf und führt hierdurch, indem sie alle Geschöpfe vergöttlicht, alles seinem Endziel zu, da Gott «alles in allem» ist [vgl. I. Kor. XV,28]. Wir müssen besonders darauf aufmerksam machen, dass Bulgakov dort, wo er sich über die Art der Vereinigung zweier Wesenheiten in der Person des Herrn Jesus Christus äußert, die von der Kirche verworfene, dem Apollinarius zugeschriebene Häresie erneuert. (Ob sie ihm zu Recht oder Unrecht zugeschrieben wird, mag hier unerörtert bleiben.) Die Möglichkeit, ja mehr noch, die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes ist in der Natur der Dinge selbst begründet, insofern eine Ebenbildlichkeit in dem Verhältnis von Gottheit und Menschheit vorliegt. «Die göttliche Sophia, als Organismus der Ideen ist die ewige Menschheit in Gott». Daraus scheint hervorzugehen, dass der Göttliche Logos Sich nicht vollständig verwirklicht hätte, wenn Er Sich nicht auf Erden in Gestalt des Menschen verkörpert hätte. Das Wort ward Fleisch, nicht etwa weil der Mensch der Sünde verfiel. Freilich ist auch nach Bulgakov eines der Ziele Gottes die Erlösung des sündigen Menschen. Diese ist jedoch nur eine Nebenabsicht, die gegenüber dem unendlich viel großartigeren Hauptziel: die gesamte kreatürliche Sophia in die Gottheit zurückzuführen, völlig verblasst...

Sehr unklar bleibt im System Bulgakovs auch die Lösung des Problems der Möglichkeit des Sündenfalles. Nach der Lehre der Kirche ist die Selbstentäußerung Gottes bei der Schöpfung so zu verstehen, dass der Allmächtige Sich zu einer Selbstbegrenzung entschließt, indem Er neben Seinem schöpferischen Willen noch eine Selbstbestimmung der geschaffenen Geister zulässt. Etwas ganz anderes dagegen ist es, wenn die Welt die zwar auch kreatürliche, aber immer noch Göttliche Sophia, und der Mensch das «hypostasenhafte Zentrum» der kreatürlichen Sophia, ja «sogar ein erschaffender Gott» sein soll. Nach Bulgakov ist der menschliche Geist (die Seele) nicht natürlichen, sondern göttlichen Ursprungs. Die göttliche Natur dieses Geistes ist «ebenso ewig wie Gott». Er nimmt auch selbst an Seiner Erschaffung teil; das biblische: «Lasst uns schaffen!» [Gen. I,26] (in dem die kirchliche Tradition einen Hinweis auf die Dreifaltigkeit der göttlichen Person erblickt), wird von Bulgakov auch auf das Geschöpf bezogen. Der Schöpfer fragt dieses gewissermaßen, ob es damit einverstanden sei, erschaffen zu werden, und der Geist setzt durch sein zustimmendes «Ja» selbst die Absicht des Schöpfers in die Wirklichkeit um. Vom Standpunkt der Kirche aus ist es schwer zu verstehen, wie der Geist geschaffen wurde, d.h. wie ein erst in einem bestimmten Moment ins Dasein tretendes Wesen noch vor seiner Entstehung sich für etwas entscheiden und seinen Willen kundgeben konnte. Allein Bulgakov rechnet auch in diesem Punkte nicht mit der Meinung der Kirche, die ja die Hypothese von der Präexistenz der Seelen zurückgewiesen hat...

III. Von der Versöhnung.

Das Wesen der Lehre von der Versöhnung lässt sich kurz dahin formulieren, dass unser Herr Jesus Christus, indem Er Sein Leiden auf Sich nahm, damit Gott, dem Vater, einen gewissen Wert einbrachte, der die Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit, die sich aus dem Sündenfall ergaben, überreichlich befriedigte. Er schuf damit ein Äquivalent (um ein Wort Bulgakovs zu gebrauchen) für die Bestrafung der Sünde.

Ist denn aber der Gedanke tatsächlich zulässig, dass sich die Göttliche Gerechtigkeit mit der Sünde als solcher, d.h. mit dem Bösen abfinden kann, wenn Gott bloß einen Gegenwert für dieses erhält? Und ferner: Wenn es sich nur um dies «Äquivalent» handelte, und dieses Äquivalent bezahlt – ja sogar überreichlich bezahlt wurde –, warum gibt es dann überhaupt noch die ewigen Qualen für die unbußfertigen Sünder?

Demnach wird also die göttliche Gerechtigkeit nur dann befriedigt, wenn der Sünder Buße tut, d.h. wenn er aufhört, ein Sünder zu sein. Man kann hiernach die erlösende Kraft des Leidens Christi darin erblicken, dass Er durch dieses Leiden die Sünde aus der menschlichen Natur austrieb und sie damit vor dem göttlichen Zorne bewahrte. Wenn es jedoch auf die Erneuerung der menschlichen Natur ankommt, wieso war hierzu gerade der Kreuzestod Christi erforderlich, da ja der Allmächtige zu diesem Zwecke auch andere, weniger schmachvolle Mittel hätte wählen können?

Die geoffenbarte Lehre erklärt dies durch die historische Situation und die tatsächlichen Verhältnisse, unter denen die Tat der Erlösung vollzogen werden musste. Als der Erlöser in diese Welt eintrat, fand Er hier ein «Reich der Finsternis» vor, ein Reich, das «vom Fürsten dieser Welt». samt seinen Sklaven – den Menschen – regiert wird. Die Erlösung nahm so die konkrete Form einer Befreiung der Menschen «von der Arbeit für den Feind und von der Versklavung an den Feind» an, wobei dieser, nämlich der Feind, natürlich alles nur Mögliche tat, um eine solche Befreiung zu verhindern. Der Schöpfer hätte freilich dieses Reich durch den Hauch Seines Mundes, vernichten können; allein Er hielt an Seiner Selbstentäußerung fest, durch die Er bei der Erschaffung freier Wesen, sich sozusagen selbst zu begrenzen für gut befunden hatte. Er nahm die irdischen Verhältnisse so hin, wie sie sich infolge des Missbrauches der Freiheit durch den Teufel und die Menschen gestaltet hatten. Gerade um sich nicht über den gegebenen Stand des Lebens zu erheben, sondern um sich ihm unterzuordnen, nahm der Herr alles in Kauf. auch die «Knechtsgestalt», und nannte Sich in diesem Erdenleben nicht anders als den «Menschensohn», indem Er so dem Teufel die Freiheit und die Möglichkeit zugestand, gegen Ihn aufzutreten und Ihm entgegenzuwirken. Als nun der Teufel bei der Versuchung nichts erreichte, «suchte er» Ihn durch seine Kinder «zu töten» (Joh. VIII,40-41), ja er brachte es dahin, dass Er den schimpflichen Tod am Kreuze erleiden musste, auf dass Er ein Fluch in den Augen der Menschen würde und der Teufel sein Reich behaupte.

Das Leiden und der Kreuzestod hingen also mit den gegebenen Lebensverhältnissen zusammen, denen sich der Herr, um der Erlösung der Menschen willen, freiwillig unterordnete. Das ist es, was jenes: «Er erniedrigte sich selbst» bedeutet. – Er entäußerte Sich (Phil. II,7) das ist der eigentliche Sinn der Kenosis des Sohnes Gottes.

Wenn man so will, beginnt die hohe Tat des Erlösers schon mit dem ersten Moment Seines Erdenlebens, ja bereits von Ewigkeit her (weswegen der Herr Jesus Christus auch das «Lamm» heißt, «das erschaffen ward seit der Schöpfung der Welt»). Der wichtigste und abschließende Akt dieser hohen Tat war ohne Zweifel der Tod am Kreuz: weil der Mensch Jesus nur dadurch, dass Er den Gehorsam des getreuen Knechtes bis in den Tod übte, das ganze Werk der Gerechtigkeit vollendete, das der Herr den Menschen nach dem Sündenfall auferlegt hatte. So wie alle Menschen durch den Tod (d.h. durch die Trennung der Seele vom Leibe) den Bruch mit dem Irdischen vollziehen und der Verwesung anheimfallen, um mit der Seele der Gerechten das Kommen «eines neuen Himmels und einer neuen Erde» (II. Petr. III,13) mitsamt ihren neuen Lebensverhältnissen zu erwarten, hat sich auch der Mensch Jesus nur durch Seinen leiblichen Tod von der Erdenwelt samt ihrer Herrschaft des Teufels etc. losgelöst. Daher ist auch. der Tod (oder das Blut Christi) im wesentlichen das Lösegeld, durch das uns unsere Befreiung von den Sklavenbanden des Teufels zuteil wurde. Als freiwilliger Tod aber stellt dieser Tod das Versöhnungsopfer des Gottessohnes dar, das Er für die Erlösung der Menschheit brachte.

Bei der Versöhnungstat des Erlösers war Gott nicht etwa nach der Art eines geistigen Oberhaupts aller Kreaturen, noch auch als Oberhaupt der gesamten Menschheit tätig (dem hätte ja auch die «Knechtsgestalt», die Er annahm, nicht entsprochen), so dass die Früchte Seiner Tat sich gleichsam mechanisch oder formal-juristisch auf die ganze Welt und alle Menschen erstreckten. Er wurde ein «neuer» oder ein «zweiter Adam», der Stammvater eines neuen Menschengeschlechtes. Er erkaufte und vergöttlichte damit vor allem Seine eigene «Empfängnis», um hierdurch den Grund zu einem neuen Geschlecht von «Christenmenschen» (I. Kor. XV,3) zu legen. Daher können auch nur jene die Früchte Seiner Tat genießen, die im Geiste zu neuen Menschen wiedergeboren und in allem eins werden mit Christus...

Wenn Bulgakov den Sündenfall nicht als den einzigen Grund für die Menschwerdung des Logos ansieht, wenn die Gründe hierzu sozusagen in den Tiefen der Gottheit selbst liegen sollen, so kann auch die Erlösung des gefallenen Menschen nur eine Art Zugabe zu der Menschwerdung darstellen. Man muss «die Kenosis der Fleischwerdung Gottes», sagt Bulgakov, «in dem ganzen furchtbaren Ernst dieses Aktes nehmen: als das metaphysische Golgatha der Selbstkreuzigung des Logos bei der Verkörperung...» Der Kampf des Guten mit dem Bösen, der von der Lehre der Kirche als Ringen des Erlösers mit der Person des Teufels dargestellt wird, wird von Bulgakov aus der objektiven Sphäre in die Innenwelt des Erlösers selbst verlegt und zu einem Kampfe mit und in Ihm selbst gemacht: etwa zu einem Kampf der mitleidsvollen Liebe, die zur Opfertat aufruft, mit der vollkommensten Heiligkeit, die davor zurückscheut, die Sünde in sich aufzunehmen. Um die psychologische Bedeutung des Kelches von Gethsemane verständlich zu machen, entwirft Bulgakov ein imaginäres Bild des neuen Ratschlusses der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, nach der Art jenes, der bei Erschaffung des Menschen erging. Hierbei spricht Bulgakov absichtlich oder unabsichtlich einen Gedanken aus, der auch in den andern Teilen seines Systems dunkel mitschwingt: Für den Sündenfall sei nicht der Mensch allein, sondern der Schöpfer selbst mitverantwortlich, der den Menschen so und nicht anders erschaffen hätte. «Gott spricht gleichsam aufs neue in der Heiligen Dreifaltigkeit und in dem Ratschluss, der über den Menschen ergeht: Da Wir den Menschen als leicht verführbar in seiner Kreatürlichkeit und als einen nunmehr der Sünde Verfallenen geschaffen haben, so lasset Uns ihn jetzo neu erschaffen, indem Wir es auf Uns nehmen, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Die Gerechtigkeit aber besteht darin, dass der, der für das Sein der Menschen verantwortlich ist, selbst die Folgen Seines Schöpfungsaktes auf Sich nimmt. Zugleich mit dem Sohne Gottes leidet die gesamte Heilige Dreifaltigkeit unter der Last der Sünde: der Vater, der als der gerechte Richter über Seinen Sohn, und in diesem über Sich selbst als Schöpfer der Welt zu Gericht sitzt.» Daraus ergibt sich anscheinend die Schlussfolgerung, dass es für den Menschen, den der Schöpfer in eine solche Lage gebracht hatte, beinahe unmöglich war, nicht zu sündigen. Sagt denn nicht auch Adam: «Das Weib, das Du mir beigesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß» (Gen. III,13). Im Gegensatz hierzu deutet die Kirche diesen Versuch Adams, Gott mitverantwortlich für den Sündenfall zu machen, bereits als Zeichen der Verderbnis des menschlichen Gewissens, die durch die Sünde verursacht wurde. Nach Bulgakov erleidet der Gottmensch um der Versöhnung willen zwei Tode: einen geistigen und einen leiblichen Tod. Da der Göttliche Logos Selbst im Gottmenschen die Stelle des menschlichen Geistes eingenommen hat, ist für Ihn der geistige Tod ein «Gottestod», der gleichsam in einer Art Loslösung des Sohnes von der Heiligen Dreieinigkeit, in Seinem «Verlassensein von Gott» besteht. «Der neue sündlose Adam identifiziert sich selbst dank seiner mitleidsvollen Liebe mit dem alten sündigen Adam. Der geliebte eingeborene Sohn nahm die Sünde auf Sich und mit ihr und in ihr den Zorn Gottes über die Sünde, sowie die Feindschaft Gottes, und Er trennte Sich gleichsam durch sie von dem Vater.» Da dieser "Gottestod" sich in der Nacht von Gethsemane zutrug, als Christus alle Sünden des ganzen Menschengeschlechtes und jedes einzelnen Menschen im besonderen, in Sich durchlitt und durchlebte, die je in der Gegenwart und in der Vergangenheit begangen wurden, wodurch der Gerechtigkeit Gottes genug getan und das Lösegeld für sie (nämlich als «Äquivalent für die Höllenqualen») bezahlt ward, ward so die Versöhnung vollzogen, derart, dass damit Gethsemane völlig in den Vordergrund tritt und Golgatha gänzlich verdunkelt. Golgatha hat damit nur noch die Aufgabe, den leiblichen Tod sich vollziehen zu lassen: den Tod der menschlichen Natur des (entseelten) Gottmenschen, als Ergänzungsakt zu dem geistigen Tode in Gethsemane...

Und doch ist für jeden Dulder die Vorbereitung auf das Leiden, mag es auch von noch so qualvollen Gedanken und Erlebnissen begleitet sein, nicht das gleiche, wie das Leiden selbst. Wir dürfen nicht vergessen, dass in diesem Falle der Dulder – der Menschensohn war und dass Er daher auch nach menschlicher Art leiden musste, da er ja Seinem göttlichen Wesen nach frei von jeglichem Leiden war. Die Hilflosigkeit «des Knechts» gegenüber der triumphierenden Bosheit und der ganze Schrecken dieses ihres Triumphes über die Unschuld stellten sich Jesus Christus natürlich nicht in Gethsemane (d.h. in Gedanken), sondern in Golgatha (d.h. in der Wirklichkeit) in ihrer ganzen Greifbarkeit und Realität dar. Daher erlebte Er auch das «Verlassensein von Gott», d.h. die Tatsache, dass Gott bei dem Triumph des Bösen über die Unschuld nicht eingreift und Halt gebietet – nicht in Gethsemane, sondern gerade in Golgatha, wo Er ausrief: «Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?» Der Ersatz Golgathas durch Gethsemane wird für Bulgakov nur darum möglich, weil es bei ihm der Logos – ja sogar die gesamte Heilige Dreieinigkeit selbst ist, die da leidet, wie sie ja bereits bei der Fleischwerdung des Wortes, ja schon bei der Erschaffung der Welt gelitten hat...

Mit diesen Ausführungen wollen wir die Prüfung des Systems des Professors und Erzpriesters Bulgakov beschließen.

Diese Prüfung hat wohl mit genügender Deutlichkeit ergeben, dass die Lehre Bulgakovs

1.      ihrer Idee und ihrer Absicht nach nicht dieselbe Lehre ist, die von der Kirche vertreten wird, und dass ihr Urheber nicht bereit ist, der kirchlichen Überlieferung Rechnung zu tragen. In einigen Punkten stimmt sie sogar ganz offen mit gewissen Irrlehren überein, die von der Kirche verurteilt wurden.

2.      Trägt das System, seinem Inhalte nach, soviel Eigenartiges und Willkürliches in die grundlegenden Glaubenssätze hinein, dass sie mehr an den (von der Kirche gleichfalls verurteilten) Gnostizismus, als an das Christentum erinnert, obwohl Bulgakov (ganz wie der Gnostizismus) mit den den Christen geläufigen Begriffen und Termini operiert.

3.      Ist diese Lehre wegen der Folgerungen, die sich aus ihr ergeben, noch um so gefährlicher, als sie durch die scheinbare Tiefe ihrer Ideen und durch ihren allgemeinen tiefsinnig-frommen Ton einen starken Reiz ausübt. Indem durch diese Lehre die Möglichkeit nahegelegt wird, die Verantwortung für den Sündenfall auf den Schöpfer abzuschieben, vermindert diese Theorie im Menschen das Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit, d.h. sie erschüttert die Grundlagen des geistlichen Lebens selbst. Indem sie anderseits die Erlösung des Menschen als eine Art göttlichen Weltprozesses hinstellt, der sich in der geschaffenen Natur und im Menschen im besonderen vollzieht, öffnet sie der Verderbnis des Lebens Tor und Tür.

Demgemäß haben wir auf Grund unserer Verordnung vom 24. August 1935, Nr. 93, uns dahin entschieden, dass

                                I.      Die Lehre des Professors und Erzpriesters S.N.Bulgakov, als eine eigenartige und willkürliche (sophianische) Auslegung der orthodox-christlichen Lehren, die die kirchlichen Dogmen häufig entstellt und in einigen Punkten Irrlehren, die von den Konzilen der Kirche offen verurteilt wurden, erneuert, andererseits aber durch ihre praktischen Folgerungen geeignet ist, das geistige Leben zu gefährden – für eine der Heiligen Rechtgläubigen Kirche fremde und fernstehende Lehre zu erklären und alle ihre treuen Diener und Anhänger davor zu warnen, sich von dieser Lehre verführen zu lassen.

                             II.      Alle rechtgläubigen Hochwürdigen Erzpriester, Kleriker und Laien, die so unvorsichtig waren, sich für die Lehre Bulgakovs gewinnen zu lassen und ihm bei der Seelsorge sowie in ihren geschriebenen und gedruckten Werken Gefolgschaft zu leisten, zur Berichtigung ihrer Irrtümer und zur unbeirrbaren Treue gegenüber der «echten Lehre» zu ermahnen.

                           III.      Was den Erzpriester S.N.Bulgakov selbst anbelangt, der außerhalb der rechtgläubigen Kirchengemeinschaft des Moskauer Patriarchats steht, (2) vorläufig kein besonderes auf ihn bezügliches Urteil zu fällen; doch ist für den Fall, dass die Frage der Wiederaufnahme Bulgakovs in diese Gemeinschaft aufs neue gestellt werden sollte, als Bedingung dieser Wiederaufnahme sowie der Erlaubnis zur Ausübung sakramentaler Handlungen ein schriftlicher Widerruf der von ihm gegebenen sophianischen Deutung der Glaubensdogmen und seiner sonstigen dogmatischen Irrlehren sowie ferner ein gleichfalls schriftlich abzugebendes Versprechen der unverbrüchlichen Treue gegenüber der Lehre der Rechtgläubigen Kirche von ihm zu verlangen.

Wovon Eure Heiligkeit durch die vorliegende Verordnung in Kenntnis gesetzt wird.

Den 7. September 1935. M.P. [Moskauer Patriarchat] Nr. 165,1.

Der Stellvertreter des Platzhalters des Patriarchenstuhls: Sergius, M[etropolit] v. Moskau.

Der Geschäftsträger des Moskauer Patriarchats: Erzpriester Alexander Lebedev.

Aus: Orient und Occident. Staat – Gesellschaft – Kirche, Neue Folge, Erstes Heft, März 1936, 1ff.

Anmerkungen von Klaus Bambauer

(1)   Metropolit Sergius sieht in dieser Lehre, die ihn an die des Religionsphilosophen Rozanov erinnert, eine besondere Gefahr.

(2)   Sergius Bulgakov untersteht der vom Moskauer Patriarchat unabhängigen Kirchenleitung des Metropoliten Eulogius in Paris.

 

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