Brüche und Beziehungen
Aussichten für eine zeitgemäße russische Religionsphilosophie

Sergej Choružij

Wolle die Wandlung! (*)

Eine halbes Jahrhundert nach dem Fall der Weimarer Republik und des Dritten Reiches sah die deutsche Philosophie die Wiederentdeckung und Neueinschätzung ihres Erbes als ihre dringende Aufgabe an. Ein wichtiger Teil dieses Erbes war in einem großen Kompendium im Jahre 1949 unter dem Titel "Christliche Philosophie in Deutschland" veröffentlicht worden. Der Titel war einem Wort in einem Text von Max Scheler1), der in dem Buch erschien, entnommen. Mutatis mutandis kann von russischer Philosophie gesagt werden, dass sie heute eine ähnliche Aufgabe hat; und auch hier ist christliches Denken vielleicht der wichtigste Teil dieses Erbes. Indem wir auf russisches Philosophieren als ein Ganzes während seiner Geschichte schauen, sind wir verpflichtet zuzugeben, dass seine Hauptströmungen vorwiegend religiös gewesen sind. Religiöses Denken herrschte während der letzten Jahre der Freiheit vor der kommunistischen Periode vor; aufgezwungener Atheismus während dieser Periode ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aber sobald wir uns zur Gegenwart hinwenden, sind wir genötigt, etwas mehr zuzugeben: diese vorherrschende Form des Denkens hat sich praktisch heute noch nicht entwickelt. Obwohl Widerstände von außerhalb beseitigt und sogar durch ihr Gegenteil bzw. äußerliche Eingebung und Anregung ersetzt wurden, was wir heute erleben ist vor allem das Studium des Alten und nicht die Schaffung des Neuen.

Aber hier sollte eine wichtige Bedingung hinzugefügt werden. Was ich "das Studium der Alten" nenne, ist tatsächlich eine große und besondere Aufgabe. Werke von führenden Autoren der christlichen Philosophie in Russland wie Florenskij2), Berdjaev3), Bulgakov4), Frank5) und anderen werden heute zu den "Klassikern" gerechnet.

Aber der Definition nach sind "klassische Autoren" durch eine Sammlung von Werken in akademischen Ausgaben ausgewiesen, ausgestattet mit der angemessenen archivarischen und textlichen Basis, einen Kommentar eingeschlossen; nur auf diese Weise erreichen sie wirklich die Funktion als "Klassiker" einer bestimmten Kultur. Nun, die hier in Frage kommenden "Klassiker" wurden noch zehn Jahre zuvor in ihrem eigenen Land verboten; ihre Texte waren nicht gesammelt worden und blieben sehr häufig unveröffentlicht; keiner erreichte etwas Ähnliches wie eine akademische Edition. Das Ergebnis ist, dass Philosophie in Russland während dieser letzten postsowjetischen Jahre in einem doppelten Zeitrahmen zu existieren gezwungen war. Es gibt "Die Zeit des Vergangenen Denkens", währenddessen die Wiederentdeckung des klassischen Erbes weitergegangen ist, und "Die Zeit des Gegenwärtigen Denkens", d.h. des Denkens, das in der Mitte der postmodernen intellektuellen und sozialen Situation stattfindet und ihren Problemen gegenübersteht.

Eine doppelte Existenz ist kaum eine Erfolgsgeschichte, aber schließlich hat in "Der Zeit des Vergangenen Denkens" russische Philosophie genügend bewirkt. Neben der Produktion (meist) akademischer Ausgaben der Mehrheit der wichtigen bekannten Texte sind wichtige zuvor unveröffentlichte Werke von Florenskij, Karsavin6), Bulgakov, Losev7), Bachtin8) und anderen erschienen. Texte von interessanten neuen Namen wie Murav’ëv, Meyer, Družkin, Golosovker (+) wurden unter anderen ans Licht gebracht und kritische, briefliche und ähnliche mit den philosophischen Prozessen zusammenhängende Materialien wurden veröffentlicht und studiert.

Trotz der verhängnisvollen Situation im Land geht diese fruchtbare Arbeit weiter mit vielem, das noch zu tun ist (um nur eine Aufgabe zu erwähnen: Die ungewöhnliche kulturübergreifende Episode, verbunden mit der in Stuttgart 1929-31 publizierten russischen philosophischen Zeitschrift "Der Deutsche Gedanke", bleibt völlig unberücksichtigt). Aber mein Hauptthema ist "Die Zeit des Gegenwärtigen Denkens". Bedauerlicherweise ist die obige Einschätzung korrekt: es gibt keine Schaffung des Neuen. Was haben wir damit anzufangen? Mit einer gewissen Logik wird uns dieser Umstand besser helfen, die gegenwärtige philosophische und spirituelle Situation zu verstehen. Gerade so wie ein lebloser Körper für eine Sektion vorbereitet ist, ist eine Periode, in der Philosophie abwesend ist, ein Schlüssel für die Reflexion über eine erledigte Philosophie sine ira et studio. Meine Überlegungen werden mit einer Beschreibung der gegenwärtigen Situation des leblosen Körpers beginnen, dann fortschreiten, die Entstehung und die Ursachen der Situation zeigen und schließlich die Aussichten für die Auferweckung oder Wiederbelebung des Körpers prüfen, d.h. die Wege, Möglichkeiten und realen Chancen für das schöpferische Leben der religiösen Philosophie in Russland.

Den Regeln des philosophischen Diskursstandes jedoch, dem Studium dieser Probleme sollte die genaue Feststellung des Gegenstandes vorangestellt werden. Das Thema oder Phänomen, das wir betrachten, ist, um es zu wiederholen "Christliche Philosophie in Russland" oder wie es üblicherweise genannt wird "Russische religiöse Philosophie". (Die erste Formulierung, Schelers Begriffsbildung folgend, ist etwas genauer). Aber sobald wir versuchen, seine Identität festzulegen, halten wir kurz und verwirrt ein. Das Phänomen gehört zur Geschichte der Philosophie, und so müssen wir an erster Stelle seine historischen Grenzen fixieren; aber dieser Versuch schlägt fehl. Unter verschiedenen Autoren und Darstellungen variiert das anfängliche Datum der Geschichte der russischen Philosophie quer durch einen fantastischen Raum. Einige sehen die Grenze in der Philosophie von Vladimir Solov’ëv; für andere liegt sie im Denken der Slawophilen; während sie für eine dritte Gruppe (und zwar ziemlich viele) gerade innerhalb der Aktivität der slawischen Aufklärer Method und Cyrill liegt, umso mehr da bekannt ist, dass der letztere den Beinamen "der Philosoph" hatte. Das "Russische Philosophie" genannte Problem gehört deutlich nicht in die Tiefen der Vorgeschichte, aber seine Datierungen unterscheiden sich genau um ein Jahrtausend, vom 9. zum 19. Jahrhundert. Die Frage im Blick auf die Anfänge der russischen Philosophie stellt sich als unbeantwortbar heraus, und die Gründung dieser Philosophie als ein bona fide historisch-philosophisches Phänomen ist niemals vollständig erlangt worden. Dies ist ein Faktor, der möglicherweise für das gegenwärtige Schicksal des Phänomens von Bedeutung sein könnte

Wenden wir uns nun diesem Schicksal zu, so könnten wir es in einer sehr lakonischen Formel zusammenfassen: gescheiterte Hoffnungen. Zur gleichen Zeit jedoch ist diese Formel für alle Sphären des postkommunistischen Lebens in Russland gültig; die Aufgabe ist, zu prüfen, wie sie in der Philosophie aktualisiert werden konnte.

Die vorrevolutionäre Periode der russischen Philosophie hatte als Zentrum die berühmte religiös-philosophische Renaissance. Unter allen Gesichtspunkten war sie wirklich eine mächtige philosophische Bewegung. In einer sehr kurzen Zeit erschien eine beträchtliche Zahl prominenter und origineller Denker, deren Namen heute weithin bekannt sind. Eine aktive philosophische Gemeinschaft entstand; eine professionelle philosophische Presse erblühte, die alle Arten von philosophischer und besonders religionsphilosophischer Literatur veröffentlichte. Philosophie war endlich bereit, die Literatur in der Rolle des führenden Zweigs der nationalen Kultur zu ersetzen. Es ist auch bedeutend, dass all diese intensive Entwicklung einen gut umrissenen Kern besaß, eine zentrale Strömung oder Schule, welche sie nicht entlieh, sondern selbst erzeugte. Dieser Kern war die Sophiologie und die Metaphysik der All-Einheit, gründend in der Philosophie Vladimir Solov’ëvs. Es ist unbestreitbar, dass diese philosophische Bewegung ebenso wie ihr religionsphilosophischer Kern zu der Zeit der bolschewistischen Wende nicht im Abstieg waren. Ganz im Gegenteil, sie setzten ihren Aufstieg fort, indem sie mehr und mehr reife Früchte hervorbrachten. Die Hauptwerke der russischen religionsphilosophischen Renaissance begannen in den Jahren gerade vor der Revolution zu erscheinen: "Die Säule und Grundfeste der Wahrheit" von Pavel Florenskij (1914), "Der Gegenstand des Wissens"9) von Semën Frank (1915), "Der Sinn des Schaffens"10) von Nikolaj Berdjaev (1916), "Das abendlose Licht"11) von Sergej Bulgakov (1917) und so weiter. Die religionsphilosophische Renaissance brach jäh ab. Nach der Revolution wurde die Kultur in zwei Teile getrennt, in denen der Verfall verschiedene Formen annahm. In der Diaspora konnten religiöse Denker ihre Arbeit fortsetzen, wenn auch in Abwesenheit eines adäquaten Mediums und irgendeiner Antwort, während in Russland religiöses und bald darauf nicht-marxistisches Denken allgemein verboten war und verfolgt wurde. In solch einer Situation wurden nicht nur schöpferische Arbeit in religiöser Philosophie, sondern auch kulturelle Verbindungen und Beziehung zur Vergangenheit, sogar der unmittelbaren Vergangenheit, unmöglich gemacht und bald zerstört. Die tiefe Kenntnis vom Denken des Silbernen Zeitalters12) und der russischen religionsphilosophischen Tradition ging überraschend schnell verloren (eine charakteristische und gefährliche Eigenschaft der soziopsychologischen Dynamik unter dem Totalitarismus). An seine Stelle traten zufällige Bruchstücke von Information und vage Ideen, stark mit Mythos gewürzt. Allmählich formte sich ein Bild von russischer christlicher Philosophie und besonders von Emigrantendenken als einer Art von verbotenem Land spiritueller Schätze und von Wahrheit: Wahrheit über Gott und den Menschen, Russland und die Revolution, die böse Natur des Bolschewismus und so weiter. Mit anderen Worten, man glaubte, dass diese Philosophie doppelte Kräfte besitze und sowohl philosophische Weisheit als auch Lösungen für die meisten akuten sozialen Probleme liefere. Natürlich gehörte dieses Bild zuerst zu dem nonkonformistischen, dissidenten Bewusstsein; aber es sollte betont werden, dass es in der späten sowjetischen Periode immer weiter verbreitet wurde. Der Glaube an die Macht der russischen christlichen Philosophie war den Dissidenten (solchen wie mir) gemeinsam, die Texte religiöser Denker auch unter den KGB-Männern verbreiteten, die die Dissidenten mit Freiheitsstrafen belegten. Es gab kaum einen Zweifel, dass, sobald Russlands Freiheit wiederhergestellt sei, es in dieser Philosophie die ideale Weltanschauung für seine zukünftige demokratische Gesellschaft finden würde. Und es war gleichermaßen klar, dass diese Philosophie die Basis für eine wiedererstarkte, blühende und schöpferische religionsphilosophische Arbeit war.

Wir wissen, dass diese Hoffnungen scheiterten; aber wie in anderen Sphären des postkommunistischen Lebens wurde das Scheitern bisher nicht angemessen analysiert und verstanden. Meine Bemerkungen zu diesem Eindruck werden vorläufig sein und stellen meine eigene Sicht dar. Da die Hoffnungen von doppelter Gestalt waren, wie ich sagte, haben wir ein doppeltes Scheitern zu erklären. Warum wurde russische christliche Philosophie weder die Grundlage für eine neue philosophische Entwicklung noch eine Quelle wertvoller Ideen für eine post-kommunistische Gesellschaft? Die spätere Entwicklung liegt nicht gänzlich innerhalb meines Themas, aus welchem Grund ich mich im Blick darauf eher kurz fasse.

Der Denken der russischen Intelligentsia war immer heimgesucht von und beschäftigt mit sozialen Aufgaben und Problemen; während des Silbernen Zeitalters blieb das Denken, obwohl weniger engagiert, der traditionellen Hauptbeschäftigung treu. Von den ersten Versuchen zur Annäherung zwischen der Intelligentsia und der Kirche in den Zusammenkünften der St. Petersburger religionsphilosophischen Gesellschaft (1901-1903), durch die stürmischen Diskussionen über die Natur und die Rolle der Intelligentsia, entstanden durch die berühmten "Wegzeichen" [Vechi] (1906-1908), zu den Diskussionen über die Nation und den Krieg in den Jahren 1914-15, und schließlich zu dem kollektiven Verbot der russischen Philosophie hinsichtlich der russischen Revolution in der Essay-Sammlung "De Profundis" (1918) wurde eine riesige Fülle von Ideen und Strategien gesammelt, zu der die Diaspora später einen anderen ansehnlichen Beitrag hinzufügen sollte. Die Schatzkammer umfasste Theorien des Staates und des Gesetzes (Novgorodcev13), Struve14), Ivan Il’in15), Systeme der Sozialphilosophie (Berdjaev, Frank, Karsavin), Überlegungen zur russischen Geschichte, Geistigkeit und Spiritualität (Berdjaev, Rozanov16), Vjačeslav Ivanov17), Fedotov18) und andere), die Analyse von sozio-kulturellen Grund-Gegenüberstellungen wie "Kirche und Kultur", "Staat und Gesellschaft" usw. Aber zum größten Teil wurde diese Schatzkammer als inadäquat für post-kommunistische Realitäten gehalten und blieb aus diesem Grund unangezapft.

Wahrscheinlich kann man sagen, dass die Ideen der russischen Religionsphilosophie sich einfach als zu gut für das post-kommunistische Russland erwiesen. In ihren sozio-kulturellen Aspekten waren diese Ideen grundsätzlich eine gewisse Synthese oder Mischung von orthodoxen und slawophilen Ansichten, solche wie der Begriff der Konziliarität (sobornost’)19) und die organischen Begründungen des sozialen Lebens zusammen mit gewissen Prinzipien des christlichen Humanismus und westlicher Demokratie. Im dem Geist des aufgeklärten Liberalismus, der in Europa vor dem ersten Weltkrieg vorherrschte, versuchte man hier Fortschritt und Tradition, Religion und die Freiheit des Geistes in einer sublimen Harmonie zu versöhnen und zu vereinen, obgleich - besonders in der Kunst - mit düsteren apokalyptischen Vorahnungen einer künftigen Katastrophe verbunden. Aber im gegenwärtigen Russland, das zugleich eine zerfallende Wirtschaft, eine unintegrierte nationale und kulturelle Identität, einen Zusammenbruch der sozialen Übereinstimmung und das Verschwinden ethischer Normen erleidet, sind solche Ansichten unfähig, vernünftige Lösungen voranzubringen. Für ein in der Katastrophe verfangenes Bewusstsein sind Ideen wie diese zu abstrakt und idealisiert, zu optimistisch und utopisch. Weder das System der Ideen noch das System von Werten, die der russischen Religionsphilosophie zugehörig sind, haben irgendeine Chance, heute angenommen zu werden.

Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass man versuchte, verlorenes Charisma aufzubessern, indem man eine neue Ideologie für eigene Zwecke auf der Basis der russischen Religionsphilosophie ausarbeitete. Wettbewerbe wurden organisiert und verschwenderisch belohnt; sehr charakteristisch: führende Gestalten, die teilnahmen, waren hauptsächlich frühere marxistische ideologische Funktionäre, die nicht lange zuvor diese Philosophie kritisiert, ja sogar verfolgt haben. Alle diese Versuche führten zu nichts. Unter Bedingungen von Krisis und Katastrophe haftet das öffentliche Bewusstsein nur an den einfachsten und gewohnten oder extremen Positionen, die unter anderen an erster Stelle Nationalismus und Fundamentalismus, verschmolzen mit traditionalistischer und ritualistischer Frömmigkeit einschließen. Verschiedene Versionen solcher Positionen machen heute die Runde, die sehr oft verstreute Ideen der russischen Religionsphilosophie entleihen. So scheint es die Bestimmung dieses Erbes zu sein, nicht gänzlich zurückgewiesen, sondern vielmehr ideologischer Auswahl und Ausnutzung unterworfen zu werden. Als die populärsten Objekte solcher Ausnutzung könnten die Philosophie von Ivan Il’in und die Lehre der Eurasier genannt werden. Die letztere ist jetzt besonders einflussreich. Dank der geopolitischen Orientierung des Eurasianismus und der starken Obertöne von Fremdenfeindlichkeit und Isolationismus identifiziert die Krise das Bewusstsein leicht mit seinen Reaktionen und Ängsten, und seine verschiedenen Teile und Elemente werden nun von fast alle Oppositionslagern genutzt, von Kommunisten bis zu Faschisten.

Vorsichtiger muss man bei der Betrachtung der Situation innerhalb der Philosophie selbst sein. Während der Sowjetzeit war die Philosophie ein Teil des totalitären Apparates, so dass, obwohl sich eine riesige Kaste offizieller Philosophen entwickelte, schöpferisches Denken nur minimal voranschritt; keiner der Fortschritte hatte natürlich etwas mit der religiösen Sphäre zu tun. So gab es keine neue Stufe in der Entwicklung der religiösen Philosophie in Russland; noch gab es eine wesentliche Kritik der letzten Stufe, der Philosophie des Silbernen Zeitalters.

Warum geschah es, dass diese letzte Stufe, die gewaltsam unterbrochen wurde, nicht fruchtbar in die nach-sowjetische Zeit fortgeführt werden konnte? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, und eine vollständige Antwort muss viele Faktoren in Betracht ziehen: Strukturen des post-kommunistischen Bewusstseins, die allgemeine philosophische Situation der Moderne und Postmoderne und keinesfalls zuletzt die besonderen Formen des philosophischen Diskurses des Silbernen Zeitalters. Ich werde einige wenige grundsätzliche Gründe aufzeigen, die zu dem allgemeinen Schluss hinführen: Das Denken des Silbernen Zeitalters war in seiner Totalität als ein besonderer Typus des Philosophierens zu eng mit seiner Zeit verbunden. Folglich stellte es sich vom Standpunkt einer anderen späteren Epoche als veraltet heraus, mit nur einigen wenigen, unzusammenhängenden Elementen, die als wirksam und aktuell überlebten.

Die Kultur des Silbernen Zeitalters ist ein eigentümliches Phänomen. Die beispiellose Intensität ihres kurzen Lebens, ihre brillanten Visionen und mutigen Durchbrüche in der Literatur und Kunst, ihre Kämpfe um eine weitreichende Synthese, diese sehr verschiedenen und sich bekämpfenden Elemente kombinierend: Alle diese Formen drücken das Gleiche aus, die Wucht ihrer einzigartigen Zeit, der Zeit, die gerade der Katastrophe des kaiserlichen Russlands vorausging. Kulturphilosophen klassifizieren diese Epoche als zum alexandrinischen Typus gehörig, das heißt zu dem Typus, der während einer anderen Zeit vor der Katastrophe geschaffen wurde, und tatsächlich ist die Philosophie des Silbernen Zeitalters leicht als eine unmissverständliche Demonstration der alexandrinischen Typologie zu erkennen. Ihre allgemeinste Gestalt ist der Synkretismus, der überall in den vorherrschenden Ideen, methodologischen Prinzipen, dem Spektrum von einflussreichen Lehren und Doktrinen und in dem eigentlichen Typus des Diskurses gesehen werden kann. In einer neuen Studie versuche ich, den Synkretismus der russischen Sophiologie als das möglicherweise charakteristischste Produkt des Denkens des Silbernen Zeitalters darzustellen. Und nicht nur in der Sophiologie, sondern auch in der russischen Religionsphilosophie als ganzer finden wir einen synkretistischen Typus des Diskurses, worin Philosophie und Theologie vermischt werden mit dem Ergebnis, dass der Diskurs weder philosophischen noch theologischen methodologischen Regeln folgt. Es wurde Standard, westliche metaphysische Postulate mit orthodoxen mystischen Intuitionen zu vermischen, kirchliche Dogmen und Folklore, syllogistische Beweise und erzählendes Gespräch... Durch Stile auferlegte Begrenzungen bedeuteten so wenig wie diejenigen, die der Methode eigen waren. Es ist oft bemerkt worden, dass die Philosophie des Silbernen Zeitalters im Hinblick auf seine literarischen Qualitäten ungewöhnlich hoch steht. Die große Mehrheit seiner Autoren war mit genuin literarischem und stilistischem Talent ausgestattet und "Die Säule und Grundfeste der Wahrheit", "Über die Feste der Götter" oder "Der Sinn des Lebens", gar nicht zu erwähnen die Schriften von Rozanov oder Vjačeslav Ivanov, sind nicht gerade philosophische, aber brillante literarische Werke. Aber diese Brillanz hat unvermeidlich eine entgegengesetzte Seite. In Texten, in denen die Begründung eines philosophischen Gegenstandes frei in eine Predigt oder einen konfessionellen, essayistischen und lyrischen Vortrag übergehen konnte, gab es nur eine kleine Chance, dass die Begründungen des Gegenstandes genau und vollständig sein würden. Als Folge dessen waren die Entwicklungen russischer religiöser Philosophie häufig brillant und reich an Ideen, doch gleichzeitig recht arm in unbestreitbaren Leistungen und fest begründeten Ergebnissen. Der Synkretismus war begleitet von einer überhitzten Atmosphäre intellektueller Verzückung, von schwachen, auf willkürlichen Hypothesen und zweifelhafter Logik aufgebauten Konstruktionen. Alle diese Formen, zusammen genommen, erzeugten eine typologische Nähe zum gnostischen Diskurs, dem auffallendsten Merkmal des alexandrinischen Synkretismus. Mit solch einer Typologie scheiterte das Denken im Silbernen Zeitalter damit, seine eigenen Begründungen zu durchdenken, das heißt, seine "Archäologie": Der gnostische Diskurs nimmt eifrig eine eschatologische Perspektive an und vernachlässigt die archäologische. Er scheiterte [dabei], irgendeine Vorstellung seiner historisch-philosophischen Situation und seines Zustandes zu erzeugen und brachte die Selbstbestimmung in Hinsicht auf die hauptsächlichen philosophischen Traditionen und Typen nicht voran. Als Ergebnis brachte es sich wegen des globalen Zusammenhangs des philosophischen Denkens per se nicht aus seinen besonderen Bedingungen heraus zum Ausdruck; deshalb bleibt in diesem Zusammenhang eine Art vagen, diffusen, nicht identizierten philosophischen Gegenstands.20)

Alle erwähnten Eigenheiten trugen dazu bei, dass sich die Philosophie des Silbernen Zeitalters, ungeachtet ihres Reichtums und schöpferischen Potentials, als ein "veraltetes" Phänomen erwies, das durch seinen besonderen Zeitrahmen gebunden ist. Als Ganzes in seiner philosophischen Bedeutung genommen, versäumte es, die Grenzen seiner "alexandrinischen" Epoche zu überschreiten. Im besonderen versäumte es, eine solide Grundlage für die nächste Stufe des russischen Denkens zu werden, die sich in dem nach-alexandrinischen Niedergang entwickeln musste. Aber zur gleichen Zeit bleibt es und wird es, wie sein großer Prototyp, eine unerschöpfliche Quelle von fesselnden Ideen, bezaubernden Geschichten und Persönlichkeiten bleiben, die die Phantasie nähren, ebenso wie natürlich die wissenschaftliche Forschung – in künftigen Zeiten.

Ganz ähnliche Kritikpunkte der russischen religiösen Philosophie sind schon in den letzten Jahren vorgetragen worden. Tatsächlich wurden schon früh im Jahre 1992 die Hauptpunkte der obigen Kritik in einem Papier zusammengefasst, das ich bei der Konferenz " Die Erneuerung des russischen spirituellen Lebens" in Hanover, USA, vorstellte. Obwohl unveröffentlicht, wurde der Vortrag nichtsdestoweniger zitiert. Bei seiner Diskussion bemerkt der Herausgeber des Bandes "Russisches Denken nach dem Kommunismus", dass "Choružijs pessimistische Einschätzung nicht allgemein geteilt wurde". Tatsächlich stimmen heute die meisten Gesichtspunkte mit meinen nicht überein, nicht einfach weil sie pessimistisch, sondern weil sie nihilistisch sind. Die Unstimmigkeit betrifft jedoch nicht die Einschätzung der Situation; sie ist heute in offensichtlichen Tatsachen verwurzelt und kann wirklich als "allgemein geteilt" bezeichnet werden. Der Unterschied betrifft den nächsten und wichtigeren Schritt: Welche Folgerungen sollen wir aus unserer Kritik ziehen? Welche Richtung und welche Aussichten sollen wir der Philosophie in Russland auf der Grundlage der beschriebenen Situation zuschreiben? In den meisten Diskussionen – zum Beispiel bei Evgenij Barabanov oder Boris Groys – beide im Westen gut bekannt, sind Schlüsse definitiv und vollkommen negativ.21) Der Weg der russischen religiösen Philosophie wird als eine Sackgasse dargestellt, und alle Möglichkeiten einer Fortführung werden von der Verbindung mit der einen oder anderen Schule des gegenwärtigen westlichen Denkens abhängig gemacht. Im besonderen sind Barabanov22) und Groys23) für die Psychoanalyse. Ungeachtet dieser besonderen Sympathie halte ich diese Logik für oberflächlich und tief unphilosophisch. Sicherlich ist es nicht falsch, sich an dem einen oder anderen gegenwärtigen Trend zu beteiligen; aber Empfehlungen dieser Art haben nichts zu tun mit unserem Problem, das die Strukturen und Paradigmen des philosophischen Prozesses betrifft. Das Schicksal eines spirituellen Phänomens oder fast jedes Phänomens kann ohne die Hinwendung zu seinem Wesen und seiner Entelechie oder, in einem anderen Sprachgebrauch, zu seiner Begründung, nicht richtig verstanden werden. Es wurde oben bemerkt, dass die russische religiöse Philosophie selbst diese Wendung bisher nicht vollzogen hat. Dies bedeutet, dass, wenn sie nicht diese Aufgabe erfüllt, die Frage über ihre Aussichten nicht beantwortet werden kann. Und es muss beachtet werden, dass diese Erfüllung zusammenfällt mit dem allgemeinen Paradigma, das die Natur und die Bestimmung des Geistes, des nous, ausdrückt: Die Rückkehr zu seiner eigenen Quelle, retour à soi, epistrophé. In Erinnerung daran, dass die russische christliche Philosophie in ihrem aktiven Leben nicht in der Lage war, sich vollkommen mit ihren eigenen Quellen zu identifizieren, konnte man wohl erwarten, dass sie dann ziemlich weit davon entfernt war und sie deshalb bei ihrer Rückkehr zu ihnen tiefen Veränderungen unterworfen sein würde. In Hinsicht auf die gegenwärtige passive Periode als eines gewissen Nicht- oder Halbseins kann die Rückkehr als eine erneuernde Transformation betrachtet werden, als die Wandlung, die den Tod durchschreitet in Übereinstimmung mit dem klassischen Motto Goethes: Stirb und werde! (#)

Dieser Weg der Rückkehr kann schon jetzt ganz konkret charakterisiert werden. Die Diskussion der wahren Quellen und deshalb des wahren Kontextes des russischen religiösen Denkens ist schon in die Wege geleitet worden, und die Rückkehr zu den Quellen ist als Angelegenheit einer innerer Notwendigkeit für dieses Denken dargelegt worden; wie wir wissen, war dies Vater Georgij Florovskijs Programm der neopatristischen Synthese.24) Florovskij identifizierte die Quellen als Inhalt des Werks der östlichen Kirchenväter und entwickelte die Idee der Rückkehr zu diesen Quellen im Bereich der Theologie. Ich vertrete den gleichen Standpunkt, ergänze und kläre in meinen jüngsten Texten den Begriff der Quelle und analysiere die Idee der Rückkehr in ihren philosophischen Implikationen. Diese Implikationen erweisen sich als vielfarbig und tiefreichend. Ich werde kurz drei Hauptpunkte beschreiben, die zu diesem weiten Feld gehören.

Zunächst charakterisieren eine neue Situation und eine neue Perspektive das historisch-philosophische Problem. Florovskij ergänzend, hat die moderne orthodoxe Theologie fest etabliert, dass östliches christliches Denken der Inbegriff der Synthese des patristischen und asketischen Diskurses oder empirischen Denkens ist, permanent verknüpft mit der Praxis der Gottesgemeinschaft, in der geläuterten, gründlich ausgearbeiteten Gestalt, die dieser Praxis von der orthodoxen asketischen Tradition, dem Hesychasmus, gegeben wurde. Diese Synthese ist ein spezifischer Typus und eine Schule des Denkens, das heißt: östlicher christlicher Diskurs, der seine Grundlage in dem Werk von Maximos der Bekenner im 7. Jahrhundert hat und seitdem eine reiche und komplizierte Geschichte gehabt hat. Deshalb ist es die Anfangsaufgabe, den Typus und die Struktur dieses Diskurses zu verstehen. Die Struktur erweist sich als dychotomisch, weil es hier zwei unterschiedliche Paradigmen gibt, die beide von grundsätzlicher Wichtigkeit für orthodoxes Denken sind. Das erste, das Paradigma der Vergöttlichung (theosis), wird meist in der asketischen Tradition, im Hesychasmus dargestellt; es ist das leitende Prinzip und Typus des Denkens, das in und um sich die spezifischen Hauptelemente der orthodoxen Spiritualität konzentriert. Das zweite, das Paradigma der Sakralisierung, war zu einem hohen Grad von der römischen Religion ererbt worden und traditionell vorherrschend im orthodoxen Verhalten zum Staat und zur weltlichen Autorität (dem Kaiserkult) ebenso wie in der liturgischen Sphäre (sakraler Symbolismus). Die Dyade "Vergöttlichung – Sakralisierung" ähnelt sehr der gut bekannten Gegenüberstellung "Historisches Bewusstsein – kosmisches Bewusstsein", und die gesamte Geschichte des östlichen christlichen Diskurses kann als die Entwicklung der sich ändernden Beziehung zwischen den in Wettbewerb tretenden Paradigmen gesehen werden. Das führende, auf der Grundlage der asketischen Praxis geformte Paradigma ist verantwortlich für die Hauptkennzeichen des Diskurses, seine direkte Beziehung zur spirituellen Erfahrung. Dann entstand als ein Ergebnis der theologischen Reflexion über diese Erfahrung ein anderes Hauptkennzeichen: Die Gott-Mensch-Beziehung – nach dem Kirchendogma, das im 14. Jahrhundert eingeführt worden war –, die durch Vergöttlichung erreicht werden soll, ist die Einheit der göttlichen und menschlichen Energien. Dank dieses Dogmas wird Energie die zentrale und beherrschende Kategorie des Diskurses; tatsächlich kann letztere als Diskurs der Energie charakterisiert werden. Die Hauptkennzeichen wiederum implizieren viele andere, zum Beispiel in der Erkenntnistheorie, in der Behandlung der grundsätzlichen philosophischen Kategorien und so weiter.

Der Begriff des östlichen christlichen Diskurses ist der Schlüssel zu all den historisch-philosophischen Entwürfen. Wenn man diesen Diskurs in Rechnung stellt, erscheinen Probleme hinsichtlich des Ursprungs und Charakters der russischen Philosophie in einem neuen Licht. Früher ereignete sich die Diskussion dieser Probleme vor dem Hintergrund einer doppelten Gegnerschaft: Russlands gegen den Westen, des authentischen Russen gegen den Zugewanderten und so weiter. Aber jetzt sollte die Analyse eine neue strukturelle Stufe einschließen. Der östliche christliche Diskurs tritt als die dritte Stufe hervor, indem sie die Beziehung "Russland gegen den Westen" vermittelt, und aus diesem Grund gehen beide, die Situation und unsere Analyse, über die Ebene der doppelten Gegnerschaft hinaus. Was hier zugrunde liegt, ist nicht nur die Erscheinung einer anderen strukturellen Stufe; noch wichtiger ist die Tatsache, dass die Beziehung zwischen östlichem und westlichem christlichen Diskurs niemals als eine doppelte Gegnerschaft dargestellt werden kann. Diese Beziehung gründet sich auf gemeinsam geteilten schriftlichen und patristischen Ursprüngen und ist in eine große Verschiedenheit von konkreten Themenfeldern gegliedert, innerhalb derer sie nicht bloß eine Gegnerschaft, sondern auch einen tiefen und wesentlichen Dialog darstellt; sogar wenn der Ton dieses Dialoges manchmal völlig nach Konfrontation klingt.

Dieser alte und endlose Dialog alleine liefert den passenden Kontext oder "die Welt" – die Welt der Phänomenologie – für die korrekte Begründung des Phänomens der russischen Philosophie. Eine komplizierte Analyse der sich entwickelnden Beziehungen zwischen den drei strukturellen Ebenen einschließend, ist es eine komplexe Begründung, von der nur die Hauptlinien hier erwähnt werden können. Natürlich erkannte das russische Bewusstsein im östlichen christlichen Diskurs seine beiden Basisparadigmen; aber das erste, das Theosis-Paradigma, kam in einer unvollkommenen und reduzierten Gestalt nach Russland. Die Inhalte, die auf dieses Paradigma bezogen waren, bestanden hauptsächlich in der hesychastischen Praxis und ihrem theologischen Gegenstück, der byzantinischen (palamitischen) Theologie der Energien.25) Die letztere mit all ihrer reichen intellektuellen Programmausstattung blieb praktisch in Russland unbekannt, und als Folge davon wurde die Leitlinie der orthodoxen Denkungsart auf die Sphäre der monastischen und der volkstümlichen Spiritualität beschränkt, die die russische Kultur nur indirekt beeinflussten. Daraus folgte wiederum, dass das russische Denken keine andere Quelle für die Sprache der Kultur und des theoretischen Denkens hatte als die westliche intellektuelle Tradition. Da andererseits das Sakralisierungsparadigma sich in einem gemischten essentialistisch-energetischen Typus des Diskurses, der im Neuplatonismus gründete, ausdrückte, war es dem westlichen philosophischen Diskurs näher, der vorwiegend auf essentialistischen Kategorien basierte. Zusammen genommen, begründen diese Faktoren eine Grundgestalt der russischen Philosophie: Sie entstand als eine Synthese von östlichem christlichem Diskurs und dem westlichen begrifflichen Rahmen; sie nahm vom östlichen christlichen Diskurs nur diejenigen Inhalte auf, die dem Sakralisierungsparadigma mit seiner neuplatonischen Ontologie verwandt sind. In typischen Werken der religionsphilosophischen Renaissance, das heißt in der Sophiologie und der Metaphysik der All-Einheit, zeigt sich diese Gestalt deutlich. Jedoch die Abwesenheit des Hauptparadigmas des östlichen christlichen Diskurses bildet das Ende dieser Entwicklungslinie. Ein neuer Anfang ist notwendig, und er kann nur in der Rückkehr zu den erfahrungsmäßigen Quellen des Diskurses gefunden werden, wo die besondere philosophische Sprache, die dem Diskurs der Energie korrespondiert, entdeckt werden sollte. So kommt die Rückkehr zu den Quellen, den Tod überwindend – Stirb und werde! – dahin, mit einem neuen und konkreten Sinn erfüllt zu werden.

Die nächste Betrachtung ergibt sich, wenn wir bemerken, dass die machtvolle Gegenwart des asketischen Bestandteils des östlichen christlichen Diskurses die Basisrolle der Erfahrung, die erfahrungsmäßige Natur der korrespondierenden Philosophie einschließt. Es ist gleichermaßen wichtig, dass Erfahrung in der hesychastischen Askese sorgfältig strukturiert und gemäß einer gewissen gut entwickelten Methode reflektiv geprüft wird. Mystisch-asketische Erfahrung ist als ein dynamischer Vorgang organisiert, worin der asketische Geist eine bestimmte Richtung, charakterisiert durch den Begriff der Vergöttlichung, aktualisiert. Diese Gestaltungen des Diskurses erzeugen eine weitreichende Ähnlichkeit mit der Analyse der Intentionalität auf der Seite der Phänomenologie. Es gibt dennoch tiefe Unterschiede zwischen der Intentionalität der Phänomenologie und den Strukturen des asketischen Geistes, die aus der spezifischen Natur der mystischen Erfahrung entstehen. Trotzdem wird es kritisch, die phänomenologischen Aspekte des östlichen christlichen Diskurses zu zeigen und zu studieren. Es ist ein philosophisches Thema, das neue Wege des Dialoges zwischen östlichem und westlichem Denken eröffnet. Ich habe eine vorläufige Analyse dieses Themas in meinem Buch "Die Phänomenologie der Askese" versucht.

Schließlich kommt ein ganzes Netz neuer Probleme zum Vorschein, wenn wir näher auf den Begriff der Energie schauen, welcher zentral für die mystische und asketische Erfahrung der östlichen Christenheit ist. Es zeigt sich, dass sich dieser Begriff von dem üblichen aristotelischen Begriff, dem einzigen, der der Philosophie bisher bekannt ist, unterscheidet. Das andere Merkmal dieser nicht-aristotelischen Energie ist, frei gesprochen, seine viel größere Freiheit und Autonomie in Hinsicht auf das Wesen und die Entelechie. Aus diesem Grund kann der Begriff einer offenen oder sogar faktischen Realität gleichkommen. Die energetische Ausrichtung und der charakteristische ursprüngliche Begriff der Energie schaffen verheißungsvolle Aussichten für den östlichen christlichen Diskurs in der modernen intellektuellen Situation. Energetisches oder auf Energie basierendes Denken sind das Thema unserer Zeit, das unabhängig voneinander in allen Hauptbereichenen der gegenwärtigen Erkenntnis auftritt. In der Physik steht es zentral für die Synergetik und relative Quantentheorie; in der Psychologie wirkt es in der energetischen Natur solcher Basisbegriffe wie Wunsch, Drang, Wille ebenso wie im stets wachsenden Interesse an spirituellen Praktiken und ganzheitlichen Techniken. In der Philosophie steht es an der Spitze beim späten Heidegger, dessen Werk in seiner Ganzheit am besten charakterisiert werden kann als eine "sui generis-Meditation" über Energie. Östlicher christlicher Diskurs kann einen substantiellen Beitrag zu diesem Thema leisten, wie es schon durch die Situation in der Theologie veranschaulicht wurde.26) Die lange vernachlässigte orthodoxe (palamitische) Lehre über die göttlichen Energien ist in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt worden und wird aktiv in der orthodoxen Theologie studiert. Die anfängliche Reaktion auf der Seite gewisser katholischer Theologen im Westen war feindliche Kritik. Jedoch hat sich die Situation in den letzten Jahren drastisch geändert. Das Thema ist jetzt von tiefem Interesse für die christliche dogmatische Lehre als ganze, wie durch eine wachsende Zahl von Studien bezeugt wird, die protestantische Theologie neben orthodoxen und katholischen Forschungen eingeschlossen. Die orthodoxe Lehre von den Energien wurde eine Art von Topos, der Treffpunkt der schöpferischen Entwicklung aller konfessionellen Zweige christlichen Denkens.

Hier kommt ein anderer und weiterer Aspekt des Themas ans Licht. Die dialogische Begegnung in Hinsicht auf die Erforschung wichtiger theologisch-philosophischer Grundprobleme bezeichnet eine Art von Wiedervereinigung des europäischen Geistes; und Wiedervereinigung wurde traditionell von westlich-orientierten Schriftstellern vorgeschlagen, einschließlich neuerdings von Barabanov und Groys. Fortan jedoch wird Wiedervereinigung im Licht eines sehr unterschiedlichen Modells gesehen. Was die westlich Orientierten vorschlagen, hat logischerweise der passiven Akzeptanz oder der Absorption durch den westlichen Diskurs korrespondiert: eine Annäherung, die "Anschluss-Modell" genannt werden kann. Indem wir wesentliche Gründe beiseite lassen, kann man nicht umhin zu bemerken, dass dieses Modell einige unerwünschte soziale psychologische Nebentöne hat. Wie irgendeine Anschluss-Aussicht ruft es eine defensive Reaktion hervor und nährt die Mentalität einer belagerten Festung, ein gefährliches Phänomen, das in Russland schon allzu offensichtlich ist. Der Dialog, den ich beschrieben habe, korrespondiert einem völlig anderen Modell, in dem der europäische Geist den östlichen christlichen Diskurs als einen lang verlorenen, aber wesentlichen Teil seiner eigenen Geschichte und seiner Ganzheit reintegriert. Dieses Modell ergänzt das dialogische Paradigma und das Prinzip von Verantwortung für den Anderen, d.h. das Grundprinzip von Levinas’ Ethik, dem letzten Wort des europäischen ethischen Denkens.

Zusammengefasst können wir reale Möglichkeiten für die Umgestaltung der russischen religiösen Philosophie sehen. Die Vorwegnahme von tiefen Veränderungen, die mit dieser Umgestaltung verknüpft sind, ist gewiss gut begründet. Sollten diese Möglichkeiten verwirklicht werden, wird sich die eigentliche Natur dieser Philosophie ändern. Ich meine nicht ihre "Russifizierung": Diese der Philosophie fremde ethnische Charakterisierung sollte nicht mit ihrer gegenwärtigen Form verbunden werden, aus welchem Grund ich absichtlich mit der Scheler-ähnlichen Formel "Christliche Philosophie in Russland" begann. Die wirkliche Veränderung sollte in ihrem religiösen Aspekt geschehen. Sobald die religiöse Philosophie ihre eigene strenge Methode erwirbt, die auf Erfahrung basiert, oder sobald sie aktiven Anteil an dem vielseitigen, interdisziplinären Dialog, die Energie betreffend, Anteil nimmt, wird gerade der Begriff der religiösen Philosophie umgestaltet und bekommt neue Sinninhalte. Er korrespondiert nicht länger seinem alten Bild als einer Art von willkürlichem und diffusem Genre, das an den Rändern oder sogar außerhalb des authentischen philosophischen Diskurses existiert. Statt dessen wird er einen neuen Platz innerhalb der Philosophie einnehmen als ein Denken, das von einer ausgedehnten anthropologischen und ontologischen Perspektive ausgeht und sich auf seine eigene Erfahrung und Methode beruft, um eine genuin philosophische Konzeption dieser Perspektive zu erreichen.

Jedoch ist meine Beschreibung der Möglichkeiten in keiner Weise eine optimistische Voraussage der "glänzenden Zukunft" einer anderen russischen Utopie. Denn damit diese Möglichkeiten verwirklicht werden, sind verschiedene besondere und schwierige Voraussetzungen notwendig, die nicht durch rationale Programmierung zu erlangen sind. Sie hängen von uns ab, aber sie schließen auch etwas ein, das nicht innerhalb unseres Willens und unserer Macht liegt. Die Orthodoxie hält das Wort "Synergie" für diese Bedingungen bereit, während im griechischen und westlichen Diskurs wahrscheinlich "Kairos" der korrespondierende Begriff ist. Diese Bedingungen vorauszusagen ist von keinem Nutzen. Man kann nur auf ihre Anwesenheit hoffen: "Parousia".

Anmerkungen

Prof. Sergej Choružij, Moskau: "Breaks and Links. Prospects for Russian Religion Philosophy today", Vortrag zum 40jährigen Bestehen des Osteuropa-Instituts der Universität Fribourg/Schweiz (1999), aus dem Englischen übersetzt und mit zusätzlichen Anmerkungen in [...] versehen von Klaus und Gertraude Bambauer.

1) [Max Scheler (1874-1928), deutscher Philosoph. Vgl. Metzler-Philosophenlexikon, Stuttgart 1995, S. 784-86].

2) [Pavel Florenskij (1882-1943), russischer Priester und Philosophieprofessor].

3) [Nikolaj Berdjaev (1874-1948), russischer Denker und Religionsphilosoph. Vgl. Wilhelm Goerdt, Russische Philosophie-Grundlagen, Freiburg 1995, S. 622-641, zit. Goerdt, Russische Philosophie].

4) [Sergej Bulgakov (1871-1944), Erzpriester und Theologieprofessor. Vgl. Helmut Dahm, Grundzüge russischen Denkens, München 1979, S. 283ff. zit. Dahm].

5) [Semën Frank (1877-1950), vgl. Goerdt, Russische Philosophie, S. 641-664].

6) [Lev Karsavin (1882-1952), russischer Philosoph].

7) [Aleksej F. Losev (1893-1988), russischer Philologe und Philosoph. Vgl. A.F.Losev, Die christliche Trinitätslehre im Übergang von der Antike zum Mittelalter, in: Stimme der Orthodoxie, November 1990, S. 34-46. Vgl. auch. Alexander Haardt, Husserl in Russland. Phänomenologie der Sprache und Kunst bei Gustav Špet und Aleksej Losev, München 1993].

8) [Michail Bachtin (1895-1975), russischer Philosoph].

9) [S.Frank, Der Gegenstand des Wissens. Grundlagen und Grenzen der begrifflichen Erkenntnis. Gesamtausgabe Bd. 1, Freiburg 2000].

10) [N.Berdjaev, Der Sinn des Schaffens, Tübingen 1927].

11) [Sergej Bulgakov, Das abendlose Licht, Sergiew Possad 1917].

12) [Fairy von Lilienfeld, Schätze aus dem "Silbernen Zeitalter" der russischen Kultur, in: Stimme der Orthodoxie, Heft November 1990, S. 26-33].

13) [Vgl. Goerdt, Russische Philosophie, S. 665-686].

14) [Petr Struve (1870-1944].

15) [Ivan Il’in (1883-1954, russischer Philosoph].

16) [Vasilij Rozanov (1856-1919), vgl. Dahm 161-201].

17) [Vjačeslav Ivanov (1866-1949), russ. Schriftsteller].

18) [G.P.Fedotov (1886-1951), russ. Kirchenhistoriker u. Prof. am Institut Saint Serge, Paris].

19) [Vgl. zum Gedanken der Sobornost' die zusammengefassten Aussagen bei: Goerdt, Russische Philosophie S. 659-664].

20) [In ähnlicher Blickrichtung formuliert E.Barabanov in: Der ‚Erste philosophische Brief’ von P.J.Čaadaev und die Wege der russische religiösen Philosophie, in: Russische religiöse Philosophie, Rottenburg 1992, zit. Russische religiöse Philosophie: „Vom Standpunkt der strengen Orthodoxie war eine solche Verknüpfung [wie z.B. des archaischen magischen Bewusstseins und des theurgischen Aktes bei den Symbolisten wie Florenskij] der Elemente der deutschen idealistischen Philosophie, der Romantik und der christlichen Glaubenslehren freilich immer dubios, etwas in der Art einer ‚Pseudo-Gnosis’... Nicht weniger fatal war die Verflechtung von Philosophie und Religion auch für das Schicksal des russischen kulturellen Selbstbewusstseins“ (S. 119).

21) [Vgl. dazu das Zitat von Eberhard Müller, Fragen zur Rezeption, mit Bezugnahme auf Äußerungen Choružijs gegen E.Barabanov, in: Russische religiöse Philosophie: "Vermutlich gegen E.Barabanov formulierte Choružij, die Kennzeichnung der russischen religiösen Philosophie als mittelalterlicher Denktypus werde oft mit einer Wertung verbunden, derzufolge es sich um eine archaische, beschränkte Imitation von Philosophie, um eine provinzielle, abartige Sackgasse handele. Dem sei entgegenzuhalten, dass sich das Verhältnis von Religion und Philosophie keineswegs darin erschöpfe, dass letztere entweder Magd der Theologie oder von ihr völlig getrennt sein muss. Im Gegenteil, hier eben beginnt erst die Analyse: man muss sorgfältig untersuchen, welcher Art denn die religiösen Bindungen des russischen Denkens sind – und eine solche Untersuchung zeigt bekanntermaßen keinen rein mittelalterlichen Typus. In unsrem Modell ist die Art der Bindung, die die Tradition allmählich geformt hat, definiert als ‚Akzeptanz der Orthodoxie als phänomenale Basis für das Philosophieren’" (S. 31f.)].

22) [Vgl. dazu auch. E.Barabanov, Der ‚Erste philosophische Brief’ von P.J.Čaadaev und die Wege der russischen religiösen Philosophie, in: Russische religiöse Philosophie S. 103-120].

23) [Boris Groys (*1947 in Ost-Berlin), 1965-71 Studium der Philosophie und Mathematik in Leningrad, 1971-76 wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen wissenschaftlichen Instituten in Leningrad, 1976-81 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Moskau, 1981 Ausreise aus der UdSSR, 1988 Gastprofessor in Pennsylvania, Philadelphia, 1992 Promotion in Philosophie an der Universität Münster, seit 1994 Professor für Philosophie und Medientheorie an der Hochschule f. Gestaltung, Karlsruhe].

24) [Vgl. Georgij V.Florovskij, Sobornost – Kirche, Bibel, Tradition, München 1989. zit. Florovskij, Sobornost, sowie: Paul Evdokimov, Christus im russischen Denken, Trier 1977, Kapitel "Georgij Florowskij (1893-1979), S. 232-236].

25) [Florovskij, Der hl. Gregorios Palamas und die patristische Tradition, in: Florovskij, Sobornost, S. 131-149, sowie außerdem: Gerhard Richter, Gnade als Topos der Theologie des Gregorios Palamas, in: Festschrift f. Fairy von Lilienfeld, "Unser ganzes Leben Christus unserm Gott überantworten", hg. von P.Hauptmann, Göttingen 1982, S. 245-262].

26) [Vgl. dazu aus der Sicht der russischen Theologie (sowohl Patristik als auch 19. Jahrhundert): Heinrich Michael Knechten, Rechtfertigung und Synergie bei Theophan dem Klausner, Waltrop 1998].

Anmerkungen von Heinrich Michael Knechten:

(*) Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, 12, Leipzig 1923; Die Gedichte, Frankfurt am Main 142003, 702.

(+) V.N.Murav'ëv (1885-1932), Mathematiker und Philosoph. Er philosophiert über die Frage der Zeit, ihre Unumkehrbarkeit und ihren einseitig gerichteten Verlauf (odnonaprávlennost'). A.A.Mejer (1875-1939), Religionsphilosoph und Publizist. "Religion und Kultur" (1909). J.Ė.Golosovker (1890-1967), Philosoph, Philologe und Übersetzer. Ausgehend von der Analyse altgriechischer Mythologie, arbeitet er über den Begriff des "imaginativen Absoluten" und seine Verkörperung in Symbolen der Religion, Philosophie und Kunst. "Logik des Mythos" (1987).

(#) J.W. von Goethe, Westöstlicher Divan, 1819, Buch des Sängers, "Selige Sehnsucht", Schlussstrophe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 2, München 1998, 19:
"Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde."
(Vgl. „Wenn das Weizenkorn nicht stirbt...“: Joh 12,24).

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