Das Experiment

 

In den Jahren 1964 bis 1966 hatte ich mir ein kleines Labor aufgebaut. Vom Kosmosverlag gab es den Experimentierkasten „Die Anatomie der Phanerogamen“. Wenn ich darüber erzählte, las ich auf den Gesichtern breites Unverständnis. Da erklärte ich: „Das Gegenteil sind die Kryptogamen; sie heiraten im Verborgenen.“ Nun brauchte ich gar nichts mehr zu sagen; alles erstickte im Gelächter.

Nun, bei Kryptogamen, zu denen Algen, Moose, Flechten, Bärlapp- und Farnpflanzen sowie Pilze zählen, sind die Vermehrungsanlagen nicht gleich sichtbar wie bei den Blütenpflanzen. Diese Phanerogamen vermehren sich mit Samen, die Kryptogamen mit Sporen.

In meinem Experimentierkasten gab es Pflanzenteile, die ich in Paraffin eingoß, mit dem Mikrotom in hauchdünne Scheiben schnitt, das Paraffin mit Xylol herauslöste, mit Formaldehyd konservierte und dann mit Eisenvitriol färbte, um die Zellstruktur und vor allem den Zellkern unter dem Mikroskop deutlich erkennen zu können.

Außerdem hatte ich einen Kosmos-Experimentierkasten für Chemie. Am liebsten habe ich in einem kleinen Metallhütchen Magnesium, Eisenfeilspäne und Kaliumpermanganat über dem Bunsenbrenner erhitzt; dann sprühten Funken wie bei einer Wunderkerze.

Zu anderen Zeiten beschäftigte ich mich mit Sprachen, außer den Schulsprachen Lateinisch, Griechisch, Englisch und Niederländisch, auch mit Französisch, Hebräisch, Italienisch, Russisch und Spanisch.

 

Eines Tages machte ich ein Experiment. Ich nahm eine zeitlang biologische Untersuchungen vor. Danach ging ich zum Schreibtisch und widmete mich dem Erlernen der spanischen Sprache.

Ich wollte herausfinden, wo ich mehr Glück, Erfüllung und Zufriedenheit empfände.

 

Das Experiment fiel eindeutig zugunsten der Sprache aus und ich beschloß, mein ferneres Leben den Geisteswissenschaften zu widmen.

Um ehrlich zu sein, für die wenig zusammenhängenden Einzelheiten der Naturwissenschaften fehlte mir auch das photographische Gedächtnis.

 

Ich habe meine Entscheidung nie bereut.

 

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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