Zum Problem der Ethik

 

Heinrich Michael Knechten

 

 

"Immoralisten" rufen zu Besserem, Höherem auf. Sie vertreten also durchaus eine Moral. Sie protestieren lediglich gegen das Bestehende (vgl. Nietzsches "Umwerthung aller Werthe").

 

Die Argumente der Positivisten gegen eine absolute Idee der Pflicht treffen ins Leere, da sie das Sittengesetz zum Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis machen. Sie verlegen es damit in die Welt der Erfahrung, in welcher alles relativ ist.

 

Sittlichkeit ist die Verwirklichung des geistlichen "Ich" (duchovnoe "Ja" *), die Entfaltung der Persönlichkeit. Für die zwischenmenschlichen Beziehungen bedeutet dies, die geistliche Natur jedes Menschen zu respektieren und zu ihrem Recht kommen zu lassen. Es gilt, gemeinsam eine geistliche Kultur zu entwickeln.

 

Eine Fehlinterpretation Berdjaevs wäre es daher, aus der Betonung des "Ich" einen Aufruf zur Immoralität oder zum Hedonismus abzuleiten. Ebenso wäre es ein Missverständnis, den Aufruf zur Erfüllung des sittlichen Gesetzes als eine Steuerung des Menschen von außen aufzufassen, als eine Begrenzung des "Ich" im Namen des Nicht-Ich. Vielmehr geht es darum, sein wahres "Ich" zu stärken. Das Gewissen verlangt Verantwortung vor seinem geistlichen "Ich".

 

Sittlichkeit engt also nicht die Freiheit des Menschen ein, im Gegenteil: Das sittliche Gesetz gehört von seiner Natur her zum Reich der Freiheit und nicht zum Reich der Notwendigkeit, da es die Autonomie der menschlichen Persönlichkeit fordert. Nur die freie Erfüllung des sittlichen Gesetzes erhöht den Menschen. Freiheit ist ja die sittliche Natur des menschlichen "Ich". Sie führt zu seiner Selbstbestimmung und zur Entfaltung all seiner geistlichen Möglichkeiten.

 

(Vgl. Nikolaj A.Berdjaev, Ėtičeskaja problema v svete filosofii idealizma, in: Problemy idealizma. Sbornik statej, Moskau 1902, 91-136).

 

*Anmerkung: Keine der verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten (geistig, geistlich, spirituell) befriedigt ganz, da im Deutschen Bereiche assoziiert werden, die Berdjaev nicht meint. Es geht weder um Rationalismus noch um kirchliches Leben im verengten Sinn, erst recht nicht um Spiritismus.

 

Berdjaev folgt weitgehend der Ethik Kants

 

Kant baut seine ganze Ethik auf dem Fundament der Freiheit auf. Für ihn ist das sittliche Problem a priori ein Problem der Freiheit. Kants Ethik setzt Dualismus zwischen dem Reich der Freiheit und dem Reich der Natur (der Notwendigkeit) voraus.

 

Die Kategorie der Pflicht ist nach Kant dem Bewusstsein a priori gegeben. Die Ethik ist daher unabhängig von der wissenschaftlichen Erkenntnis.

 

Kant geht aus vom Dualismus der "sinnlichen" und "sittlich-vernünftigen" Natur des Menschen. Darin sieht er das ganze raison d'être des sittlichen Problems. Wert hat nach ihm nur, was aus der Respektierung des sittlichen Gesetzes erwächst, nicht aber aus den sinnlichen Einflüssen und Instinkten. Berdjaev folgt Kant in dieser Anschauung, lehnt aber dessen rigorose Folgerungen ab, da er der "sinnlichen" Natur des Menschen positiver gegenübersteht als Kant.

 

Sittlichkeit ist die Gesetzgeberin des Willens. Kant identifiziert die Sittlichkeit mit der inneren Freiheit. Vom Gesichtspunkt Kants aus ist der Mensch frei, wenn er nicht durch seine Sinnlichkeit, sondern durch seine sittlich-vernünftige Natur bestimmt wird.

Berdjaev schließt: Kant legt das philosophische Fundament für den ethischen Individualismus, für die Anerkennung des Menschen als Ziel in sich (samocel'ju) und als bedingungslosen Wert.

 

(Vgl. Nikolaj A.Berdjaev, Ėtičeskaja problema v svete filosofii idealizma, in: Problemy idealizma. Sbornik statej, Moskau 1902, 91-136).

 

 

Ergänzung von Klaus Bambauer:

 

Es wäre an der Zeit, über Berdjajews Verhältnis zu Kant und dessen Freiheitsbegriff, der im Noumenalen verwurzelt ist, etwas Näheres zu schreiben. Aus diesen noumenalen Quellen speist sich Berdjajews Person-Begriff als nicht-objektivierbar und ungegenständlich (so wie auch Kant es sieht).

 

Diese Beschäftigung mit Kant war für Berdjajew Anlass, im Jahre 1903 zu Windelband nach Heidelberg zu gehen, um Kant weiter zu durchdenken (im Gefolge auch des Neukantianismus). Das Ergebnis war sein Aufsatz "Die Krise des Rationalismus in der zeitgenössischen Philosophie" (Petersburg 1905). (Vgl. dazu auch die Darstellung in Selbsterkenntnis, S. 110f). Das m.E. Tiefste, was Berdjajew zum Thema "Freiheit" geschrieben hat, steht in seinem Aufsatz über "Ungrund u. Freiheit bei Jakob Böhme", in: Deutsche Blätter für Philosophie (1932), S. 315ff. (Vgl. die glänzende Interpretation durch Josef Fill in "Wahrheit u. Offenbarung").

 

Hauptseite