El’čaninov, Evlogij und Zen’kovskij

Leo A.Zander*

I. El'čaninov, Alexander Viktorovič (1881-1934)

[ S. 11] Priester, Pädagoge, Gelehrter, gehört zur Gruppe der Laientheologen, die durch ihr religiöses Zeugnis und ihre unermüdliche Arbeit in den Bereichen des Geistes die religiöse Erneuerung der russischen Intelligenz eingeleitet haben. Im Jahre 1881 in Nikolaev geboren, hat El'čaninov seine Studien an der Universität von St. Petersburg und an der Theologischen Akademie von Moskau vollendet. Während seiner Universitätsjahre kam er mit den markantesten Vertretern des religiösen Gedankens in Verbindung. Er war ein Freund von P.Florenskij, S.Bulgakov, V.Ėrn und vieler anderer. Ständiger Mitarbeiter an der Zeitschrift "Der Neue Weg", war er gleichzeitig Sekretär der Religionsphilosophischen Gesellschaft von Moskau und Verfasser eines religionsgeschichtlichen Werkes und eines Essays über den Mystizismus von M.Speranskij.

Nach Beendigung seines Militärdienstes wurde er Direktor eines Lyzeums für Fortgeschrittene in der Stadt Tiflis. Hier entfaltete er seine außerordentlichen pädagogischen Fähigkeiten. Sein geistlicher Einfluss machte aus ihm einen wahren Hirten im Laienstande, einen "Pfarrer, bevor er ins Pfarramt kam", wie er von Vater S.Bulgakov charakterisiert wurde. Im Jahre 1926, als er bereits aus seinem Geburtslande vertrieben war, konnte er dem inneren Ruf seiner Jugend folgen und zum Priester geweiht werden. Diese Tatsache bezeichnete einen neuen Abschnitt in seinem Leben. "Bevor ich Priester wurde, musste ich über sehr viele Gegenstände schweigen, ich musste mir Zwang auferlegen. Das Priestertum ist für mich eine Möglichkeit, offen, frei und deutlich zu sprechen", schrieb er.

Zum Dienst an der Kathedrale von Paris im Jahre 1934 berufen, konnte er dort nicht lange wirken. Nach einer langen und schmerzensreichen Krankheit ist er im Alter von 53 Jahren viel zu früh heimgegangen.

Seine "Randbemerkungen", bald in der Form eines intimen Tagebuches angelegt, bald in der Form der kurzen Aufzeichnungen von Aphorismen und Gedanken, waren eigentlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Wir schulden für die Veröffentlichung dieses geistlichen Schatzes seiner Frau allen Dank. Das Buch erschien in drei Ausgaben [vgl. Aufzeichnungen, Hamburg 1964]. Seine "Randbemerkungen" können als eine moderne Philokalie angesehen werden. Die Weisheit und Heiligkeit des asketischen Unterrichtes empfangen hier einen lebendigen und Leben erweckenden Ausdruck, denn alles, was der Autor sagt, gründet auf [S. 12] seiner persönlichen Erfahrung, seinem unerschütterlichen Glauben und seiner christlichen Liebe. Ein von seinen Freunden zu seinem Gedächtnis geschriebenes Buch bezeugt die grenzenlose Verehrung, deren er sich von seiten seiner Zeitgenossen erfreute, und die geistige Größe dieses demütigen Dieners Gottes, der – unter dem bescheidenen Gewande eines Priesters und eines Erziehers – die Seele eines Meisters und eines Propheten verbarg.

II. Evlogij (Georgievskij), Metropolit der russischen Kirchen in Westeuropa (1868-1946)

Er gehört zu den bemerkenswerten Gestalten der orthodoxen Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Leben fällt mit den tragischen Ereignissen der russischen Geschichte zusammen. Er war Zeuge des Niedergangs des zaristischen Reiches im Russisch-Japanischen Krieg und in der Revolution vom Jahre 1905. Während der parlamentarischen Kämpfe war er Mitglied der zweiten Sektion der dritten Duma. Er wurde vom Ersten Weltkrieg, dem Sturz des Zaren, dem Bürgerkrieg und dem Exil überrascht. So erlebte er auch die russische Emigration nach dem Westen und schließlich den Zweiten Weltkrieg. Alle diese Ereignisse, an denen er aktiv teilnehmen musste, trugen dazu bei, seiner überragenden Persönlichkeit den Stempel einer historischen Gestalt aufzudrücken, die in die Annalen der orthodoxen Kirche eingehen sollte. Seine Memoiren (nach seinen Berichten von Frau T.Manuchina redigiert und 1947 in Paris auf russisch durch die YMCA-Presse [667 Seiten] veröffentlicht) zeigen uns ein beredtes Bild seiner Epoche, seiner Aktivität und aller religiösen Werke, deren Urheber, Inspirator und Schutzherr er war. Er entstammte der Familie eines einfachen Dorfpriesters aus dem Gouvernement Tula. Da die Geistlichkeit des alten Russland wie eine Kaste organisiert war, empfing er seinen Unterricht auf jenen kirchlichen Anstalten, die den Söhnen der Geistlichkeit offenstanden. Die Beschreibung, die er über seinen Aufenthalt auf diesen Anstalten gegeben hat – sie bezieht sich auf seine Erfahrungen als Schüler, dann als Lehrer, Inspektor und Rektor der kirchlichen Seminare – vermittelt recht traurige Eindrücke: die Grobheit der Sitten, das geistige Niveau, die Moral der Schüler. All dies war beklagenswert.

Der Zwangscharakter einer halbmonastischen Disziplin und eine ebensolche Lebensweise, die einer verweltlichten Jugend auferlegt wurden, machten die Seminare zu Brutstätten des Atheismus. Der Besuch der Seminare öffnete ihm den Weg zum Eintritt in den Klerus, aber der junge Georgievskij begnügte sich nicht mit der Aussicht, sein ganzes Leben Dorfpriester zu bleiben. Auf den Rat des angesehenen Starez Amvrosij aus dem Kloster von Optina und gegen den Wunsch seiner Familie stellte er sich der Theologischen Akademie von Moskau vor, wo er die ganz andere Atmosphäre einer vertieften theologischen Arbeit und eines kirchlichen Enthusiasmus der jungen Mönche fand. Er blieb dort vier Jahre. Nach einer kurzen Zeit des Privatunterrichts wurde er im Jahre 1895 Mönch. Die folgenden Jahre seiner Laufbahn sind ein Beispiel für das Leben eines jungen Geistlichen im zaristischen Russland. Die Jahre von 1895-1897 verbrachte er als Inspektor des Seminars in Vladimir, von 1897-1902 war er Rektor des Seminars von [S. 13] Cholm, 1903 wurde er Hilfsbischof in Cholm und 1905 ordentlicher Bischof derselben Diözese. Diese Jahre seiner Wirksamkeit sind durch eine große organisatorische Arbeit für das Leben der Kirche gekennzeichnet, durch einen erbitterten Kampf mit den Unierten in der stark polonisierten Provinz seiner Diözese, durch die Gründung mehrerer Klöster und vor allem durch die Teilnahme, die er für eine arme, unterdrückte, durch die Landeigentümer geradezu verfolgte Bevölkerung aufbrachte. Diese Grundbesitzer waren der russischen Bevölkerung ebenso feindlich gesonnen, wie sie polnisch und katholisch waren. Bischof Evlogij liebte zu sagen, dass er nach seinen Neigungen und Vorzügen ein "Bischof der Bauern" wäre. Er lebte mit dem christlichen Volke, und sein ganzes, äußerst einfaches, bescheidenes und aufgeschlossenes Auftreten hatte so gar nichts von einem Kirchenfürsten an sich.

Während der Jahre 1907-1912 setzte er seinen Kampf für seine Pfarrkinder in der zweiten und dritten Duma fort, was ihm einen erwarteten Hass von seiten der polnischen Partei, ebenso aber auch das Misstrauen der Rechten eintrug, die in ihm einen "Liberalen" argwöhnte.

Was die Linke anbetrifft, so war man ihm darum feindlich gesonnen, weil er Bischof war, also ein "Rückschrittler". Während des Ersten Weltkrieges wurde er Erzbischof von Wolhynien, wo er das Leben der Kirche in den durch die russische Armee besetzten Gebieten leiten sollte. Die Verleumdungen haben aus ihm einen "Russifikateur" gemacht, der die Unierten gezwungen gehaben sollte, orthodox zu werden. Diese Behauptungen haben ihm eine sehr schlechte Behandlung eingetragen, als er nach der Revolution in die Hände der polnischen Behörden gefallen war.

Im Jahre 1919 ging er durch das ganze Elend des Bürgerkrieges, der Anarchie, der Vertreibung und zahlreiche Gefangenschaften hindurch. Nach der Niederlage der Weißen Armee des General Wrangel im Jahre 1921 musste er endgültig Russland verlassen. Zunächst ging er nach Serbien, dann nach Westeuropa. Am 26. April 1921 vertrauten ihm der Patriarch Tichon und der Heilige Synod die Leitung der russischen Kirche im Auslande an. Er ließ sich in Paris nieder, um einen neuen Abschnitt seines Lebens zu beginnen, der gleichzeitig ebenso bescheiden wie großartig war. Während der Jahre der Anpassung an die neuen Lebensbedingungen der Kirche im Exil musste er erkennen, dass er über kein Mittel zur Ausübung von Zwang und Disziplin verfügte und die Autorität seines bischöflichen Ansehens allein auf dem guten Willen seiner Pfarrkinder beruhte, auf ihrer Liebe zur Kirche und ihrer Verehrung des Bischofs. Die russische Emigration war zahlreich und buntscheckig. Sie war aus Dutzenden, wenn nicht aus Hunderten von Flüchtlingen zusammengesetzt, die aus allen Ecken Russlands gekommen waren und allen sozialen Klassen und dem verschiedensten Niveau angehörten. Die Mehrzahl von ihnen war ohne irgendwelche Hilfsmittel, fühlte sich vollkommen fremd in den neuen Bedingungen des Lebens und hatte eine geistliche Hilfe nötig. Man musste neue Pfarrgemeinden in den industriellen Zentren organisieren, wo die Russen als einfache Arbeiter tätig waren und mit ihren Familien in äußerster Armut lebten. Gerade unter diesen Leuten entfaltete der Metropolit Evlogij seine großen Gaben. Er brachte Segen, ermutigte, unterstützte die persönlichen Initiativen. Seine [S. 14] Diözese sah unter seiner Leitung ein wunderbares Aufblühen von neuen kleinen Pfarrgemeinden in den Städten und Dörfern, über welche die Emigrierten zerstreut waren. Die neuen Kirchen, die in Paris innerhalb der Bannmeile lagen und die in anderen Ländern sich niedergelassen hatten wie etwa in Deutschland, Belgien, Skandinavien oder Marokko, gebrauchten häufig als Kultstätten für ihre Gottesdienste nur Garagen, Scheunen und Privathäuser. Aber der Glaube der Gläubigen verwandelte diese Stätten in wahre Heiligtümer und Orte des Gebetes. Metropolit Evlogij schonte seine Kräfte nicht und unternahm zahlreiche Reisen, um seine entwurzelten Gemeinden zu besuchen. Eines seiner Hauptwerke war die Gründung des Instituts St. Serge, das als Theologische Fakultät für die Heranbildung der Geistlichkeit geplant war, aber zu einem Zentrum des theologischen Denkens und der orthodoxen Kunst im Westen geworden ist. Es ist sehr schwer, die zahlreichen Initiativen aufzuzählen, die von Metropolit Evlogij ausgegangen sind: "Die orthodoxe Aktion", die durch Mutter Marija (Skobcova) auf dem Felde der Sozialarbeit ins Leben gerufen worden ist; "Die Bewegung der christlichen Studierenden", deren junge begeisterte Mannschaft eine wichtige Rolle in der ökumenischen Bewegung gespielt hat; "Die Liga für orthodoxe Kultur" und die ökumenischen Arbeiten der russischen Theologen – alle diese Werke fanden in der Person des Metropoliten eine warme und herzliche Unterstützung. Aber sie waren auch die Ursache der Schwierigkeiten, die sich zwischen dem Metropoliten und der konservativen Richtung der Kirche erhoben und die zu einem Bruch zwischen ihm und der Synode der in Jugoslawien residierenden Bischöfe führten, die in der Kirche die Beibehaltung des alten Regimes sehen wollten.

Der zweite Bruch zwischen dem Metropoliten Evlogij und dem Patriarchatsverweser von Moskau erfolgte im Jahre 1931, als der Metropolit Sergij von Moskau einen Loyalitätsakt von seiten der Geistlichkeit unter der Jurisdiktion des Metropoliten Evlogij gegenüber der sowjetischen Regierung verlangte. Evlogij betrachtete dies als einen Akt der politischen Einmischung in die Angelegenheiten der Kirche. Er sah sich infolgedessen genötigt, mit dem Patriarchat von Moskau zu brechen. Er begab sich nach Konstantinopel, um den kanonischen Schutz des Ökumenischen Patriarchates zu erbitten. Dieser wurde ihm großherzig durch den Erlass des Patriarchates vom 17. Februar 1931 gewährt. Der Metropolit und Erzbischof der russischen Kirchen im Exil wurde der Exarch des ökumenischen Patriarchen und Leiter seines russischen Exarchates in Westeuropa. Unter seinem Episkopat hat die russische Kirche in Europa eine glänzende Periode der Bezeugung des orthodoxen Glaubens im Westen erlebt.

Das Lebensende des Metropoliten Evlogij wurde durch die Verhängnisse des Zweiten Weltkrieges überschattet, durch die Besetzung Frankreichs seitens der Nazis, die ihn als einen Feind des Dritten Reiches betrachteten, und durch den Tod einer großen Anzahl seiner Mitarbeiter. Infolge einer langen Krankheit starb er am 8. August 1946. In der Krypta der Kapelle des russischen Friedhofes in St. Geneviève de Bois in der Umgebung von Paris fand er seine letzte Ruhestätte.

III. Zen'kovskij, Erzpriester Vasilij Vasilevič [4./16.7.1881 - 15.8.1962]

[S. 15] Gebürtig aus Kiev [genauer: Proskurov, heute: Chmel’nyckyj], kann vielleicht als einer der letzten Repräsentanten jener Schar von Philosophen angesehen werden, die das russische religiöse Denken vom Ende des neunzehnten und bis zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts anregten und beherrschten. Er begann seine Studien an der Universität von Kiev, an der er neun Jahre zugebracht hat, zunächst in der naturwissenschaftlichen Fakultät, dann in der geisteswissenschaftlichen Fakultät. Die Forschungen, die er zuerst auf dem Gebiet der Elektrochemie getrieben hat, sind dann gegenüber den ihn beschäftigenden Problemen der Psychologie, der Erkenntnistheorie, der Philosophie und der Religion in den Hintergrund getreten. Während dieser Zeit hat er eine kurze Periode (1895-1902) eines Atheismus durchschritten, der zugleich enthusiastisch und oberflächlich gewesen ist, wie er zu jener Zeit die allgemeine Krankheit der russischen Jugend war. Aber vom Jahre 1905 an finden wir ihn unter den Reihen der aktiven Anhänger der auf die religiöse Erneuerung gerichteten Bewegung, die mit dem Namen eines Solov’ev und Bulgakov verbunden ist. Er ist Vorsitzender der Religionsphilosophischen Gesellschaft in Kiev, Mitarbeiter an der Zeitschrift "Das christliche Leben" und lehrte an den verschiedenen Instituten, während er sich gleichzeitig für sein Doktorat vorbereitete, das er im Jahre 1915 in Moskau erwarb, nachdem er seine Doktorarbeit über das Thema "Das Problem der psychischen Ursächlichlichkeit" verteidigt hatte. Im Jahre 1916 wurde er Professor der Philosophie an der Universität von Kiev.

In dieser Tätigkeit überraschte ihn die Revolution, die sein weiteres Verbleiben in Russland unmöglich machte und ihn in das Exil trieb. Nach einer kurzen Periode politischer Wirksamkeit (er war während einiger Monate Erziehungsminister in der Regierung des Generals Skoropadskij) lässt er sich in Belgrad nieder. Sein umfassendes Wissen verschafft ihm gleichzeitig zwei Lehrstühle an der Universität, einen in der philosophischen und einen in der theologischen Fakultät. Er wirkte drei Jahre hindurch in Belgrad und veröffentlichte zwei bedeutende Werke: "Die Psychologie der Kindheit" [Psichologija detstva, Berlin 1923], erschienen 1929 in russischer, serbischer und polnischer Sprache, und: "Russische Denker und Europa" [Russkie mysliteli i Evropa", Paris 1926; 1955], ebenso erschienen in russischen, serbischen und englischen Ausgaben. In Belgrad wurde er der Führer der "Bewegung der orthodoxen Jugend". Eingeladen von einem Kreis Studierender zur Teilnahme an ihrer Arbeit, verband er sich derart mit der Jugend, dass seine Abendunterhaltungen für ihn nach seinen eigenen Worten "der Beginn einer neuen Periode" seines Lebens geworden ist. Die Bewegung empfing ihre endgültige Gestalt dank seiner Hilfe im September 1923 auf dem Kongress von Prerov in der Tschechoslowakei. Er wurde ihr Präsident, ihr geistiges Haupt und zugleich ihr Inspirator. Für seine Wirksamkeit fand er hier ein unbegrenztes Feld, um seine Ideen über das christliche Leben zu verwirklichen. Er blieb der Präsident der Bewegung bis zu seinem Tode. Im Jahre 1923 hat er Belgrad verlassen, um nach Prag zu gehen. Seine Zeit ist durch die Leitung des "Büros für Frziehung", das sich mit den russischen Schulen in der Emigration befasst, durch die Kurse an dem pädagogischen Institut sowie durch die zahlreichen Aufgaben ganz in Anspruch [S. 16] genommen, die die Orthodoxe Jugendbewegung ihm zuträgt. Nach einem kurzen Aufenthalt in Amerika, der dem Studium der pädagogischen Grundsätze in den Vereinigten Staaten dienen sollte, ist er im Jahre 1925 nach Paris übergesiedelt, um dort Professor an der Hochschule für orthodoxe Theologie St. Serge zu werden. Hier lehrte er Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Apologetik und Religionsgeschichte. Seine Arbeit für die orthodoxe Jugendbewegung nötigte ihn zu zahlreichen Reisen durch alle Länder Europas, in die Angehörige der russischen Jugend verstreut waren. Er nimmt an den Konferenzen teil, baut örtliche Vereinigungen der Bewegung auf und wirkt vor allem auch an den ökumenischen Arbeiten mit. Aber er verliert darüber nicht die Pädagogik aus den Augen, so dass wir ihm vor allem die Veranstaltung einer Reihe von Kongressen über die christliche Pädagogik zu danken haben, die mit der Versammlung zu Thessaloniki im Jahre 1930 beginnen. Die Zeit seines Pariser Aufenthalts ist zugleich die seiner größten literarischen Aktivität. Eine beträchtliche Anzahl von Büchern und eine unübersehbare Menge von Beiträgen für verschiedene Zeitschriften und in verschiedenen Sprachen sind in diesem Zeitraum erschienen.

Der Zweite Weltkrieg forderte von ihm eine große Bewährung. Aus einem unbekannten Grunde oder vielmehr ohne irgendwelchen Grund wurde er verhaftet und zunächst gefangengehalten. Mehr als vierzig Tage musste er im Gefängnis in vollkommener Isolierung, ohne verhört zu werden, zubringen. Dann wurde er in ein Konzentrationslager geschickt, das sich in Vernet in Arriège befand, wiederum ohne irgendwelche Erklärung. Hier verbrachte er vierzehn Monate. Diese schmerzvolle Erfahrung menschlicher Ungerechtigkeit und persönlichen Leidens führte ihn zu dem Entschluss, seine Dienste für die Sache Gottes konkretere Formen annehmen zu lassen und sie zu intensivieren. Im März 1949 konnte ihn Metropolit Evlogij zum Priester ordinieren. Damit beginnt die dritte Periode seines Lebens. In den Reihen der Hierarchie nimmt er in der Zeit von 1953 bis 1957 die hohe Stellung des Präsidenten des Diözesanrates ein. In der Jugendbewegung und in der Pfarrei, die mit der Bewegung verbunden ist, war er geistlicher Vater, Beichtvater und Prediger, geliebt, geachtet, verehrt. Aber diese Arbeit als Priester hat seine schriftstellerischen Aktivitäten und seine Tätigkeit als Professor keineswegs unmöglich gemacht. Er setzte seine Unterrichtstätigkeit am Institut St. Serge fort, dessen Dekan er bis zu seinem Tode gewesen ist. Er entfaltete eine literarische Produktivität, die durch ihren Reichtum alle Grenzen überschreitet. Diese außerordentliche Wirksamkeit hält sein ganzes Leben hindurch an. Häufige Krankheiten haben seine Schaffenskraft keineswegs mindern können. Er ist bis zum Ende seiner Tage ein Kämpfer gewesen; er starb [am 15.8.1962] im Alter von 81 Jahren nach einer schweren Operation, die sein aufgebrauchter Organismus nicht mehr hat ertragen können. Er hat diese Welt verlassen als eine der meistgeschätzten Persönlichkeiten der russischen Emigration im westlichen Europa. In seinen letzten Lebensjahren wollte Vater Vasilij eine Bilanz seiner philosophischen Arbeiten ziehen. Dieser Plan konnte nur zum Teil verwirklicht werden. Er konnte noch im Jahre 1960 seinen ersten Band über die Erkenntnistheorie veröffentlichen. Der zweite Band über die Anthropologie, den er für den Druck vorbereitet hatte, sollte 1964 erscheinen.Was nun den dritten Band anbelangt, der die Kosmologie behandeln sollte, so ist sein Manuskript nur ein erster Entwurf.

Aber seine zahlreichen früheren Schriften geben uns die Möglichkeit, die Linien seiner Gedankenwelt herauszuarbeiten. Sein Ausgangspunkt ist die Metaphysik des Menschen, insbesondere das Problem der Freiheit, die er als das Wesen des menschlichen Lebens selbst ansieht. Diese innere Freiheit bezeugt durch ihre Transzendenz die Zugehörigkeit des Menschen zur göttlichen Welt, aber ihre Beeinflussung durch die Erbsünde legt ihr andererseits bestimmte Grenzen auf. Die Erbsünde hat nicht nur den Willen und die Moral des Menschen verschlechtert, sondern auch seine Erkenntnisfähigkeiten. Der Mensch, das Ebenbild Gottes seinem Wesen nach, ist in allen seinen Funktionen entstellt. Das bewusste Ziel seines Lebens und aller seiner Tätigkeiten besteht also in der Restitution des ursprünglichen Gottesbildes, doch dies kann nur mit Hilfe Gottes selbst erreicht werden.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Erkenntnis der Wahrheit nur unter der Bedingung einer Überwindung alles Relativismus und jedes Subjektivismus der philosophischen Schulen möglich, der ebensowohl ein empirischer wie ein transzendentaler ist. Der wahre Gegenstand der Erkenntnis ist weder ein isolierter Mensch noch der Mensch als die Fiktion eines allgemeinen Prinzips, wie es die deutsche Philosophie beherrschte. Die Erkenntnis der Wahrheit ist nur einer Gemeinschaft gegeben und offenbart, welche die Kirche ist. Aber die Kirche ist ein Leib, dessen Haupt Christus ist. Indem er diese Ideen entwickelte, untersuchte Vater Vasilij zahlreiche Strömungen der westlichen Erkenntnislehren, wie z.B. diejenigen des Transzendentalismus, ebenso aber auch die des Thomismus. Insbesondere hat die These von dem "natürlichen Licht des Verstandes" (lumen naturale rationis) seine energische Kritik hervorgerufen, denn er sieht gerade darin die ideologische Wurzel der humanistischen Säkularisation.

Im Bereich der Kosmologie ist es die Idee der Schöpfung, welche die Gedanken von Vater Vasilij beherrschte. Er betrachtete sie wie eine Grundkonzeption, die zugleich ganz ausschließlich ist. Im Lichte dieser Überzeugungen deckte er die Spuren des Pantheismus in verschiedenen Systemen, einschließlich dem des Thomismus auf und kämpfte mit Leidenschaft gegen diese Gefahr, die ihm zu den Anfängen des Atheismus zu gehören schien. Eines seiner Lieblingsthemen war die Stellungnahme gegenüber dem Platonismus, den er durch eine "kosmologische Sophiologie" zu vervoll- [S. 18] ständigen suchte, d.h. durch eine Theorie über die göttliche Weisheit oder über das Gesamt der Gottesvorstellungen, die für ihn einen "topos noëtos" bildeten, der als Grundlage jedes geschöpflichen Wesens vom Schöpfer eingesetzt worden ist. So gelangte er zur Annahme einer "Weltseele", aber in einem neuen, von jedem Pantheismus freien Verständnis.

Dieses Kapitel seiner Philosophie scheint uns das umstrittenste zu sein, aber zugleich auch dasjenige, das am meisten die Arbeit des Nachdenkens durch die Subtilität, mit welcher er die Probleme stellt, und durch die Feinheit seiner Analysen anregt.

Die Anthropologie des Vaters Zen'kovskij, die in dem Lichte der christlichen Wahrheiten und der Schriftaussagen begriffen wird – das Bild Gottes, die Erbsünde, das Kreuz, der Tod und die Auferstehung Christi –, war für ihn selbst eine unerschöpfliche Quelle seiner pädagogischen Inspirationen. In diesem Bereich finden wir in seinen Schriften zahlreiche Seiten, die eines Plato würdig sind, denn für ihn wurde die Theorie Vision, die Kontemplation führte ihn zum Gebet.

Das philosophische und christliche Verdienst von Vater Vasilij besteht nicht darin, ein einheitliches und vollständiges System geschaffen zu haben, sondern in der Analyse der verschiedenen Theorien und Doktrinen der westlichen Philosophie im Lichte einer orthodoxen Inspiration. Seine Schriften können als Wegweiser durch die Schluchten der weltlichen Gedanken in Richtung auf eine ewige Wahrheit dienen, die ihrerseits ein Ferment in der Erarbeitung einer Kultur, einer Philosophie und einer Pädagogik der Orthodoxie werden muss.

Anmerkung

*Aus: Kyrios 1966, Übers. v. Peter Meinhold, S. 11-18, ergänzt von Klaus Bambauer. Nähere Einzelheiten zu Metropolit Evlogij finden sich bei Stefan G.Reichelt, Nikolaj A.Berdjaev in Deutschland 1920-1950, Leipzig 1999, S. 53. 55-58. 144. 190.

Schriften von V.V.Zen'kovskij

-        Aus der Geschichte der ästhetischen Ideen in Rußland im 19. und 20. Jahrhundert, Musagetes 7, Den Haag 1958.

-        Apologetika, Paris 1957.

-        Das Bild des Menschen im Lichte der orthodoxen Anthropologie, Übers. v. H.Petzold, Orthodoxe Beiträge 4, Marburg 1969.

-        Das Bild vom Menschen in der Ostkirche. Grundlagen der orthodoxen Anthropologie, Stuttgart 1951.

-        Der Geist der Utopie im russischen Denken, in: Orient und Occident 16 (1934), 23-31.

-        Istorija russkoj filosofii, 2 Bde., Paris 1948.1950; Moskau 2001.

-        Na poroge zrelosti, Paris 1929; Paris 21955.

-        Naša ėpocha, Paris 1952.

-        N.V.Gogol’, Paris 1961; Gogol’, Duch i Slovo, Moskau 1997.

-        Ob ierarchičeskom v stroe duši, in: Naučnye trudy Russkago narodnago universiteta v Prage 2 (1929).

-        O mnimom materializme russkoj nauki i filosofii, Issledovanija i materialy, Serie 1, Nr. 27, München 1956.

-        Osnovy christianskoj filosofii, Bd 1, Christianskoe učenie o poznanii, Frankfurt a.M. 1960; Bd. 2, Christianskoe učenie o mire, Frankfurt a.M. 1964.

-        Pamjati otca Vasilija Zen’kovskogo, Paris 1984.

-        Pedagogičeskie sočinenija, hg. v. E.Osovskij, Pedagogičeskaja biblioteka rossijskogo zarubež’ja 2, Saransk 2002.

-        Problema bessmertija u L.N.Tolstago, in: O religii L’va Tolstago, Moskau 1912, 27-58.

-        Problema psichičeskoj pričinnosti, Kiev 1914.

-        Problema vospitanija v svete christianskoj antropologii, Paris 1934.

-        Psichologija detstva, Berlin 1923.

-        Pjat’ mesjacev u vlasti: 15 maja – 19 oktjabrja 1918 g.. Vospominanija, Materialy po istorii Cerkvi 6, Moskau 1995.

-        Rossija i Pravoslavie, Kiev 1916.

-        Russian Philosophy. Texts, 3 Bde., Chicago 1965.

-        Russkaja pedagogika XX veka, Paris 1960.

-        Russkie mysliteli i Evropa, Paris 1926; Paris 21955; Mysliteli XX veka, Moskau 2005.

-        Social’noe vospitanie, ego zadači i puti, Moskau 1918.

Schriften über V.V.Zen'kovskij

-        Evdokimov, P., Christus im russischen Denken, Sophia 12, Trier 1977, 185-188.

-        Filonova, L.G., Russkie filosofy. Problema christianstva i kul’tury v istorii duchovnoj kritiki XX veka. Biografičeskie očerki, teksty sočinenij, bibliografija, Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka, Moskau 2002.

-        Heller, W., Zenkovskij, Vasilij Vasil’evič, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 17 (2000), 1583f.

-        Kegler, D., Das Ethos der russischen Pädagogik. Studien zum Erziehungsbegriff in Rußland seit Pirogov, Sankt Augustin 1991.

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