Gebet bei Theophan dem Klausner

Heinrich Michael Knechten

Der russische Theologe Theophan Govorov (1815-1894) ist der Ansicht, eine Anleitung zum Gebet sei das gleiche wie eine Anleitung zum Heil. Wer beten kann, suche bereits das Heil. Das Gebet sei alles: Glaube, Frömmigkeit und Heil. Da die Frömmigkeit das Leben des menschlichen Geistes ist, könne man sagen: Nur der hat Geist, der zu beten vermag. Im Gebet werde deutlich, wie der Geist auf Gott gerichtet ist. Es sei ein geistliches Barometer.

1. Definitionen des Gebets

Theophan gibt zwei Definitionen:

2. Stufen des Gebets

Theophan nennt drei Stufen des Gebets: Auf der ersten Stufe vollzieht sich das Gebet vorwiegend äußerlich in Rezitation und Verneigungen. Auf der zweiten Stufe sind Leib und Geist gleichermaßen beteiligt: Jedes Gebetswort ruft ein ihm entsprechendes Gefühl, eine innere Gebetsregung, hervor. Auf der dritten Stufe überwiegt das Geistige: Hier vollzieht sich das Gebet ohne Worte, ohne Erwägungen und ohne Bilder, in einem Schweigen in der Tiefe des Geistes. Dieses Gebet wird weder von der Zeit noch vom Raum eingegrenzt.

An einer anderen Stelle bringt Theophan eine etwas andere Einteilung: Als erste Stufe des Gebets nennt er das leibliche, aktive Gebet. Die zweite Stufe sei das Gebet der Aufmerksamkeit. Der Beter spricht jetzt das rezitierte Wort wie sein eigenes. Die dritte Stufe sei das Gebet des Fühlens. Hier entbrennt das Herz in Zerknirschung und Reue. Das Gebet vollzieht sich wortlos; denn Gott ist jetzt der Gott des Herzens.

3. Das Bittgebet

Das Bittgebet ist in erster Linie eine Bitte um das Heil: Der Geist lehrt den Menschen, wie er beten kann, dass sein Gebet Gott entspricht. Der Geist Gottes, der im Gebet zugegen ist und es leitet, regt ihn an, für das Heilsnotwendige zu beten. Er gibt ihm entweder dem entsprechende Gedanken oder den Impuls ein, sich Gott hinzugeben: "Du weißt alles, Herr. Nach diesem Wissen füge das, was zu meinem Heil notwendig ist".

Das Gebet entspricht Gott, wenn es mit Seinen Plänen und Absichten hinsichtlich der ganzen Kirche wie jedes Glaubenden übereinstimmt. Der Geist Gottes kennt diese Absichten und betet in dieser Weise im Menschen bzw. legt derartige Gebete in sein Herz. Da der Mensch nicht weiß, was Gott jetzt und unter diesen Umständen gefällt, ist das beste Gebet für ihn: "Dein Wille, Herr, geschehe über uns, wie wir auf Dich gehofft haben".

4. Das Dankgebet

Das Dankgebet ist Dank für das empfangene Heil: Der Mensch ist verpflichtet, Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus mit dem Hl. Geist für das Heil zu danken, das ihm geschenkt wurde und in ihm wirkt, wenn er dies nicht durch seine Unvernunft behindert.

Gott hat den Menschen in der Wiederherstellung erhöht. Dieses Werk der Wiederherstellung setzt sich spürbar fort. Daraus ergibt sich von selbst der Dank im Namen des Herrn Jesus Christus, der das Heil aller bewirkte und jeden einzelnen errettet; dann der Dank an Gott den Vater, der den Menschen gemäß der Heilsökonomie an Kindes Statt annahm, nicht nur dem Namen nach, sondern ontologisch. Er hat den Menschen mit dem Herrn Jesus Christus vereinigt und durch die Gnade des Hl. Geistes wiedergeboren.

Ohne Dankbarkeit ist es unmöglich, überhaupt zu beten. Denn alles, was wir haben, ist von Gott, auch der Intellekt, mit dem wir uns an Ihn wenden, und die Zuversicht, in der wir dies tun. Unser zeitliches und ewiges Geschick ruht in Seiner Hand. Er hat alles so gefügt, dass jeder bei Ihm die ewige Seligkeit erlangen kann. Wer sich vor Augen führt, was dies für ihn persönlich bedeutet, wird über die unendliche Güte Gottes staunen, das heißt, dankbar sein. Der lebendige Glaube erkennt, wie letztlich alle Lebensumstände, auch die unangenehmen, dem Heil des Menschen dienen, obgleich dies nach außen hin nicht sichtbar ist. Die Erinnerung daran vermindert die Undankbarkeit im Menschen.

5. Die Betrachtung

In der Betrachtung geht es um ein Nachsinnen, z.B. über die Gegenwart Gottes, die Taufe oder den Tod. Der Christ richtet seine Aufmerksamkeit auf den gewählten Gegenstand und betrachtet ihn von verschiedenen Seiten aus. Theophan legt dabei Wert darauf, dass jeder aufsteigende Gedanke zu einem Gefühl bzw. dem Herzen eingepflanzt wird. Das Nachsinnen über das Taufgelöbnis kann Freude oder Trauer hervorrufen, der Gedanke über die Nähe des Todes kann zum Gefühl der Furcht oder der Buße führen. Die Betrachtung wird mit einer Anwendung auf das persönliche Leben und die eigene Situation beendet. Auf diese Weise verbinden sich alle Kräfte des Geistes. Das innere Leben des Menschen wächst zusammen und erneuert sich unablässig.

Zum Vergleich sei die Mahnung des ägyptischen Mönchsvaters Pachomius an seinen Lieblingsjünger Theodor angeführt: "Erwäge (meleta) ohne Unterlass in deinem Herzen all die Früchte, welche in der Schrift beschrieben sind, und fasse in dir selbst den Entschluß, in ihnen zu wandeln, wie bei Jesaja geschrieben steht: Eure Seele soll die Furcht des Herrn erwägen (nameleta; Jes 33,18 LXX)." Die Schriftbetrachtung soll nach dem Willen des Pachomius zu einem dem entsprechenden Leben führen.

6. Das Gedenken Gottes

Das Gedenken Gottes ist notwendig, damit der menschliche Geist seinen natürlichen Stützpunkt in Gott behält. Die Aufmerksamkeit des Christen soll ausschließlich auf seinen einzigen Herrn und Gott gerichtet sein. Dies fördert die innere Ordnung und den Frieden.

"Der Intellekt (nus) ist die herrschende Kraft, das Gleiche wie der Geist, der Reflektor der Gottähnlichkeit. Er wurde dem Menschen eingehaucht. In ihm sind die Gefühle der Gottheit und der Gerechtigkeit verwurzelt, d.h. die Gottesfurcht und das Gewissen. Die Gottesfurcht wird durch wahre Gotteserkenntnis und durch das Gedenken an Gott bewahrt. Sie belebt das Gewissen, die Erkenntnis des Willens Gottes, und teilt ihm Energie mit. Wenn das Gedenken Gottes aus dem Intellekt verschwindet, verfinstert sich die Gotteserkenntnis durch Lüge, die Gottesfurcht schwächt sich ab und infolgedessen auch die Stimme des Gewissens."

Das Gewissen offenbart dem Menschen den Willen Gottes. Es hängt aber in seinem Wirken davon ab, in welcher Beziehung der Mensch zu Gott steht. Das Gedenken Gottes macht das Gewissen kraftvoll. Wer dagegen Gott vergisst, hat ein ohnmächtiges Gewissen.

7. Das Jesusgebet als unablässiges Gebet

Der Apostel Paulus gebietet das unablässige und unermüdliche Gebet. Es soll nicht Beschäftigung zu einer festgesetzten Zeit sein, sondern der ständige Zustand des Geistes.

"Die Arbeiten im Haushalt sind nur eine Entschuldigung für das Stehen im Gebet, nicht aber für das Verkümmern des innerlichen Gebets. Gott ist das Wenige gefällig: auch wenn es wenig ist, wenn es nur aus dem Herzen kommt! Erheben Sie sich im Intellekt zu Ihm! – Wer mit Zerknirschung sagt: Herr, erbarme Dich, segne, hilf, betet bereits. Hier handelt es sich um Gebetsrufe. Wenn im Herzen ein Gefühl zu Gott entsteht und existiert, handelt es sich um das unaufhörliche Gebet ohne Worte und ohne Stehen im Gebet."

Das beste Mittel, zum immerwährenden Gebet zu gelangen, ist das Jesusgebet. Diejenigen, die Erfahrung im geistlichen Leben haben, sind der Ansicht, dass das Jesusgebet ein einfaches und wirksames Mittel ist, den Geist im geistlichen Tun zu festigen und den Menschen in seinem asketischen Leben zu unterstützen.

Beim Jesusgebet kommt es nicht so sehr auf die Worte, sondern auf die innere Verfassung an. Daher formuliert Theophan pointiert: Man könnte auch einem Papagei beibringen, "Herr, erbarme dich" zu rufen!

"Am wichtigsten sind nicht die Worte des Jesusgebets, sondern die geistliche Verfassung, die Gottesfurcht, die Hingabe an Gott, die ständige Aufmerksamkeit auf Gott und das Stehen vor ihm im Intellekt. Das Jesusgebet ist nur ein Mittel, nicht aber die Hauptsache. Fassen Sie den Entschluss, im Gedenken Gottes zu leben und in der Gegenwart Gottes zu wandeln. Nur dies führt Sie zum Ziel. All dies kommt von der Gnade Gottes. Ohne die Gnade Gottes ist es nicht möglich, durch irgendein anderes Mittel Geistliches zu erlangen."

Bei der Übung des Jesusgebets geht es vor allem um ein bewusstes Wandeln in der Gegenwart Gottes: "Sie bemühen sich um das Jesusgebet. Gott gebe seinen Segen. Aber mit der Gewöhnung, dieses Gebet mündlich zu sprechen, sollten Sie das Gedenken an den Herrn in Furcht und Frömmigkeit verbinden! Die Hauptsache ist jedoch, vor Gott oder vor dem Auge Gottes zu wandeln mit dem Bewusstsein, dass Gott auf Sie schaut, auf Ihre Seele, in Ihr Herz, und dort alles sieht. […] Dieses Bewußtsein ist der stärkste Hebel in der Bewegung des geistlichen Lebens."

Durch das Jesusgebet vereinen sich Intellekt und Herz. Dadurch ordnet sich die innere Welt des Menschen: "Bei dir ist innerlich alles in Unordnung, weil dort eine Zersplitterung der Kräfte herrscht: Intellekt und Herz gehen verschiedene Wege. Man muss den Intellekt mit dem Herzen vereinen, dann hört das Umherschweifen der Gedanken auf, und du erhältst ein Steuerruder, um das Schiff der Seele zu lenken, einen Hebel, mit dem du deine ganze innere Welt in Bewegung bringen kannst. Wie kann das aber geschehen? Gewöhne dich daran, mit dem Intellekt im Herzen zu beten: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner! Dieses Gebet […] vereint deinen Intellekt mit dem Herzen, es macht das Umherschweifen der Gedanken zunichte und wird dir die Kraft geben, die Regungen deiner Seele zu lenken." Dann wird der Intellekt, im Herzen eingeschlossen, vor Gott in Frömmigkeit weilen, und nicht aus dem Herzen ausgehen oder sich mit irgend etwas anderem beschäftigen.

Zerknirschung, Buße und Tränen sind notwendig wegen der Sünden. Daher sind alle verpflichtet, täglich, ja, sogar jeden Augenblick, zu rufen: "Gott, sei mir Sünder gnädig" (Lk 18,13). "Jetzt scheinen wir Gott mit unserem Gebet noch eine Gefälligkeit zu erweisen. Man muss dahin gelangen, dass es uns als nichtig, dann als sündhaft bewusst wird. Schließlich sollen wir als Sünder beten und im Gebet wie vor einem Gericht stehen. Gott ist doch immer unser Richter; aber die Seele erkennt dies nicht gut und wagt es, vor Ihm als gerecht zu erscheinen."

Unser Glaube muss durch das Gebet unterstützt werden. Der Christ soll bei jedem Atemzug beten: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner". Der Glaube erlischt, wenn der Mensch seine Armut vergisst, in der Erkenntnis des Erretters nachlässt und mit dem Jesusgebet aufhört.

8. Das geistbewegte Gebet

Das geistbewegte Gebet geschieht ohne Bemühungen des Menschen. Er kann es nicht anordnen; denn es steht nicht in seiner Macht. Er kann es wünschen, suchen und dankbar annehmen, doch nicht hervorbringen.

Der Mensch weiß nur, dass es sich nicht um sein Gebet handelt, obwohl es sich in ihm vollzieht. Es entstand ohne sein Tätigwerden; doch der Mensch erkennt es und weiß, woher es stammt. Der Geist Gottes legt das wahre Gebet in das Herz. Der Mensch nimmt es auf und bringt es Gott dar, in dem Sinn und in der Kraft, wie er es empfangen hat. Er lässt es zu, er ist dabei nicht aktiv (On est' pri sem deemyj, a ne dejstvujuščij). Der Geist geht aber nicht am Bewusstsein und am Gefühl des Menschen vorbei, er schaltet seine Freiheit nicht aus.

Theophan unterscheidet zwischen dem Gebet des Intellekts und dem des Geistes: Das geistige (umnaja) oder innerliche Gebet ist dann gegeben, wenn Wort, Intellekt und Herz zusammenklingen.

Theophan der Klausner hat diesen Text in seiner Bearbeitung des Werkes "Der unsichtbare Kampf" von Lorenzo Scupoli (um 1530 - 1610) eigenständig verfasst. Bei Lorenzo Scupoli lautet die entsprechende Stelle: "Das mentale Gebet ist eine Erhebung des Geistes (mente) zu Gott mit aktueller oder potentieller Bitte um das, was man ersehnt". Der erste Bearbeiter dieses Werkes, der griechische Mönch Nikodemos Hagiorites (1749-1809) verändert diese Aussage vollständig: Das geistige oder Herzensgebet besteht nach den nüchternen Vätern darin, dass der Mensch den Intellekt in sein Herz nimmt und das Ein-Wort-Gebet verrichtet: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner." Dieses Gebet wird mit dem Mund gesprochen, aber auch mit dem Intellekt und mit dem wohlgeordneten Wort des Herzens.

An einer anderen Stelle beschreibt Theophan das geistige Gebet folgendermaßen: "Das geistige Gebet (umnaja molitva) besteht darin, mit dem Intellekt im Herzen vor Gott zu stehen, entweder einfach oder mit dem Äußern von Bitten, Danksagungen oder Lobpreisungen."

Das geistliche (duchovnaja) Gebet geschieht nur mit dem Herzen, vom Geist bewegt.

Theophan fasst aber auch beide Gebetsweisen zusammen: Der Bereich (oblast'), in dem sich die Gemeinschaft mit Gott herausbildet, ist das geistige geistliche Gebet (umnaja duchovnaja molitva). Der Betende lebt in Gott und wird dadurch bereit, dass Gott auch in ihm lebt. Die Gemeinschaft mit Gott wächst, ohne dass der Beter weiß, wie dies geschieht. Gott ist eins mit dem Geist des Menschen.

Die Gotteskindschaft wird in der Tiefe des menschlichen Geistes durch den Hl. Geist geschaffen, den der Mensch in Christus Jesus empfängt. Als Träger dieses Geistes wagt er, zu Gott, der vom Intellekt nicht fassbar ist, zu rufen: "Abba, Vater".

Das Gebet erfüllt den menschlichen Geist mit Leben. Es vergöttlicht ihn gewissermaßen. Wer in einer Myronsiederei arbeitet, wird vom Duft des Myrons getränkt. Ebenso gilt: Wer sich zu Gott erhebt, wird mit Göttlichkeit erfüllt.

Es gibt einen "Zustand" in der Schau Gottes, den Theophan folgendermaßen umschreibt: Jede Bewegung des Geistes hört auf; es herrscht tiefes Schweigen in ihm. Es ist, als sei das Leben erstorben. Der Mensch wird zum Zustand der Seraphim erhoben. Dies ist das Höchste, das einem irdischen Geschöpf widerfahren kann.

Theophan beschreibt die Versunkenheit (pogruženie) in Gott auf zweifache Weise:

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