Bischof Antonij (Florensov) – der geistliche Vater von Priester Pavel Florenskij

 

Andronik (Trubačёv)

 

 

Das Leben und die gnadenerfüllte Erfahrung von Bischof Antonij (Florensov) verdienen besondere Aufmerksamkeit. Er war ein Asket des Geistes. Über einen Zeitraum von 14 Jahren (von 1904 bis 1918) hatte er die geistliche Führung eines außergewöhnlichen russischen orthodoxen Theologen und Universalgelehrten, Vater Pavel Florenskij, der 1982 hundert Jahre alt geworden wäre (geboren am 9. Januar 1882).

 

"Bischof Antonij (Florensov) mit kindlichem Respekt" widmete Vater Pavel Florenskij die Einleitung in seine theologische Magisterdissertation am 19. Mai 1914. Dies bezeugt den großen Einfluss, den Bischof Antonij auf das Leben und die Werke von Vater Pavel Florenskij ausübte. Jedoch wurde diese Widmung bis zur Gegenwart von den Erforschern der theologischen Erbschaft Vater Pavel Florenskijs übersehen, und Leben und Werk von Bischof Antonij blieben unbeachtet.

 

Simbirsk und Samara

 

Bischof Antonij (weltlicher Name: Michail Simeonovič Florensov) wurde am 27. August 1847 in der Stadt Truslejka, Gouvernement Simbirsk (später: Ul'janovsk), Kreis Korsun', in der großen Familie eines Kirchendieners, Simeon Ivanovič Florensov († 10. Februar 1870) geboren. Seine Mutter, Elizaveta Markellovna (geborene Dragomanova, † 23. Oktober 1887), war die Tochter des Gemeindepriesters in der Stadt Troickoe-Kuroedovo im gleichen Kreis. Der Junge wuchs auf in der Nachbarstadt Argaša, wohin sein Vater am 9. Juli 1848 versetzt worden war. Er hatte drei Brüder und vier Schwestern.

 

Im Alter von 11 Jahren trat Michail in die Geistliche Lehranstalt von Simbirsk ein; nachdem er sie 1864 beendet hatte, wurde er in das Geistliche Seminar von Simbirsk aufgenommen, und im Jahre 1870 schrieb er sich in die Abteilung für Kirchengeschichte der Kiever Geistlichen Akademie ein. Das Thema seiner Arbeit für den Kandidatengrad der Theologie, Die Palinodija des Zacharij Kopystenskij (1), wurde ihm von Prof. S.A.Ternovskij vorgeschlagen.

 

Nach seiner Graduierung von der Kiever Geistlichen Akademie zum Kandidaten der Theologie wurde Michail S.Florensov am 27. Juli 1874 dazu ernannt, Latein am Geistlichen Seminar von Char'kov zu unterrichten. Am 15. Oktober 1874 wurde er mit der gleichen Bevollmächtigung in sein geliebtes Geistliches Seminar in Simbirsk versetzt. Am 7. Januar 1878 heiratete Michail S.Florensov Ekaterina Pavlovna Ochotina († 13. Februar 1882), die Tochter eines Priesters.

 

Am 4. Dezember 1878 weihte Bischof Feoktist von Simbirsk und Syzran' Michail S.Florensov zum Diakon und zwei Tage später zum Priester für den Dienst in der Kathedrale des hl. Nikolaus in Simbirsk. Im Juni 1887 wurde der verwitwete Vater Michail S.Florensov zum Rektor des Geistlichen Seminars Samara ernannt. Am 2. August 1887 wurde er von Bischof Varsonofij von Simbirsk und Syzran' im Simbirsker Pokrov-Kloster mit dem Namen Antonij zu Ehren des hl. Antonius von Rom, Wundertäters von Novgorod (Festtag am 3. August), zum Mönch geweiht; am 6. August erhob ihn der Bischof in den Rang eines Archimandriten der Dreieinigkeitskathedrale von Simbirsk.

 

In seiner Eigenschaft als Rektor des Geistlichen Seminars von Samara lehrte der Archimandrit Heilige Schrift bis zur 6. Klasse. Einer seiner Studenten, Dimitrij Bogoljubov (später Erzpriester), ein berühmter Missionar, Professor und Beichtvater an der Moskauer Geistlichen Akademie († 22. Juni 1953) erzählt von ihm mit folgenden Worten: "Ehrlich in seinen Urteilen und Entscheidungen zur Zeit, aber unveränderlich wohlwollend, wurde unser Vater Rektor von seinen Studenten geliebt wegen seiner Offenheit, seiner Einfachheit, seines Ernstes im Umgang mit ihnen und wegen seines väterlichen Wunsches, jedem zu helfen, seinen Weg zu finden".

 

In all seinen Jahren als Pädagoge schrieb Archimandrit Antonij nichts, obgleich er unzweifelhaft ein begabter Theologe war. Später erklärte er: "Während ich lehrte, hatte ich keine Zeit zu schreiben, ich studierte und lehrte andere eifrig. Darüber hinaus hatte ich als Lehrer meine direkten Pflichten mit vielen anderen zu verbinden, die überflüssig und unnötig waren, wie den Vorsitz des Schulrates der Eparchie; für mich als Rektor war es eine große Last, die viel Zeit, Kraft und Gesundheit in Anspruch nahm und meine Studien zersplitterte. Ein Rektor, der fähig sein will, dem Seminar größeren Nutzen zu bringen, muss frei von allen Eparchiepflichten sein."

 

Volyn'

 

Am 12. Juli 1890 schlug der Hl. Synod Archimandrit Antonij zum Bischof von Ostrog und Vikar der Eparchie Volyn' vor. Am 12. August 1890 wurde er in der Dreieinigkeitskathedrale der Aleksandr-Nevskij-Lavra zum Bischof geweiht. Die Weihe wurde vorgenommen von Metropolit Isidor von Novgorod, St. Petersburg und Finnland, sowie Mitgliedern des Hl. Synods.

 

In seiner Stellung als Vikarbischof der Eparchie Volyn' hatte Vladyka Antonij die Aufsicht über das Volyner Geistliche Seminar in der Stadt Kremenec, leitete das Dermanskij-Kloster und war Leiter der Mädchenschule in der Eparchie Volyn', der Ostrog-Bruderschaft der hll. Kyrill und Method, der Ostroger Mädchenschule und eines Progymnasiums.

 

Am 30. April 1894 wurde Bischof Antonij dem Bischofssitz von Vologda zugewiesen. In seiner Abschiedsansprache an die Studenten des Volyner Geistlichen Seminars sagte er: "Ob mein Gesicht streng oder freundlich war, ich hatte euch immer gern, und wenn ich euch manchmal etwas verbot, war es zu euerem Nutzen und aus Liebe. Ein Vater ist auch streng mit seinen Kindern, weil er sie liebt, etwas, das niemand bezweifelt. Ich hatte keine Kinder und deshalb habe ich niemals elterliche Liebe gekannt, aber ich bin mir ihrer Kraft und Bedeutung bewusst, und meine Liebe zu euch ist nicht weniger väterlich".

 

Vologda

 

Man könnte annehmen, dass der Lebensweg von Vladyka Antonij vorgezeichnet war. Im Alter von 47 Jahren hatte er einen recht guten Ruf als gelehrter Hierarch, erfahrener Verwaltungsfachmann, begabter und strenger Pädagoge, der sich der Liebe seiner Gemeinde und seiner Studenten erfreute. Regelmäßig empfing er Auszeichnungen. Sein Übergang auf den Bischofssitz von Vologda schien nur eine wohlverdiente Beförderung im Leben. Aber die Dinge nahmen einen anderen Verlauf. In seiner neuen Eparchie fand Vladyka Antonij das System der theologischen Erziehung im Vologdaer Geistlichen Seminar und in der Eparchie-Mädchenschule unbefriedigend.

 

Er begann, Maßnahmen zu ergreifen, um die Bedingungen zu verbessern, aber sehr unerwartet und scharf wurde er von seinem Eparchialvikar, Bischof Varsonofij von Velikij-Ustjug bekämpft. Anklagende Briefe gingen im Hl. Synod ein, und der Vorsitzende des Synods, V.K.Sabler, bildete eine besondere Untersuchungskommission. Sie umfasste Erzbischof Ionafan von Jaroslavl' und Rostov, P.I.Nečaev und N.I.Tokmakov.

 

Nachdem sie die Fakten studiert hatte, kam die Kommission zu dem Schluss, dass die Vorwürfe gegen Vladyka Antonij unbegründet waren; dennoch wurde er gebeten, eine förmliche Erklärung abzufassen. Am 14. Dezember 1894 wurde Bischof Varsonofij auf eine andere Stelle versetzt – als zweiter Vikar der Eparchie Altaj mit dem Titel des Bischofs von Glazov. Aber nach diesen Ereignissen blieb Vladyka Antonij nicht lange leitender Hierarch. Seine Gesundheit verschlechterte sich beträchtlich. Am 12. Juni 1895 wurde er in den teilweisen Ruhestand versetzt und dem Erlöser-Jakob-Kloster in Rostov, Eparchie Jaroslavl', zugewiesen. Drei Jahre später, am 11. Februar 1898 ging Bischof Antonij in den Ruhestand. Zu dieser Zeit war er erst 51 Jahre alt. Am 20. April 1898 ließ er sich im Kloster der Gottesmutterikone vom Don in Moskau nieder. Auf den ersten Blick scheint es, dass die rasche Beförderung von Vladyka Antonij durch eine Kette zufälliger Umstände unterbrochen wurde, aber er selbst betrachtete dies als eine Manifestation der Weisheit der Göttlichen Vorsehung. Er sagte, dass es neben den Tätigkeiten, die nach außen hin sichtbar sind und häufig gelobt werden, auch solche geben muss, die verborgen sind und wenig Lob finden, obwohl sie ebenso lebenswichtig sind.

 

Moskau

 

Im Kloster der Gottesmutterikone vom Don bewohnte Vladyka Antonij die Räume, die später Seiner Heiligkeit, Patriarch Tichon gegeben wurden (im ersten Stock an der Klostermauer, zur Rechten des Eingangs).

 

Eines von Vladyka Antonijs geistlichen Kindern erzählte später: Bei meinen zahlreichen Unterhaltungen mit dem Vladyka im Kloster erlebte ich ihn in verschiedenen Zuständen; krank, zornig oder betrübt, aber niemals sah ich ihn träge, gleichgültig oder schwach. Seine besonderen Merkmale waren konstante Fröhlichkeit, Aufrichtigkeit und Bereitschaft zur Tat. Dies spiegelte sich in seiner Erscheinung wieder: Er war sehr hoch gewachsen, gerade, er trug eine Skuf'ja, hatte dunkle, strenge Augen in einem schmalen Gesicht. Dies ist es, woran ich mich am besten erinnere, obwohl ich ihn oft in anderen Stimmungen gesehen habe, humorvoll und auch eher abwehrend, aber sogar dann bemerkte man konstant seine Bereitschaft zum Kampf, zum kompromisslosen Tun. In Gesprächen äußerte er sich knapp, autoritativ und etwas ungeduldig. In seinen Unterhaltungen und Monologen war er geneigt, dramatisch zu sein, er benutzte eine lebendige und kraftvolle Sprache, reich an Bildern, indem er nicht die Umgangssprache und die Derbheit verschmähte, wenn es nötig war. Er empfing Besucher und gab ihnen geistliche Führung auf verschiedene Weise: Manchmal war es ein ausführliches und gelehrtes Gespräch, meistens als Monolog. Ich für mein Teil ging zu ihm wegen bestimmter Fragen. Es geschah aber häufig, dass Vladyka mich nicht einmal den Mund auftun ließ, sondern mich einlud, Platz zu nehmen, und gleich selber zu reden begann. Dennoch erhielt ich meist Antworten auf meine Fragen, wenn ich nur aufmerksam seinem weit ausgreifenden Monolog zuhört. Seine Gespräche betrafen verschiedene Dinge: Fragen, die sich mit dem Leben, mit Wissenschaft und Philosophie beschäftigten. Doch er hatte einige Lieblingsthemen: die griechische Sprache, Heirat und Familienleben und psychologische Themen, besonders bezogen auf die Wissenschaft, die noch nicht bestand, und die Vater Pavel Florenskij Biographik nannte.

 

Er beobachtete die Menschen und ihren Charakter nicht nur als geistlicher Vater, sondern auch als Psychologe. Jahr für Jahr machte er Aufzeichnungen von gewissen Personen und entwarf meisterhafte psychophysiologische Portraits der Menschen. Ich glaube, es geschah unter seinem Einfluss, dass Vater Pavel Florenskij sich selbst die Aufgabe stellte, die Gesetze zu entdecken, die eines Menschen individuelle Biographie bestimmen, die Charakteristika des Alters, der Krisen, die Eigenart des Vornamens und seinen Einfluss auf das Leben. Die ausführlichen Beobachtungen und Schlussfolgerungen, die Vladyka in diesem Bereich erarbeitete, wurde von ihm besonders auf zwei Bereiche des täglichen Lebens angewandt: auf Heirat und Berufswahl. Er schätzte die Familie und das Familienleben sehr hoch; er hatte sehr lebendige Vorstellungen von Haus, Heim und Familie, von ihrer Priorität, Rechtmäßigkeit und Segenhaftigkeit. Er maß den Mahlzeiten besondere Bedeutung zu, die man zusammen einnahm, indem er sie nicht bloß als eine Befriedigung von jemandes Appetit, sondern als ein Ritual betrachtete. Das Mahl, zubereitet von der Hausfrau, und das Essen in einem Restaurant, für die Allgemeinheit von unbekannten Personen gekocht, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ein Ehemann sollte nur die Nahrung essen, die seine Frau mit ihren eigenen Händen zubereitet hat, pflegte der Vladyka zu sagen. Die Menschen wandten sich oft an ihn mit allen Arten von Problemen wie familiären Streitigkeiten, Scheidung, Erziehung der Kinder und Wahl eines Partners. Er prüfte sorgfältig die Tatsachen der Situation, und oft löste er klug Probleme, die unlösbar erschienen.

 

Vladyka Antonij war sich ungewöhnlich stark seiner Vollmacht und Autorität als Bischof der Allgemeinen Kirche bewusst. (2) Er hatte einen umfassenden Blick auf die konventionellen Formen der Kirche seiner Zeit, und obwohl er sich oft der Situation zu unterwerfen hatte, hielt er stets seine innere Freiheit aufrecht. Sein schwieriges Leben brachte glänzend Vladyka Antonijs angeborene Eigenschaften zum Vorschein: Sein Charakter wurde ins Gleichgewicht gebracht und gegen Ende seine Lebens gemildert, obwohl er sich selber treu blieb. Er hatte niemals Langeweile und fand stets irgendeine Beschäftigung für sich. Er führte immer das kirchenslavische Evangelium mit sich und trennte sich auch dann nicht davon, wenn er mit der Bahn reiste. Er war durch und durch Kirchenmann, aber niemals fanatisch. Er hatte eine strenge Auffassung von Pflicht. Er besaß einen perspektivischen und tiefen Geist und große Empfindsamkeit. Vladyka Antonij war Philosoph, Mathematiker, Künstler und Dichter; er näherte sich Problemen der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und der Natur offen und frei. Er war auch ein Kenner der alten griechischen Kultur, die fähig war, die göttlichen offenbarten Wahrheiten zu erfassen und auszudrücken.

 

Vladyka Antonij hatte die reine Seele eines Kindes; Leiden machte ihn nicht gefühllos, sondern lehrte ihn Mitleid. Er war bereit, alles für andere zu opfern; im Dienst an anderen sich selbst ganz zu vergessen; um jemandem einen Augenblick Glück zu geben, war er bereit, jahrelang zu leiden; er akzeptierte das Leiden als Gottes heiligen Willen. Diese Charakterzüge waren wahrlich außergewöhnlich. Allen, die unter seiner Führung waren, wurde der Vladyka in geistlicher Hinsicht unersetzlich. Es war nicht nötig, ihn zu sehen oder mit ihm zu sprechen. Es genügte zu wissen, dass er deiner gedenkt.

 

Trotz seiner großen Gaben war Vladyka Antonij sehr bescheiden. Dies zeigt folgende Tatsache. Am 1. September 1912 bot der Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie, Erzbischof Feodor von Volokolamsk, Vater Pavel Florenskij die Herausgeberschaft des Bogoslovskij Vestnik an. In diesem Zusammenhang schrieb Vater Pavel Florenskij einen Brief an V.F.Ern. Er enthielt eine Liste von Personen, die er gerne in den Mitarbeiterstab seiner Zeitschrift berufen wollte. Einer der Namen dieser Liste war der seines geistlichen Vaters. Dabei stand die interessante Bemerkung: "Ich weiß nicht, wie er dies auffassen wird". Tatsächlich nahm Vladyka Antonij dieses Angebot nicht an, sondern verbot, seinen Namen im Bogoslovskij Vestnik zu erwähnen.

 

In einer Anzahl von Artikeln über das Mädchengymnasium von Sofija Nikolaevna Fischer (1835-1913), die vorbereitet waren mit der Unterstützung von Vater Pavel Florenskij, wird die Rolle von Vladyka Antonij nur anonym erwähnt. Vladyka Antonij hielt dies für eine ideale Schule, die wesentlich, aber nicht "offiziell" vom Geist christlichen Glaubens geprägt war. Dies war es, was er selbst in Simbirsk, Samara, Volyn' und Vologda erstrebt hatte. Wie Vladyka Antonij es ausdrückte, war ihm das Gymnasium lieb in Gedanken, Geist und Seele. Es war bekannt für seinen hohen Ausbildungsstandard in Griechisch, der Lieblingssprache von Vladyka Antonij. Seine Gedanken über die Wichtigkeit der griechischen Sprache erklären zu einem hohen Grad das Interesse an philosophischer Forschung seines geistlichen Sohnes, Vater Pavel Florenskij: "Wie ein Mensch aus Geist und Fleisch besteht, so entfalten sich die Wissenschaften in zwei Kategorien: einige beschäftigen sich mit dem Geist und andere mit der Materie. Die Wissenschaften, die sich mit dem Geist beschäftigen, die von Gott lehren, vom Ursprung der Welt und des Menschen, sind Philosophie, Theologie und Philologie, und der Schlüssel zu ihnen ist die griechische Sprache. Wie kann man eine von ihnen studieren ohne diese Sprache zu kennen? In analoger Weise ist die Mathematik der Schlüssel zu den Naturwissenschaften."

 

 

Schluss