Meine
kleine Schwester
Johanna
Gertrud Anna
Geboren als drittes Kind der Eheleute Johanna und
Heinrich, am 17. April 1951 in Asperden. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen
auf; drei Kinder teilten sich ein kleines Rad. Doch die Umgebung gewährte große
Freiheit. Besonders gut konnte man sich unter dem Tabaktrockenschuppen
verstecken. Dann nahm der Vater eine neue Gärtnerstelle in Kevelaer an. Die
Katze musste auf dem Umzugwagen
fest im Arm gehalten werden; sie wollte zurück. Die neue Wohnung hatte runde
Wände, wir wohnten im Wasserturm. Viele Treppen und Etagen ging es hoch zum
Wasserbassin. Neue Spiele prägten die Kindheit. Dann wurde das Haus in der
Römerstraße frei, auch die Kinder zogen das Mobiliar auf einem Wagen mit einer
Achse zur neuen Wohnung. In der Küche gab es ein großes Spülbecken mit kaltem
Wasser. Gabriele wohnte mit ihrer Schwester in einem Zimmer im Obergeschoß.
Winters war das Waschwasser in der weißen Kanne oft gefroren. Gabriele besuchte
die Volksschule in Kevelaer. Dann überlebte sie die Ausbildung zur Verkäuferin
bei einer harten Lehrmeisterin. Und weitere harte Dienststellen. Doch jetzt
trat der Engel Josef in ihr Leben. Die große Hochzeit war am 1. Oktober 1971.
Große Freude bereiteten ihr Kinder. Dem sprachbegabten Markus folgten das
erwünschte Mädchen Severine und der herzgewinnende Christian. Inzwischen war
die Familie aus Barnstorf nach Kevelaer, ins Haus der Eltern gezogen. Gabriele
trug nicht nur die Sorge um die drei Kinder, sondern auch die für die demente
Mutter.
Vielleicht gerade aus dieser Situation heraus,
absolvierte Gabriele eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Meist übernahm sie
Nachtdienste oder arbeitete im ambulanten Bereich. Die Pflege bestimmte ihr
Leben. Bis kurz vor ihrem Tod pflegte sie eine Nachbarin; es ging bereits weit
über ihre Kraft.
Gerne gestaltete Gabriele auch die Arbeit im Verein
„Eisenbahnfreunde Kevelaer“ mit. Es gab offene Tage mit Ausstellungen für
Interessierte von nah und fern. Arbeit gab es in der Organisation, im
Kassenbereich, und Kuchen musste gebacken werden.
Josef und Markus waren die Gestalter im technischen Bereich. So konnte man die
Eisenbahn als Familienhobby betrachten.
Gabriele schulte ihre Sopranstimme im Chor; sie sang
gerne. Erst als ihre Kraft zum Stehen nicht mehr ausreichte, gab sie die
Chorarbeit auf.
Die aktive Teilnahme an den Kegelabenden wurde nur
unterbrochen, wenn ein Krankenhausaufenthalt oder eine Kur anstand. Mit den
Kegelfreunden konnte Gabriele auch gut „lecker essen“.
Mit Familie und ihren Freunden machte Gabriele
zahllose Ausflüge, Freizeiten, Radtouren und Reisen. Trotzdem meinte sie bei
ihrem Abschiedsbesuch in Hannover, dass die Romreise
mit Michael und mir ihre schönste Reise gewesen sei. Sie kletterte sogar in die
Turmspitze des Petersdomes und genoss die Aussicht
mit uns.
Die Kinder strömten nach Hause und fanden Häuser in
Kevelaer.
Und das Allerbeste waren die Enkelkinder. Stundenlang
schwärmte Gabriele von ihren Begegnungen mit Thomas und Sarah. In ihrem Haus
standen die Spielzeuge für die beiden Kinder bereit. Sie traten durch die
Haustüre und konnten gleich spielen.
Bis zuletzt war die Liebe zu Katzen bei Gabriele
augenfällig. Da fütterte sie eine Nachbarskatze vor ihrer Verandatür. Vorher
waren Phasen mit eigenen Katzen und die Sammelleidenschaft für Katzenfiguren
aller Art.
Rituale führten Gabriele durch den Tag und durch das
Jahr. Ich konnte kein Geschirr in ihre Spülmaschine räumen, da ich den
zugehörigen Platz nicht kannte. Wichtiger waren die Käsefonduefeste zu
Weihnachten oder die Geburtstagsabläufe, das Gästebuch und der Platz in ihrem
Auto für ihre Reisesachen.
Gabriele liebte das Kochen und ihre Familie liebte
ihre Gerichte. Doch es verdross sie sehr, dass ihr Josef keinen Knoblauch mochte.
Freizeit war für Gabriele auch Schwimmen. Den ganzen
Sommer über traf sie sich mit ihren Schwimmfreunden im Freibad. Und dann las
sie gerne; ihre Bibliothek wies viele Neuerscheinungen auf.
Mit ihrem Glauben hielt Gabriele es wie die
Madagassen. Der Mensch wendet sich mit seinem Gebet nicht direkt an Gott. Das
ist Aufgabe der Ahnen. Die Ahnen, bevorzugt der Vater, sollte zwischen den
Lebenden und Gott vermitteln. So wie ich Gabriele verstanden habe, erfüllten
die Ahnen ihre Rolle gut. Sie gaben Gabriele Zuversicht in Zeiten von Krankheit
und „höherer Gewalt“. Soviel ich weiß, gab es aber keine Zeremonien, um die
Ahnengeister zu besänftigen. Sie waren auch ohne Ritual gegenwärtig. Und genau
diese Rolle wird Gabriele ab jetzt für ihre Familie einnehmen. Aus ihrer neuen
Welt wird sie wachen, warnen und schützen. Ihre unglaubliche Hilfsbereitschaft
macht sie zum Schutzengel. Das glaube ich.
Ansprache
bei der Verabschiedungsfeier am 28. 12. 2017 in Kevelaer
Gabriele (17.4.1951 Asperden -
15.12.2017 Goch) wurde in der Hervorster Straße 13c,
dem Haus mit dem roten Dach, geboren. Es war eine Hausgeburt.
Bald zog die Familie in das Haus gegenüber, die
umgebaute Remise (Pferdestall) der Familie Buff. Uns Kindern wurde manchmal das
Wort „Flichtlinge“ hinterhergerufen. Dabei wurde
nicht berücksichtigt, dass in Böhmen durchaus ein Ü
gesprochen werden konnte, außerdem handelte es sich nicht um eine Flucht,
sondern um eine Vertreibung, und schließlich stammt die Hälfte der Familie vom
Niederrhein und aus den Niederlanden: Dort ist sie seit 1290 nachweisbar.
Es gab einmal eine Radiosendung, bei der sich Gäste
äußern konnten: 9. August 1982. Mit Kain und Abel
fing alles an. Geschwisterbeziehungen. Hallo Ü-Wagen in Geldern mit Carmen
Thomas. Gabriele fuhr dorthin und
erzählte von ihrer Situation: Ihr Vater verstand sich gut mit seiner älteren
Tochter, ihre Mutter mit ihrem Sohn – und wo blieb sie?
Gabriele wurde zunächst Verkäuferin. Dass sie ihrer Tochter verbot, diesen Beruf zu ergreifen,
sagt einiges aus.
Gabriele hatte ein sonniges Gemüt. Wenn das Leben
Zitronen gibt, dann mache daraus Limonade, hätte ihr Wahlspruch sein können.
Wie bei vielen lustigen Menschen, war auch bei ihr die andere Seite stets
präsent. Als sie in der Berufsschule war, erschien in der Zeitung eine
Todesanzeige mit ihrem Namen. An diesem Tag verspätete sich Gabriele, und als
sie dann schließlich in der Klasse ankam, starrten sie die anderen an wie einen
Geist. Noch zweimal erschien ihr Name in den nächsten Jahrzehnten in
Todesanzeigen und sie fragte: „Wie oft soll ich denn noch sterben?“
Sie hatte drei Kinder.
Als die Eltern Hilfe brauchten, widmete sie sich
dieser Aufgabe. Beruflich arbeitete sie in der Altenpflege und setzte beim
Arbeitsamt durch, dass sie eine Zusatzausbildung für
die Therapie Dementer machen konnte.
Die Romreise im Jahr 2011 genoss
sie sichtlich, auch wenn die Besteigung der Kuppel des Peterdomes ihr einiges
abverlangte: Mit hochrotem Gesicht und schwer atmend, kam sie dort oben an.
Am Ende ihrer beruflichen Tätigkeit schenkte sie mir
Priesterkleidung und bemerkte dazu: „Solange Du noch eine Schwester hast…“
Sie hatte eine überbordende Liebe zu Katzen und zu
Skulpturen sowie Bildern ihrer Lieblinge. Sie war in einem Kegelklub und machte
auch im Verein der Kevelaerer Eisenbahnfreunde sowie bei Ballonfahrten mit.
Im Sommer 2017 zitierte sie Tante Hilde: „Der Mensch muss gepeinigt werden; sonst hat er keine Lust zu sterben!“
Sie sagte: Das Leben beginnt mit sechsundsechzig. Ja, aber das Neue Leben.
Fürbitten
Severine: Sei mit allen, die Mutti nahe
stehen, besonders mit Papa. Schenke uns die Kraft, das Unfassbare anzunehmen.
Markus: Wir danken Dir für alles, was wir gemeinsam
mit Mutti erleben durften.
Christian: Wir danken Dir für die Zeit, die wir mit
Mutti hatten und werden diese immer in Erinnerung behalten.
Severine: Lass uns nie vergessen, wie schön es war,
mit Mutti zu lachen und sie in unseren Herzen weiterhin mitlachen zu lassen.
Gabrieles
letzte Tage
In der Nacht auf den 1. Dezember 2017 hatte Gabriele
starke Schmerzen im Magen und konnte nicht mehr laufen. Sie kam auf die
Intensivstation des Wilhelm-Anton-Hospitals in Goch (Katholisches
Karl-Leisner-Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Voßheider Str.
214).
Es wurde festgestellt, dass
sie Krampfadern in der Speiseröhre hatte. Die Blutungen wurden gestillt, das
Blut aus dem Magen entfernt, und es ging Gabriele besser.
Am 14.12.2017 fiel sie ins Leber-Koma. Ich fuhr Hals
über Kopf nach Goch, Josef holte mich am Bahnhof ab und ich spendete Gabriele
die Krankensalbung.
Am nächsten Morgen starb Gabriele um 8.00 Uhr morgens.
Josef und Severine waren bei ihr.
Maasveen
Gabriele wollte, dass ihre
Asche im Wald verstreut werde. So machten wir uns am Freitag, 5.1.2018, auf und
fuhren nach Venlo-Maasveen, Grote Blerickse
Bergenweg 28, zum Natuurbegraafplats. Am vorherigen
Tag hatte es noch geregnet und der Wind wehte böig, doch an diesem Tag
versuchte die Sonne, die Wolkendecke zu durchdringen. Wir gingen mit einem Friedhofsangestellten,
der nach seinen Worten „versuchte Deutsch zu sprechen“, es aber sehr gut sprach, 550 Meter in den Wald hinein, wählten einen
Baum, der unten bemoost war und an dem erst ein einziges Begräbnis
stattgefunden hatte und das vor langer Zeit. Diddi
steckte einen braunen, dreieckigen Stein in die Erde, den Gabriele auf der
Fensterbank liegen hatte und als sehr angenehm zum Anfassen empfand, weil er so
glatt war. Severine schrieb auf eine kleine Baumscheibe, die der Angestellte
ihr reichte, mit dickem, schwarzen Filzstift: „OMARIA“,
wie Sarah es statt „Oma Maria“ gesagt hatte, und Severine las:
So geh Du nun, wir lassen Dich los. Mögest Du den Weg
nicht aus den Augen verlieren.
So geh Du nun, wir blicken Dir nach. Mögest Du stets
das Licht am Horizont sehen.
So geh Du nun, wir sind bei Dir. Mögest Du hören, wenn
jemand Dich ruft.
So geh Du nun, unsere Liebe verlässt
Dich nicht. Mögest Du spüren, dass Du nicht alleine
bist.
So geh Du nun, unsere Wünsche begleiten Dich. Mögest
Du wissen, dass Dich jemand empfängt.
So geh Du nun, unsere Hoffnung umgibt Dich. Mögest Du
erkennen, das neue Land ist ewige Heimat.
So geh Du nun, wir lassen Dich los.
Währenddessen streute ich die Asche aus der schwarzen
Urne, die aus Mais gefertigt war, rund um den Baum. Ich sagte Worte aus der
Heiligen Schrift und wir alle beteten das „Vaterunser“ und das „Gegrüßet seist du, Maria“. Dann steckten wir Tulpen in das
Moos: Josef eine rote, Markus, Severine und Christian weiße, Claudia,
Stephanie, Sarah, Diddi, Thomas und ich gelbe. Ich
las das Gedicht aus dem Jahre 1944 von Ah Long (Shen Shumei,
1907-1967, im Gefängnis gestorben):
Tritt nicht auf den Tau, weil einer in der Nacht
geweint hat.
Meine Liebe, nur zu deutlich erinnere ich mich, wie
ich dir im Kerzenlicht aus traditionellen Büchern vorlas.
Bete aber nicht auf diese Weise für mich; ich gehe mit
dem Leib, der dir gehört, zu Gott.
Berechne nicht den Raum zwischen den Sternen, rechne
nicht nach Lichtjahren.
Rechne nach der universalen Schwerkraft, nach
Lichtern, die sich gegenseitig beleuchten.
Blicke auf zu einer weißen Blume: Wir verwelken und
fallen.
Markus nahm die Koordinaten des Baumes in sein
Smartphone auf. Nachher gab es bei Josef Kaffee und Kuchen. Während die Kinder
„Kakerlaken“ spielten, wurde Gabrieles Schmuck verteilt.
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025