Gemeinschaft
Die Suche nach Gemeinschaft beschäftigte mich jahrzehntelang.
Ich wuchs in einer Familie von Heimatvertriebenen auf. Die anderen Kinder des Dorfes riefen uns „Flichtlinge“ hinterher. Wir galten als Zugereiste. Die Ablehnung wurde durch unser Äußeres verstärkt: Wir trugen Kleidung, die aus brauner Schafswolle gestrickt war und spöttische Kommentare hervorrief.
Im Internat fuhren einige Schüler eines Tages mit der Fähre über den Fluß. Ich ging mit einem Mitschüler einige Schritte spazieren, dann stellten wir uns auf breite Steine am Ufer. Das Wasser war hier seicht. Ich legte den Arm um die Schultern meines Mitschülers; so standen wir da und blickten auf die leichten Wellen, die durch vorüberfahrende Schiffe erzeugt wurden.
Einige Zeit danach sagte mir dieser Mitschüler, sein Vater sei Stadtgärtner, während mein Vater nur Arbeiter in einer Gärtnerei sei. Dabei schaute er mich hochmütig an. Ich hatte vergeblich gehofft, daß wir Freunde würden.
Dem stand allerdings die Schülerregel entgegen, welche bestimmte:
„Ein zu enger Zusammenschluß zweier Schüler reißt eine Kluft in die Gemeinschaft und verengt deine Entwicklungsmöglichkeiten. Wenn du eine besondere Zuneigung zu einem anderen verspürst, so brauchst du dich nicht zu schämen. Sprich aber mit deinem Beichtvater darüber; damit stellst du dich unter eine heilsame Kontrolle.“
(Der Missionsschüler in der Gesellschaft des Göttlichen Wortes, Steyl 1958, 56).
In meiner Klasse gab es hervorragende Fußballspieler. Sie bildeten ein sogenanntes Klübchen. Ich litt schon als Kind unter einer gravierenden Sehschwäche. Deswegen waren alle meine heroischen Anstrengungen, das Fußballspiel zu erlernen, vergeblich. Die Folge war, daß ich in der Klasse isoliert war. Ich war ein Außenseiter. Man sprach vom „Einzelgänger“.
„Libri amici tui sunt“, schrieb die Schülerregel (S. 35). Bei der Lektüre tauchte ich in andere Zeiten und Räume ein, lernte seltene Wörter, studierte komplizierte Sachverhalte und versuchte, tieferen Fragen nachzugehen.
(Cicero, Epistulæ ad familiares 9, 1, 2: „Cum veteribus amicis, id est cum libris nostris.“)
Im Studium ging ich meine eigenen Wege. Ich beschäftigte mich mit orientalischen Sprachen und galt daher als Gelehrter im Elfenbeinturm.
(Dieser Begriff stammt überraschenderweise aus dem Hohenlied 7, 5: „Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein.“)
Ich machte dann ein Experiment mit einer kleinen Wohngemeinschaft. Wir beteten gemeinsam das Stundengebet und tauschten uns über mystische Traditionen aus.
Der Vorteil einer kleinen Gemeinschaft ist die Nähe und Unmittelbarkeit. Dies ist jedoch zugleich ihre Schwäche: Bestimmende Menschen können sich viel leichter durchsetzen und nachgiebige verlieren Entfaltungsmöglichkeiten.
An meiner ersten Stelle gab es lautstarke Opposition und harten Widerstand, weil ich nicht die Art meines Vorgängers hatte. Aber ich konnte eine wachsende Zahl Jugendlicher motivieren, sich für fairen Handel, Umweltschutz und die Eindämmung der Gewalt einzusetzen. Wir arbeiteten gemeinsam, machten Musik miteinander und bereiteten einfache Mahlzeiten zu.
Von Anfang an war ich in der Migrantenarbeit tätig. Ich besuchte die Familien, versuchte, Schwierigkeiten beruflicher oder bürokratischer Art zu lösen und fand herzliche Aufnahme.
Dann wurde ich Mitglied fast aller Vereine des Dorfes, in dem ich lebte. Ich besuchte die Veranstaltungen und verbrachte dabei eine gute Zeit. Ich hatte das Gefühl, von der Gemeinschaft getragen zu werden. Es war ein Geben und Empfangen; wir halfen uns gegenseitig.
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025