Glaube und Wissen bei Lev Šestov

Heinrich Michael Knechten

Immanuel Kant spricht in seiner "Kritik der Vernunft" davon, dass die Metaphysik drei Fragen zum Gegenstand habe: Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit. Sein Ergebnis ist, dass sich keine dieser drei metaphysischen Wahrheiten beweisen lasse und dass es keine Metaphysik als Wissenschaft geben könne. Man sollte meinen, diese Entdeckung hätte Kant bis auf den Grund seiner Seele erschüttern müssen. Keine Spur davon! Ruhig, fast feierlich erklärt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen". Er fährt fort: "So bleibt es immer ein Scandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns blos auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es Jemand einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis entgegenstellen zu können." Das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit lassen sich nicht beweisen, dies kränkt also weder die Philosophie noch die menschliche Vernunft, das alles wird auch ohne Beweise hingehen und sich mit dem "Glauben" begnügen, was aber die Dinge außer uns anbelangt, so sind um jeden Preis Beweise nötig, obwohl das Dasein der Dinge außer uns, wenn man den Ausgangspunkt Kants annimmt, hinsichtlich der Beweisbarkeit in keiner beneidenwerteren Lage ist als Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit.

Diese bemerkenswerten, geradezu herausfordernden Gedanken finden sich im Vorwort des Buches "Athen und Jerusalem" von Lev Šestov. Wer ist er?

Jehuda Lejb Švarcman (Schwarzmann) wird am 31.1.1866 in Kiev als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns und Inhabers einer Manufaktur geboren. Im Alter von zwölf Jahren wird er von Anarchisten in der Hoffnung auf ein hohes Lösegeld entführt. Sein Vater ist, wohl auch auf Druck der zaristischen Regierung, nicht bereit zu zahlen; dennoch wird Jehuda Lejb nach einiger Zeit freigelassen. Dieses traumatische Ereignis ist wahrscheinlich einer der Gründe dafür, dass sich der spätere Philosoph immer wieder mit dem Problem des Bösen beschäftigt, aber auch mit der Frage des Unmöglichen und Aussichtslosen.

Jehuda Lejb schließt sein juristisches Studium in Moskau und Kiev 1889 ab. Seine Dissertation über die Arbeitergesetzgebung in Rußland wird von der Zensur nicht zur Verteidigung zugelassen.

1895 unterzieht sich Jehuda Lejb einer neurologischen Operation. Diese Zeit ist für ihn von Verzweiflung geprägt. Er hat eine Offenbarung des Todes, die ebenfalls sein Denken beeinflusst. Er hat das Empfinden, vom Todesengel heimgesucht worden zu sein. Seither ist er ein Eingeweihter in eine Schau, welche ihm die positive Sicht der Vernunft zweifelhaft macht.

Im gleichen Jahr 1895 geht er nach Rom. Er heiratet Anna Elezarovna Berezovskaja, eine orthodoxe Christin. Dieser Bruch mit der religiösen Tradition ist für seinen Vater nicht nachvollziehbar. Jehuda Lejb nennt sich fortan "Lev Isaakovič Šestov". Sein neuer Familienname enthält eine Anspielung auf das russische Wort "šest", einer Stange zum Rudern und gleichzeitigen Steuern eines Kahnes.

Ab 1921 lebt Šestov im südwestlichen Einzugsbereich von Paris (Clamart), dann im Vorort Boulogne-sur-Seine. Dort stirbt er am 20.11.1938.

Lev Šestov kämpft sein Leben lang gegen die unumstößliche "Selbstevidenz" (samoočevidnost') und den Absolutheitsanspruch der Vernunft. Im spekulativen Rationalismus und Positivismus erblickt er den größten Feind aufrichtiger Wahrheits- und Sinnsuche. Der "Schrankenlosigkeit der objektiven Vernunft" stellt dieser philosophische Mystiker seine "Apotheose der Abgründigkeit" entgegen.

Šestov sieht Philosophie als jene Kunst, welche sich bemüht, die logische Kette der Schlussfolgerungen zu durchbrechen und den Menschen auf das uferlose Meer der Phantasie hinauszutragen. Es geht ihm um eine Rückkehr zu den Quellen des Seins. Die aufgeklärten Schulweisheiten versklaven nach Šestov das Denken, anstatt es zu befreien. Je mehr positives Wissen wir erlangen, desto weiter entfernen wir uns von den Geheimnissen des Lebens. Denn wir sehen letztlich im Leben nur noch Gesetze und Normen.

Die "mittleren Zonen" des Lebens, in denen Aristoteles herrscht, haben aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinen Polen oder mit dem Äquator. Um über die Randgebiete des Seins urteilen zu können, muss man dort gewesen sein (Dlja togo, čtob sudit' ob okrainach bytija – nužno tam pobyvat': Umozrenie, 314).

In den Grenzen der reinen Vernunft lassen sich nach Šestov Wissenschaft und Moral konstruieren, aber es sei nicht möglich, Gott zu finden. Die Vernunft kann nichts Lebendiges erschaffen. Zugespitzt sagt er: Es geht nicht darum, das Wahre oder das Gute zu finden, sondern den lebendigen Gott, welchen die Propheten verkündigt haben und mit dem Hiob gerungen hat.

Die Freunde Hiobs erteilen diesem vernünftige Ratschläge, welche sie aus rationalen Betrachtungen ableiten. Allerdings haben sie dabei nicht Hiob im Blick, sondern das Allgemeine. Doch Hiob will von einem Allgemeinen, mit dem man nicht reden und kämpfen kann, gar nichts wissen. Gott beachtet nun nicht das untadelige und "richtige" Denken der Freunde, sondern hört auf Hiobs verzweifelten Schrei "aus der Tiefe".

Wissen und Glauben, Athen und Jerusalem hält Šestov für einen unüberwindbaren Gegensatz. Die Wissenschaft blickt stolz auf ihre Errungenschaften – aber der Nebel des Urgeheimnisses hat sich eher noch verdichtet. Kants "Glaube" war ein Glaube innerhalb der Grenzen der Vernunft, das heißt die Vernunft selber, nur mit verändertem Namen. Šestov dagegen setzt auf die Existenz des unberechenbaren Gottes und des lebendigen Menschen.

Albert Camus sieht in seinem Werk "Le Mythe de Sysiphe" (1942) Šestov zusammen mit Kierkegaard als Vorläufer des Existentialismus, weil jener die irrationale Seite des menschlichen Daseins wie kaum ein anderer herausgestellt habe. Die religiösen Konsequenzen, die Šestov daraus zieht, lehnt Camus allerdings als "unphilosophisch" ab. Heidegger veröffentlicht "Was ist Metaphysik?" (1929) nach einem Gespräch mit Šestov.

Es fehlt bei Šestov nicht an paradoxen Ideen, die allerdings zum Weiterdenken aufrufen. So hält er das Gleichgewicht zwischen der Bejahung des Seins und der Verneinung der Sinngrundlagen der Welt. Das Sein ist von Gott geschaffen und daher "die Fülle des Guten", die Welt dagegen betrachtet er als das Ergebnis eines auf dem Willen zur Erkenntnis beruhenden Sündenfalls (vgl. Gen 3,5f).

Im übrigen widerspricht Šestov sich selbst, da er mit einer ausgesprochen rationalistischen Argumentation versucht, gegen den Rationalismus zu kämpfen. Dies dürfte unter anderem dafür verantwortlich sein, dass weder Philosophie noch Theologie von ihm in jenem Maße Notiz nehmen, wie er es verdient hätte. N.A.Berdjaev ist ihm zwar freundschaftlich verbunden, äußert aber Ratlosigkeit darüber, ob Šestov für oder gegen den Menschen eintrete, und ob er nicht letztlich die Freiheit Gottes einenge.

Nun, Šestovs "spiralenförmige" und widersprüchliche Art des Denkens weist darauf hin, dass es ihm darum geht, den Gegenstand zu umkreisen, ihn in immer neuen Wendungen zu umschreiben, welche der Vielschichtigkeit und Hintergründigkeit der Realität Rechnung zu tragen versuchen. Auf diese Weise gibt er seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Vernunft über die dunklen Geheimnisse des Lebens nichts zu sagen hat. Positiv gewendet, versucht Šestov vom letztlich unsagbaren Geheimnis mystischen Erlebens zu sprechen. Tragisch dabei ist, dass seine Negation in weit stärkerem Maße Wirkungsgeschichte schrieb als seine Affirmation.

Literaturhinweise

1) Texte Šestovs

  • Dobro v učenii gr. Tolstogo i F.Nitše (Filosofija i propoved'), St. Petersburg 1900 (Nachdruck: Paris 1971).
    Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren. Mit Aufsätzen v. B.Groys, G.A.Conradi u. A. Remisow, übers. v. N.Strasser u. F.P.Ingold, München 1994.
  • Apofeoz bespočvennosti (Opyt adogmatičeskogo myšlenija), St. Petersburg 1905 (Nachdruck: Moskau 2000).
  • Sola fide – Tol'ko veroju (Grečeskaja i srednevekovaja filosofija. Ljuter i cerkov'), verfasst 1911-1914, Paris 1966.
  • Potestas clavium (Vlast' ključej), verfasst 1915, Berlin 1923.
    Potestas clavium oder Die Schlüsselgewalt, übers. v. H.Ruoff, München 1926.
  • Na vesach Iova (Stranstvovanija po dušam), Paris 1929.
    Auf Hiobs Waage, übers. v. H.Ruoff u. R. v. Walter, Berlin 1929.
  • Afiny i Ierusalim (1938), Paris 1951.
    Athen und Jerusalem.
    Versuch einer religiösen Philosophie. Mit einem Essay v. R.Panikkar, übers. v. H.Ruoff u. I.Gabler, München 1994.
  • Umozrenie i otkrovenie (Religioznaja filosofija Vladimira Solov'eva i drugie stat'i), Paris 1964.
    Spekulation und Offenbarung. Essays und Betrachtungen, übers. v. H.Ruoff, Hamburg u. München 1963.
  • Kirgegard i ėkzistencial'naja filosofija (Glas vopijuščego v pustyne), Moskau 1992.
    Kierkegaard et la philosophie existentielle, Paris 1936.

2) Untersuchungen zu Šestov

  • Baranova-Šestova, N., Žizn' L'va Šestova, 2 Bde., Paris 1983.
  • Berdjaev, N.A., Drevo žizni i drevo poznanija, in: Put' 1929, Nr. 18.
  • Berdjaev, N.A., Lev Šestov i Kirgegard, in: Sovremennye zapiski 1936, Nr. 62, 376-382 (Nachdruck: Tipy religioznoj mysli v Rossii, Bd. 3, Paris 1989, 398-406).
  • Goerdt, W., Russische Philosophie. Grundlagen, Freiburg u. München 21995, 590-593.
  • Kurabcev, V.L., Šestov Lev, in: Russkaja filosofija, hg. v. M.A.Maslin, Moskau 1995, 616-619.
  • R.Reschika, "Apotheose der Abgründigkeit". Lew Schestow als adogmatischer Denker, Südwestrundfunk 2 (1.1.2001).
  • Schultze, B., Russische Denker. Ihre Stellung zu Christus, Kirche und Papsttum, Wien 1950, 381-402.
  • Stankovič, N., „Justificatio Dei“ bei Lew Schestow. Der Kampf gegen das Böse, Dissertation, Rom 1982, Teildruck 1988 (93 Seiten).
  • Willeke, M., Lev Šestov. Unterwegs vom Nichts durch das Sein zur Fülle. Russisch-jüdische Wegmarken zu Philosophie und Religion, Religion – Geschichte – Gesellschaft 37, [Dissertation: Münster 2005] Berlin u. Münster 2006.

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