Die Wägung des Herzens

 

 

Die Wägung des Herzens, Szene aus dem Totenbuch des Ani, Neues Reich, Britisches Museum

Wenn es um die Ursprünge der Religionen geht, bieten sich Felsbilder an, die bis zu vierzigtausend Jahre alt sind. Der Nachteil ist, daß erklärende Texte fehlen, sodaß die jeweiligen Zusammenhänge nicht eindeutig geklärt werden können.

Eine zweite Quelle ist der Schamanismus, der in vielen Gegenden der Erde als älteste Religiosität faßbar ist, aber auch hier fehlen alte Schriftquellen.

Da bieten sich künstlerische Darstellungen aus Mesopotamien und Ägypten an, die jeweils von schriftlichen Aufzeichnungen erläutert werden.

Wer an ein Weiterleben nach dem Tode glaubt, macht sich Gedanken, wie diese Existenz aussieht. Wird sie von Verfehlungen, die geschehen sind, verdunkelt?

Von daher erklärt sich das sogenannte Jenseitsgericht, bei dem das Herz als Zentrum des menschlichen Lebens gewogen und überprüft wird.

In Ägypten gibt es alte Darstellungen dazu, Zum Beispiel:

Jenseitsgericht, Hathortempel, zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts vor Christus, Deir El-Medina

Im Alten Reich Ägyptens (2700-2200 vor Christus) entstand die Vorstellung, daß der Verstorbene seine Rechte vor einem ordentlichen Gericht unter dem Schutz des Götterkönigs wahren konnte. Dieser Götterkönig war der Sonnengott Re. In der Zeit zwischen dem Alten und dem Mittleren Reich, das von 2137 bis 1781 vor Christus Bestand hatte, trat Osiris, der Gott der Unterwelt, an seine Stelle, vor dem der Anspruch auf Verklärtheit vertreten wurde. Bildliche Darstellungen finden sich erst in den Totenbüchern des Neuen Reiches (1550-1070 vor Christus): Vor dem thronenden Osiris und den Mitrichtenden wird das Herz des Verstorbenen gewogen. Gegengewicht und Maßstab ist das Symbol der Maat (mꝪʽt: Richtigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit), Thot, der Herr des Wissens, fungiert als Schreiber und der hundeköpfige Totengott Anubis bedient die Waage. Ein krokodilköpfiges Ungeheuer droht, den Nichtanerkannten zu verschlingen. Im Kapitel 125 des Totenbuches ist das negative Sündenbekenntnis angeführt: Der Verstorbene bekennt, daß er sich weder juristisch noch kultisch verfehlt hat.

 

Das negative Bekenntnis bei der Herzenswägung, Ägyptisches Museum Turin, Photographie von H. M. Knechten

 

„Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach seinem Tun, nach den Früchten seiner Werke“ (Jer 17, 10).

Dieses Wort des Propheten Jeremija, der bis 585 vor Christus wirkte, enthält die wichtigsten Elemente des ägyptischen Jenseitsgerichtes: Der Herr allein prüft Herz und Nieren, das Innere des Menschen, um ihm nach seinen Werken zu geben.

Damit ist eine Brücke geschaffen, die bereitwillig aufgegriffen wird. Nicht mehr Osiris wägt die Herzen, sondern der Erzengel Michael.

Hans Memling, Jüngstes Gericht, Michael als Herzenswäger, 1473, Nationalmuseum Danzig

Der Erzengel Michael hat ein Verzeichnis der guten wie der bösen Taten eines jeden Menschen und wägt sie nach dessen Tod gegeneinander ab. Der Teufel versucht, die Waagschale der bösen Taten nach unten zu ziehen. Das aber verhindert Michael. Mit seinem Flammenschwert geleitet er den Verstorbenen ins Paradies.

Der Erzengel Michael wägt das Herz eines Verstorbenen, Antiphonale Cisterciense, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, Bibliothek des Stiftes Rein (Steiermark)

Colijn de Coter (1450-1539/1540), Michael wägt das Herz, Kirche des heiligen Alban, Altarbild, Mitte, Köln, 1505-1510, Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel. Die Münzen sind Almosen, welche der Verstorbene Bedürftigen gegeben hat. Er wird nach den leiblichen Werken der Barmherzigkeit gerichtet.

 

Bibliographie

o  Assmann, Jan, Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen 2007, 320.

o  Assmann, Jan, Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1995, 122-159.

o  Assmann, Jan, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 42.

o  Goddio, Frank, und Davis Fabre, Osiris. Mystères engloutis dʼÉgypte, Paris 2015; Osiris. Das versunkene Geheimnis Ägyptens, Übersetzung: Ludwig von Bomhard, Zürich, München, London und New York 2017.

o  Hornung, Erik (1933-2022), Ägyptische Unterweltsbücher, Zürich und München 1972; Die Unterweltsbücher der Ägypter, Zürich und München 1992.

o  Hornung, Erik, Altägyptische Jenseitsbücher, Darmstadt 1997.

o  Kolpaktchy, Gregoire (1886-1973), Vorwort von Étienne Drioton (1889-1961), Livre des morts des anciens Égyptiens, Paris 1954; Das ägyptische Totenbuch, Bern, München und Wien1970; vierte Auflage der Sonderausgabe 2004.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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