Leben und Werk Vladimir Il’ins*

Hilarion Petzold

[S. 253] Am 26. Oktober 1974 starb Vladimir Nikolaevič Il’in (* 29.8.1890),1) an seinem Schreibtisch über seinem Werk. Mit ihm ist der letzte Vertreter der großen Generation russischer Religionsphilosophen dahingegangen. Il’in gehörte mit N.Berdjaev, S.Bulgakov, S.Frank, N.Losskij, V.Vyšeslavcev und V.Zen’kovskij, zu den bedeutendsten Denkern der russischen Emigration.

Durch die widrigen Umstände seines Lebensweges – die russische Revolution riss ihn aus einer vielversprechenden Universitätslaufbahn und die nachfolgenden Jahre der Emigration ließen ihn in vielen Ländern Europas seinen Aufenthalt nehmen, ohne dass er irgendwo heimisch wurde2) – durch all diese Schwierigkeiten also und aufgrund der Tatsache, dass er den Großteil seiner Werke in russischer Sprache schrieb, ist dieser bedeutende russische Philosoph und Gelehrte nur wenig bekannt geworden. Sicherlich lag es auch in Il’ins persönlichem Wesen, das nach innen gekehrt und auf die Suche nach Erkenntnis gerichtet, den Belangen des praktischen Lebens nachlässig, ja hilflos gegenüberstand. Il’in gehörte zu jenen Gelehrten, die unermüdlich um den Gegenstand ihrer Forschung bemüht sind, deren ausschließliches Interesse die wissenschaftliche Arbeit ist, für die sie alle Kraft einsetzen. Es ist dies eine Art Aszese um der Ideen und Gedanken, um der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis willen, ein Engagement, das allein auf die Sache gerichtet ist und in seiner Totalität für jedes pragmatische, auf äußere Karriere gerichtetes Streben keinen Raum und keine Kraft übrig lässt. In diesem Sinne muss Il’in durchaus als der weltferne Gelehrtentyp angesehen werden, der ein Werk schreibt und es mit der letzten Seite in der Tat abschließt – das vollendete Gedankengebäude ist wesentlich, nicht die Edition. Und dennoch geht es dem russischen Denker um die Welt – hierin, in seinem Rekluseleben und seinem Engagement für die Welt ist er seinem Freund N.Berdjaev verwandt;3) aber er ist extremer. Der Universalismus seines Denkens umgreift weitere Bereiche. Il’in steht der Welt ferner und doch näher als Berdjaev. Er erfährt sie in den praktischen Wissenschaften, die sich mit der Natur und mit  [S. 254] dem Menschen befassen: der Biologie, der Medizin, der Physik und Psychologie; aber er nimmt diese Erfahrungen mit in seine Gedankenwelt, die fern von geschäftigen Kongressen und Publikationsbetriebsamkeit in seiner Gelehrtenstube gleichsam ein autarkes Reich bildet, das nur wenige Verbindungswege zur Welt des Alltäglichen, zur Welt der Menschen kennt: die Forschung, die psychotherapeutische Tätigkeit, die Lehre. Ein besonderer Weg stellt noch die Frömmigkeit dar, eine Frömmigkeit, die den Menschen Vladimir Il’in und sein Werk kennzeichnet und trägt, und die ihm bei aller Gelehrsamkeit, aller Universalität der Bildung zutiefst zu einem einfachen Menschen macht, einem Menschen "einfältigen Herzens".4)

In Verbindung mit den in Kyrios erschienenen (Jg. 1936)5) Arbeiten Il’ins ist die folgende Studie als ein Versuch zu betrachten, einen kurzen Überblick über das Denken Il’ins, sein weithin unbekanntes und unveröffentlichtes Werk und sein Leben zu geben; sie gilt gleichzeitig als Ausdruck der Verehrung und des Dankes, die der Autor ihm schuldet.6)

I. Biographie

Il’in darf mit P.Florenskij und V.Zen’kovskij zu den universalsten russischen Religionsphilosophen gerechnet werden. Vladimir Il’in wurde am 29./16. August 1890 (7) auf dem Gut seiner Großeltern Vadovka, Bezirk Radomysl, Kiev geboren. Seine Eltern, Nikolaus Il’in und Vera Nikolaevna geb. Čaplin, stammten aus altem russischen und schottischem Adel. Seine Gymnasial-Ausbildung erhielt Vladimir Il’in am IV. Kiever Gymnasium, nach dessen Abschluss er 1907 an der Universität von Kiev das Studium aufnahm. Und es scheint für einen Großteil russischer Religionsphilosophen symptomatisch zu sein, dass sie ihre wissenschaftliche Laufbahn an der naturwissenschaftlichen Fakultät begannen. Wie Askoldov (A.S.Alekseevič) Chemie, Florenskij Physik, Geologie, Mathematik etc., Zen’kovskij Elektrochemie, so studierte Vladimir Il’in Biologie, Psychologie, Medizin, Mathematik und Physik (als Schüler von Alexander Pfeifer, Dimitrij Grabe, Vovinskij, Volkobolkinov). Das Diplom der naturwissenschaftlichen Fakultät erwarb er mit einer These über die "Konstruktive Tätigkeit der Epera diademata und Tetragnata extensa" (1912). Es folgten Jahre der Spezialisierung an der medizinischen Fakultät, wo V.Il’in unter Anleitung von Franz Stefanis und Ivan I.Čiriev über die Anatomie und Physiologie des Großhirns arbeitete und sich der Psychiatrie widmete. Da Il’in seit 1910 am Konservatorium von Kiev Musikgeschichte und Kompositionslehre studierte, so nimmt es nicht Wunder, dass er, als er sich 1913 an der philosophischen Fakultät einschreibt, um Geschichte, Philosophie und klassische Philologie zu studieren, sich besonders mit Fragen der Musikgeschichte und -philosophie beschäftigte.8) Frucht dieser Arbeiten [S. 255] war ein monumentales Werk über "Probleme der Musikphilosophie bei Fürst Vladimir Odoevskij", aufgrund dessen er den Grad eines Magisters erwarb und als aggregierter Professor an die philosophische Fakultät der Universität Kiev berufen wurde (1917). In den unruhigen Zeiten der Revolution wurde das Werk während der Drucklegung zerstört. In den Jahren nach 1913 entstanden auch drei Symphonien, 4 Sonaten, zahlreiche Romanzen und Kammermusiken. Während seiner Lehrtätigkeit 1917/18 an der Philosophischen Fakultät (Einleitung in die Philosophie) beginnen die ersten Arbeiten zur "Logik der exakten Wissenschaft auf der Grundlage der Morphologie", ein Thema, das für die gesamte philosophische Arbeit Il’ins bestimmend bleiben sollte. Die Ereignisse der Revolution zwangen den jungen Dozenten 1918, Kiev zu verlassen. Kurze Zeit konnte er noch an dem Konservatorium von Žitomir, das damals von Prof. Mesteškin geleitet wurde, Vorlesungen über die Musik des 19. Jhdts., insonderheit über musiktheoretische Probleme bei Beethoven halten, doch als die Deutschen geschlagen wurden und die Ukraine verlassen mussten, wurde auch Il’in gezwungen zu fliehen. 1919 gelang es ihm schließlich, sich in Odessa nach Konstantinopel einzuschiffen. In der Metropole am Bosporus konnte Vladimir Il’in unmittelbar seine Lehrtätigkeit fortsetzen. Am "griechischen philologischen Syllogos" und am Theologischen Institut des Patriarchats von Konstantinopel zu Chalke versah er die Fächer Philosophie und Psychologie. An der medizinischen Fakultät hielt er Vorlesungen zu Problemen der Psychiatrie. Es waren die Jahre, in denen Prof. Whitemore, V.Il’in und einige andere russische Gelehrte, die im Zuge der Revolution nach Konstantinopel gekommen waren oder schon länger in den Institutionen der russischen wissenschaftlichen Gesellschaften in der Stadt am Goldenen Horn gearbeitet hatten und nun nicht in die Heimat zurückkehren konnten, die Herausgabe eines "Corpus Scriptorum Byzantinorum" in Angriff nehmen wollten. Aber auch diese Pläne wurden zerschlagen. 1922 mit den beginnenden Unruhen in der Türkei zog Il’in nach Ungarn, wo er bis 1924 zum Schüler und Freundeskreis S.Ferenczis gehörte, und bei diesem seine analytische Ausbildung erhielt. In dieser Zeit veröffentlichte er eine Reihe von Studien auf dem Gebiete der Tiefenpsychologie. Ende 1924 kam Il’in schließlich nach Berlin, um an der Universität der Reichshauptstadt bei Harnack, Strack, Baudissin, Greßmann, Troeltsch u.a. zu studieren. Im Berliner Kreis russischer Emigranten, die sich insbesondere um N.Berdjaev gesammelt und eine wissenschafliche Akademie gegründet hatten, fand Il’in seinen festen Platz. Aufgrund seines Werkes über den hl. Serafim von Sarov (1925) wurde Vladimir Il’in 1926 als Dozent an dem St. Sergius-Institut zu Paris für die Fächer Geschichte der Philosophie und Psychologie berufen. Mit der Bestellung zum ordentlichen Professor übernahm er [S. 256] dann noch das Fach Apologetik. Während des zweiten Weltkrieges wurde er als Germanophiler aus der Fakultät ausgeschlossen. Seine in russischer Sprache abgefasste Broschüre "Schatzkästlein deutscher Kultur" mag für diese Beurteilung mit maßgeblich gewesen sein. Durch Vermittlung von Prof. M.Vasmer konnte er an der slavistischen Abteilung der Universitätsbibliothek unterkommen. Am Psychologischen Institut der Universität las Il’in während der Zeit der Besatzung die Fächer experimentelle Psychologie und psychologische Diagnostik. Mit der Gründung des Instituts St. Denys übernahm er daselbst 1946 den Lehrauftrag für Philosophie und Psychologie. 1962 kam ein Lehrauftrag für Philosophie und Apologetik am russischen Seminar in Villemoissons hinzu. Im gleichen Zeitraum (1948-1952) las Il’in auch noch am russischen Konservatorium das Fach Musiktheorie. In den Jahren 1958-63 versah er eine Gastprofessur in Bergamo mit einer Vorlesungsfolge "Storia della letteratura Russa". Bis zu seinem Tode lehrte Vladimir Il’in am Institut St. Denys Philosophie und Psychologie und gab im Exarchat des russischen Patriarchats in Westeuropa regelmäßige Vorlesungsfolgen in den Fächern Religionsphilosophie und Religionspsychologie (seit 1960). 1958 wurde ihm für seine theologischen Arbeiten von der Moskauer geistlichen Akademie der theologische Doktorgrad honoris causa verliehen.

II. Zur Philosophie von V.N.Il’in

Das philosophische Denken Vladimir Il’ins ist universal angelegt. Es richtet sich sowohl auf den Bereich der Naturwissenschaften als auch auf die Metaphysik; ja es ist ein zentrales Anliegen des russischen Denkers, diese beiden Bereiche zu verbinden und zu zeigen, dass zwischen ihnen kein Gegensatz, sondern eine unlösbare Beziehung besteht. Seinen künstlerischen Neigungen folgend, findet sich eine entwickelte Philosophie der Ästhetik genauso in seinem Werk wie die intensive Beschäftigung mit Fragen, die durch die Erkenntnisse der modernen Physik, Mathematik, Medizin oder Psychologie – Fächern, denen er als Naturwissenschaftler besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte – aufgeworfen werden. Il’in versteht sich in seinem Werk immer wieder als Naturwissenschaftler, denkt in naturwissenschaftlichen Kategorien. Aber unlösbar damit verbunden sieht er die Geisteswissenschaft, die er mit den exakten Wissenschaften zu einem geschlossenen, allumfassenden philosophischen Gebäude zu verbinden sucht. Schlüsselbegriff in diesem Unterfangen ist die Physik und die Metaphysik des Lichtes, indem durch Interpretation der beiden grundsätzlichen aber miteinander divergierenden physikalischen Definitionen des Lichtes (Ondular- und Korpuskulartheorie) aufgezeigt wird, dass das natürliche Licht in einem Grenzbereich des physikalisch Erklärbaren steht und man es daher geradezu als "halbmetaphysische" [S. 257] Wirklichkeit bezeichnen kann, die dem unerschaffenen, geistigen Licht verbunden ist. Die Theorien des Gregorios Palamas über die göttlichen Energien bzw. das unerschaffene Licht (Thaborlicht) dienen ihm als metaphysische Grundlage. Il’in bringt hier als dritte Komponente seines Denkens neben den natur- und geisteswissenschaftlichen Kategorien theologische Kategorien in seine Philosophie ein, und zwar als „ein Mensch, der von der Biologie und Psychologie herkommend und in den Geisteswissenschaften hervorragend ausgebildet, erkannt hat, dass Natur- und Geisteswissenschaften nur Möglichkeiten und Instrumente sind, das zu erkennen, was von der Theologie oder präziser durch das Wirken Gottes grundgelegt und motiviert ist" (Mgr. J.E.Kovalevskij). Erkenntnis der Wirklichkeit also erfordert Ausrichtung auf die Erkenntnis des Göttlichen, Erkenntnis des Göttlichen aber muss ausgehen von der geoffenbarten Wahrheit der göttlichen Wirklichkeiten, da über diese außerhalb der Offenbarung im Sinne der apophatischen Theologie keine Aussagen gemacht werden können.

Um das umfangreiche philosophische Schaffen Il’ins zu verstehen, ist es notwendig, dieses Zentrum seines Denkens zu beleuchten, da seine Gesellschaftsphilosophie, seine Anthropologie, seine Ästhetik, seine Ideen zur Musik und Literatur, seine Philosophie der Wissenschaften, seine "Allgemeine Morphologie des Seins und der Erkenntnis" von dieser Konzeption geprägt sind.

So soll denn im Rahmen dieser kurzen biographischen Studie auch nur dieser zentrale theologische Denkansatz Il’ins aufgezeigt werden, mit dem er in der Tradition der russischen Religionsphilosophie steht, deren Wurzeln einerseits in der slavophilen Philosophie, andererseits im Genius der russischen Literatur und nicht zuletzt in der lebendigen Spiritualität des Starzentums gründen. Diese drei Einflussbereiche haben die gesamte russische Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt, so auch das Denken von Vladimir Il’in. Es wäre aber sicher falsch, ihn als Neohesychasten, als Sophiologen oder als Anhänger der Philosophie der Sobornost’ klassifizieren zu wollen. Alle diese Elemente sind in seiner Philosophie vorhanden, aber sie haben keine Dominanz, sondern einen bestimmten Platz im Gesamtgebäude seines Denkens.

Den philosophischen Ausgangspunkt jeglicher empirischer oder metaphysischer Überlegung sieht Il’in in der göttlichen Wirklichkeit gegeben, d.h. aber in den uns von ihr über sie offenbarten Wahrheiten, die ihren Niederschlag in den Lehrverkündigungen der einen und allumfassenden (katholikos, sobornij)9) Kirche gefunden haben. Die dogmatischen Formulierungen der ökumenischen Konzilien sind deshalb ein Gegenstand, den Il’in in seinen Werken wieder und wieder aufgreift, indem er die aus den kirchlichen Dogmen abgeleiteten Gesetze zur Grundlage und zum Ausgangspunkt seines gesamten philosophi- [S. 258] schen Denkens macht. "Die vier ökumenischen Konzilien (Nizäa 325-332, Ephesus 331-34, Chalzedon 451 und Nicäa II 787) haben dogmatische Entscheidungen getroffen, die von fundamentaler, metaphysischer, philosophischer und wissenschaftlicher Bedeutung sind" (Il’in, 1928, 11). Mit diesen Konzilsbeschlüssen hat nach der Auffassung von Il’in eine neue Epoche der Geschichte der Metaphysik und der Wissenschaft begonnen oder hätte zumindest beginnen können, wenn ihre grundlegende Bedeutung von den Metaphysikern, Philosophen und Naturwissenschaftlem in ihrer ganzen Tragweite erkannt und genutzt worden wäre; denn die Lehrsätze dieser Konzilien weisen nicht nur auf die tiefe Bedeutung des christologischen Mysteriums – die Vereinigung des Menschen mit dem Absoluten – hin, sondem betreffen gleichermaßen die Grundlagen des philosophischen Denkens der Antike, des Mittelalters und auch der Gegenwart, da sie die normativen Kriterien für Qntologie und Erkenntnistheorie beinhalten. Die Lehren von Nizäa und Chalzedon stellen also nicht nur eine an Weltanschauung oder Konfession gebundene Doktrin dar, sondern bieten Begriffe, die unabhängig davon die Beziehung der unbegrenzten, absoluten und der begrenzten, relativen Wirklichkeit bestimmen.

Nizäa I

Die Ausführungen Il’ins zu diesem Konzil befassen sich wesentlich mit dem Begriff der Konsubstantialität, der für das Denken der klassischen Logik unvollziehbar ist; denn es handelt sich bei Homoousie nicht um eine Identität, weil der Vater und der Sohn als verschiedene Hypostasen existieren, noch um eine Ähnlichkeit, weil diese verschiedene Wesenheiten voraussetzt. Es handelt sich viel mehr um eine Art "tertium datur", das die absolute Einheit des Wesens (Ousia) und der Natur (Physis) ausdrückt, zugleich aber einen absoluten Unterschied der persönlichen Hypostasen ohne jegliche Vermischung impliziert. Dieses Mysterium ist allein auf der Grundlage der vollkommenen und persönlichen Liebe möglich, die ihrerseits wiederum eine absolute Unterschiedenheit und Unvermischtheit der Personen voraussetzt. So stellen sich Wesensgleichheit und Verschiedenheit der Hypostasen als ein "monoduelles und korrelatives Begriffspaar" dar. Die Begriffsverbindung von Einheit und Vielfalt sieht Il’in als das axiomatische Paradoxon an, auf dessen Grundlage allein philosophische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden können.

Ephesus

Der Gegenstand dieses Konzils ist der Grenzfall der Beziehung des absoluten, unbegrenzten und unerschaffenen persön- [S. 259] lichen und lebendigen Gottes, zu einer begrenzten, erschaffenen und lebendigen Person. Es ist dies die Beziehung des absolut vollkommenen Schöpfers zur Gottesgebärerin als vollkommenen Geschöpf, eine Beziehung, die sich in der Welt, in der Begrenztheit von Zeit und Raum vollzieht. Der Unbegrenzte hat sich begrenzt und damit der Schöpfung die Möglichkeit zur Teilnahme an seiner Ewigkeit gegeben. So wie der Menschensohn von seiner Mutter ohne Vater (Joh 1,13) geboren wurde, so wurde er in Ewigkeit vom Vater ohne Mutter gezeugt (Ps 2,7). All dies weist auf das Absolute in seiner Existenz hin, die jenseits von Sein und Nichtsein steht.

Chalzedon

Das vierte Konzil ist in seinen Aussagen unlösbar mit denen des ersten und dritten Konzils verbunden. Auf ihm wurden die Prinzipien der Vereinigung der unbegrenzten und unerschaffenen Natur, des Absoluten mit der begrenzten und erschaffenen Natur des "Menschen kat'exochen", Jesus Christus, definiert. Im Gottmenschen werden die göttliche Hypostase, das göttliche Wesen (Ousia) und die göttliche Natur (Physis) mit der menschlichen Person, dem menschlichen Wesen und der Menschennatur unlösbar verbunden.

In seiner göttlichen Hypostase ist der Sohn dem Vater und dem Geist wesensgleich (homoousios). Mit seiner menschlichen Person nimmt er an der Natur aller Menschen (adam kadmon) teil und ist dieser wesensgleich (homoousios). So kommuniziert die ganze erlöste Menschheit, die unter dem Haupt des Gottessohnes das Corpus Christi mysticum (totus Christus caput et corpus, Augustin) auferbaut, über die göttliche Hypostase des inkarnierten Logos am göttlichen Wesen; ist jeder Mensch in der Theosis dem Vater, dem Sohn und dem Geist wesensgleich (homoousios).

Dies also ist das Prinzip der doppelten Homoousie, aus dem sich ableitet, dass Wesen (Ousia) und Person (hypostasis) eine Ganzheit bilden, die sowohl Gott und die Geschöpfe umfassen kann "ohne Vermischung, ohne Verwandlung, ohne Teilung und Trennung".

So ist auf diesem Konzil unter der Inspiration des hl. Geistes die innigste Verbindung des Unerschaffenen mit dem Erschaffenen ausgedrückt worden, ohne dass damit ein Zurückfallen in den Pantheismus einherging, – "denn dieser ist nicht nur eine theologische Häresie, sondern eine offenkundige Absurdität vom logischen und gnoseologischen Standpunkt".

Die chalzedonensische Definition beinhaltet neben diesen Aussagen zur Ontologie und Anthropologie auch noch eine Bestimmung der Ästhetik, indem die Vollkommenheit im Guten, die Wahrhaftigkeit im Wahren und der Glanz in der Schönheit, [S. 260] die der Theanthropos als höchstes Wesen besitzt, durch die vier formelhaften Kriterien des Dogmas gekennzeichnet werden: Die Abwesenheit von Vermischung (confusion), Veränderlichkeit, Teilbarkeit und Getrenntheit. Dies sind die höchsten morphologischen Kriterien des Seins, der Erkenntnis und der Vollkommenheit. Il’in kommt zu dem Schluss, dass die Definition des chalzedonensischen Dogmas eine morphologische Kategorie darstellt, die ewig neu ist, und dem Geschöpf die Möglichkeit eröffnet, die Mysterien des Absoluten und des Relativen, des Göttlichen und des Menschlichen in ihren wechselseitigen Beziehungen zu ergründen.

Nizäa II

Das siebente ökumenische Konzil hat das Prinzip der schöpferischen Tätigkeit der Menschen zum Gegenstand, das in der Ikone seinen besonderen Ausdruck findet. Das Wesen der Ikone ist offensichtlich von dem morphologischen Prinzip bestimmt, eine innere Wirklichkeit darzustellen: den Gottmenschen in seinem Sein und dessen vollkommenste Wiederspiegelung, die Heiligen. Die Ikone vermag auf Grund dieses Prinzips ein Abbild der innersten Beziehungen im Absoluten, d.h. der Beziehungen zwischen den göttlichen Hypostasen, wiederzugeben wie z.B. auf der Ikone der Hl. Trinität von A.Rublëv.

Nach ihrem Wesensprinzip trägt jede lkone als Form oder Morphem den Abglanz einer zweifachen Wirklichkeit: des göttlichen und des erschaffenen Wesens. Auf diese Weise wird das Wesen der Kultur im allgemeinen und der schöpferischen Tätigkeit des Menschen im besonderen verständlich; denn es ist nichts anderes als der Beitrag des Menschen zur fortschreitenden Vergöttlichung des Kosmos; des Menschen, der seinerseits durch den Theanthropos der Theosis zugeführt wird. Demzufolge wird von Il’in der höchste Ausdruck menschlicher Kultur in der ganzheitlichen Kunst des sakralen Raums mit seiner Hymnologie, der sakralen Architektur, der Ikonographie, der Kirchenmusik und des liturgischen Dramas gesehen. Der Bereich des Liturgischen und die in ihm vereinten Wirklichkeiten seien das vollendetste Werk der schöpferischen Gestaltungskraft des Mensehen, das durch seine Vollkommenheit gewürdigt ist, ein Gefäß für die unerschaffene Gnade, die im eucharistischen Opfer Gestalt gewinnt, bereitzustellen, das einen Raum bietet, in dem Gott gegenwärtig ist.

Von diesen Auslegungen, mit denen Il’in den Inhalt der Definition der ökumenischen Konzilien zu erschließen sucht, ist es möglich, zu den wesentlichsten Aussagen seiner Philosophie vorzudringen, die er selbst als "zwischen Existentialismus und Essentialismus, zwischem dem Idealismus und dem Materialismus, dem naturwissenschaftlich orientierten Denken und der geistes- [S. 261] wissenschaftlichen Haltung, zwischen der Physik und der Metaphysik stehend" bezeichnet. Es empfiehlt sich, die grundsätzlichen Aussagen des religionsphilosophischen Systems von Vladimir Il’in, das er als "allgemeine Morphologie des Seins und der Erkenntnis" benennt, in Form von Thesen vorzulegen, eine Methode, die Il’in selbst bevorzugt benutzt.

1. Das fundamentale Konzept des philosophischen Systems Il’ins, der "allgemeinen Morphologie", ist die Gestalt (eikon) oder die Form (morphe) der Wesenheit bzw. des Wesens. Dieses Konzept kann auch in ganz spezifischem Kontext als "Hypostase oder Antlitz des Wesens" ausgesagt werden.

2. Für Il’in sind Wesen und Natur ein und dasselbe, und die Unterschiede dieser beiden Größen sind lediglich funktioneller und terminologischer Art.

3. D.h., dass man den Begriff Natur dann verwendet, wenn sich das Wesen durch die Form manifestiert hat. Hier wird es sinnvoll von der "Natur" dieser Manifestation zu sprechen.

4. Wesen und Natur wiederum sind auf das zuriickzuführen, was man gemeinhin das Sein nennt. Der einzige Unterschied, der das Sein vom Wesen bzw. der Natur trennt, ist die Tatsache, dass im Sein, da es in sich jeder Eigenschaften entbehrt, das Maximum der Ausdehnung – das Unendliche – dem Minimum des Erfassbaren – dem Nichts – entspricht. In der Sicht von Il’ins ontologischer Morphologie erscheint das Sein gleichzeitig als Nicht-Sein, als ein Unendliches von Möglichkeiten, als eine unbegrenzte Potentialität, aber niemals als Realität etwa als Gestalt, als eine qualitative Existenz. Das Sein ist ein unendliches an Möglichkeiten und aus diesem Grunde fällt es, wie Hegel zeigte, mit dem Nicht-Sein zusammen (quid multum probat, nihil probat) und steht am Ursprung der Dialektik.

5. Sein, Natur und Wesen koinzidieren und die Wesenheit dieser drei Begriffe besteht im Undefinierbaren und folglich auch Nicht-Erkennbaren. Damit wird das Unerkennbare und Nicht-Seiende zur alleinigen Grundlage der Erkenntnis und der Existenz als Form und Gestalt. Für Il’in fallen so das Objekt der Ontologie und das Objekt der Erkenntnistheorie zusammen.

6. Il’in zieht bei der Beschreibung des Verhältnisses von Wesen und Existenz Parallelen zur Theologie: Das Wesen manifestiert sich in der Existenz in der gleichen Weise, wie die apophatische Theologie in der kataphatischen, oder wie das "unergründliche Wort" sich "im geoffenbarten Wort" manifestiert.

7. Die Existenz wird damit als eine morphologische bzw. ikonologische Erscheinungsweise des apophatischen, unaussagbaren Wesens aufgefasst, als "qualitative Existenz" der Essenz.

8. Ein zentraler Begriff im System Il’ins ist die Einheit, die als Einheit des Wesens (Konsubstantialität) gesehen wird. Ihr steht die Vielheit gegenüber, die sich in der Existenz manifestiert, d.h. in den Formen, den Gestalten, den Hypostasen. [S. 262]

9. Von diesen Prämissen ausgehend; versucht Il’in das Verhältnis des Geschaffenen zum Unerschaffenen zu bestimmen. Im ersten Bereich fallen Wesen und Existenz auseinander. Im zweiten Bereich koinzidieren sie. Der Bereich des Unerschaffenen und Absoluten existiert nur bildhaft (ikonologisch), morphologisch, in einer hypostatischen Weise; dergestalt, dass der absoluten Identität des Wesens (homoousia) die absolute Verschiedenheit der Formen bzw. Hypostasen der Existenz entspricht. Die Vielheit der Formen-Hypostasen und die Einheit des Wesens sind im Bereich des Absoluten und Unerschaffenen ein und dasselbe.

10. Die Vielfalt und Unterschiedenheiten sind als Verwandlung zu verstehen, als Variationen einer grundlegenden Form, eines fundamentalen Faktors (These), der durch die dynamische Einwirkung eines weiteren Faktors (Antithese) zustande kommt.

11. Die Natur bzw. das Wesen, das Sein in der erschaffenen Wirklichkeit muss einerseits auf das apophatische Sein-Nichtsein, andererseits auf die kataphatische Existenz, auf die Existenz als Form und Gestalt zurückgeführt werden.

12. So wird die Daseinsweise des Wesens als Form, als Existenz in Gestalt oder Hypostase gesehen; ja man kann nur in dieser Daseinsweise (modus existendi) als Form, Gestalt oder Hypostase existieren. In theologischen Kategorien gedacht heißt das, dass die Dreiheit der göttlichen Hypostasen die eigentliche Existenzform des göttlichen Wesens (ousia, essentia) ist; und man muss dem Aquinaten zustimmen, wenn er lehrt, dass Essenz und Existenz im absoluten Sein, in Gott, zusammenfallen. In diesem Sinne sind die göttlichen Hypostasen keine Variationen oder Abwandlungen.

13. Im modus existendi ist das Wesen, das gleichzeitig der Abgrund des Unerkennbaren ist, nicht durch die qualitative Gegenwart der Form bzw. der Hypostase begrenzt.

14. Erst durch morphologische Begrenzung manifestieren sich Kraft und Bewegung und in diesem Sinne ist die Schöpfung Begrenzung des wesenhaften und apophatischen "Nein" vermittels der Gestalt bzw. durch existentielle Formen im kataphatischen "Ja".

15. Nach Il’ins Auffassung fallen Licht und Form zusammen. Er unterscheidet aber zwischen erschaffenem und unerschaffenem Licht, erschaffenen und unerschaffenen Formen. In der erschaffenen Welt sind es philosophische Überlegungen, die sich mit der Natur des Lichtes befassen, und die auf einer optischen Geometrie und empirischen Physik gegründet sind. Für den Bereich des Unerschaffenen hingegen sind es theologische Überlegungen. die sich mit dem unerschaffenen Licht befassen. In diesem Sinne fasst Il’in die Theologie als die philosophische Reflexion über die geheiligte Natur auf, da sie das unerschaffene Wesen zum Gegenstand hat, wie es sich in seiner apophatischen Realität und kataphatischen historischen Wirklichkeit,  [S. 263] d.h. aber in seiner schöpferischen und erlösenden Providenz darstellt.

16. In seinem System ersetzt Il’in die Konzeption der Kausalität durch eine Konzeption der "morphologischen und multivalenten Konformität". Diese Aussage wird im Hinblick auf das Miteinander der ursprungslosen drei göttlichen Personen gemacht, zwischen denen keine Kausal- oder Konsekutivbeziehung, sondern eine Übereinstimmung in der Vielfalt besteht, die sich in der (Heils)geschichte vollkommen offenbart.

17. Das Wesen des Ungeschaffenen entspricht der unerschaffenen Sophia. Das Wesen der erschaffenen Dinge wird als erschaffene Sophia verstanden, wobei die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem jeweils unterschiedlichen Wesen der beiden Sophien sich durch die vier Definitionen des chalzedonensischen Dogmas bestimmen lassen, in denen die beiden Naturen in Christi beschrieben wurden, und die als "Kategorie der Vielheit" aufgefasst werden müssen. Diese Definitionen stehen in direkter Beziehung zum nizänischen Dogma, das die "Kategorie der Einheit" (homoousios) beinhaltet. Die vier Definitionen von Chalzedon sind für Il’in zugleich die fundamentalen Kriterien für jeden Versuch, die Probleme von Sein, Wesen, Existenz, der Formen, der Erkenntnis und der Werte zu lösen.

18. Die beiden Sophien, die sich in ihren jeweils unterschiedlichen Wesenheiten in den beiden Naturen Christi manifestieren, und zwar als erschaffene und unerschaffene Wirklichkeit, werden von den vier chalzedonensischen Definitionen bestimmt, die wiederum als Voraussetzung das nizänische Prinzip der Einheit im Sinne der Wesensgleichheit haben. Diese Einheit (homoousia) im Wesen und im Sein impliziert notwendigerweise eine Unterscheidung auf der Ebene der Formen, der Hypostasen, der Existenz bzw. der Qualtität und Gestalt. Aus diesem Grunde bedingen sich die beiden Dogmen gegenseitig bzw. schließen einander ein. Somit sind das triadologische Dogma der Einheit (homoousia) und das theanthropische Dogma der Vielheit die axiomatischen Ausdrucksformen des Seins, der Existenz, und der Erkenntnis.

19. Sowohl in bezug auf das Sein als auch hinsichtlich der Erkenntnis und natürlich im Hinblick auf deren wechselseitige Beziehungen koexistieren die Aussagen des chalzedonensischen und nizänischen Dogmas. Sein und Erkenntnis können ihre letzte Erklärung nur auf der Grundlage der nizäno-chalzedonensischen Definition erfahren, die damit gleichzeitig zum Fundament aller mit Sein und Erkenntnis befassten Philosophie und Wissenschaft werden, und die die allgemeingültigen Kriterien für Wahrheit und Irrtum bieten.

Von den in den voranstehenden Thesen aufgestellten Kriterien entwickelt Il’in seine philosophischen Überlegungen. Er gründet damit wie wohl kaum ein anderer der russischen Reli- [S. 264] gionsphilosophen auf theologisch-dogmatischen Lehrsätzen, deren Inhalt er für alle Bereiche zu erschließen sucht, ausgehend von der Überlegung, dass die Wirklichkeit nur von ihren eigentlichen Grundlagen, der göttlichen Wirklichkeit, erschlossen werden kann.

III. Das Werk. Eine Bibliographie

Das Schaffen Vladimir Il’ins ist von der Weite seiner Ausbildung und seiner Kenntnisse, dem Universalismus seines Geistes gekennzeichnet. Die Vielfalt seiner wissenschaftlichen Arbeitsgebiete macht eine exaktere bibliographische Überschau fast unmöglich, insbesondere da ein Großteil seiner Studien in oft kurzlebigen Emigrantenzeitschriften in der Türkei, Jugoslawien, Ungarn, Deutschland, Italien, Frankreich10) und den U.S.A. erschienen, vornehmlich in russischer Sprache, aber auch in den genannten Landessprachen. Eine nur einigermaßen erschöpfende Bibliographie seiner wissenschaftlichen Aufsätze,11) die mehr als 400 Nummern umfassen dürfte, lässt sich z.Zt. nicht aufstellen. Einen sehr ungenügenden Überblick bietet die "List of the Writings of Professors of the Russian Orthodox Theological Institute in Paris", die vom St. Sergius Institut, 93, Rue de Crimée, Paris (o.J.) zunächst von Professor L.Zander in mehreren Bearbeitungen herausgegeben wurde. Zander bietet eine lückenhafte Liste der theologischen Werke, die eine Reihe wesentlicher in deutscher, englischer und französischer Sprache erschienener Artikel nicht umfasst. Die Bibliographie der philosophischen und apologetischen Schriften kann nur als eine Auswahl bezeichnet werden. Die Arbeiten V.N.Il’ins auf dem Gebiet der Psychologie, Tiefenpsychologie, der Biologie, Physik, Mathematik, Psychiatrie und Medizin werden genausowenig erfasst wie seine literaturgeschichtlichen oder musikwissenschaftlichen Studien. Eine bibliographische Bestandsaufnahme wird durch die Verschiedenheit der Fachbereiche erschwert, ja geradezu unmöglich gemacht, wenn man etwa bedenkt, dass ein wesentlicher Teil seiner tiefenpsychologischen und psychiatrischen Studien in russischer Sprache zu Konstantinopel (1919-22) bzw. in ungarischer Sprache in Budapest (1922-24), wo er zum Schülerkreis S.Ferenczis gehörte, erschien. Ähnlich wie viele Arbeiten, die von den Dozenten des "Russischen pädagogischen Instituts" in Prag gefertigt wurden, ähnlich wie zahlreiche Studien, die V.Zen’kovskij oder V.P.Vyšeslavcev zwischen den Weltkriegen und während des 2. Weltkrieges zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Bulgarien, Serbien und der Tschechoslowakei veröffentlichten, gelangen auch die Arbeiten Il’ins – wenn überhaupt – so mehr oder weniger zufällig in die Hand der Bibliographen. Vielleicht wird es gelingen, in jahrelanger Sammelarbeit, das recht unvollständige bibliographische Material dieser so inspirierten Generation russischer Philosophen, Religionsphilosophen und -psychologen wesentlich zu bereichern, da von den genannten Autoren, aber auch von Männern wie V.Ern, P.Florenskij, A.S.Alekseevič, L.Karsarvin, ja von N.Berdjaev und S.Bulgakov immer wieder Arbeiten und Schriften auftauchen, die z.T. als Privatdrucke in kleinen Heften oder hektografiert erschienen, zuweilen als Nachschriften von Vorträgen bzw. Vorlesungen12) oder die noch als unveröffentlichte Manuskripte aufgefunden werden. Durch die Widrigkeiten der Umstände, insbesondere aber aufgrund der Tatsache, dass Il’in seine Arbeiten in russischer Sprache verfasste, ist der größte Teil der Werke des russischen Gelehrten unveröffentlicht geblieben, und auch von den veröffentlichten Büchern – etwa dem grundlegenden Werk über Serafim von Sarov,13) den beiden Bänden über Schöpfung und Entstehung der Welt im Lichte der Wissenschaft und der Bibel14) – bestehen keine Übersetzungen. [S. 265] So scheint es uns von Interesse, einen Überblick über die unveröffentlichten Werke zu geben. Zudem werden Bücher Il’ins, die z.Z. nur sehr schwer, zugänglich sind, kurz erwähnt.

Naturwissenschaften

1. "Die konstruktive Tätigkeit der Epera diademata und der Tetragnata extensa". Kiever Universitätsnachrichten 1912. Diplomthese für die naturwissenschaftliche Fakultät. Das Buch legt die Ergebnisse jahrelanger Verhaltensbeobachtungen bei genannten Spinnenarten, insbesondere hinsichtlich des Netzbaues und des Beuteverhaltens vor. Neben den speziellen Informationen werden einige grundsätzliche Bemerkungen zur Methodik der Verhaltensbeobachtung gemacht, die geradezu als Postulate für die Arbeit, die später von Lorenz, Tinbergen u.a. geleistet wurde, zu betrachten sind. Es finden sich aufschlussreiche Beobachtungen über das Lernverhalten der epera diademata bei regelhafter partikulärer Zerstörung des Netzes.

2. Die Bedeutung des Lernvermögens für das tierische Verhalten, Kiev 1914, pp. 105. Das Büchlein untersucht die Lernfähigkeit verschiedener Säugetiere, domestizierter und wilder, und kommt zu dem bemerkenswerten Schluss, dass wesentliche tierische Verhaltensweisen nicht in genetisch vorgegebenen Verhaltensmustern zu suchen seien, sondern erlernt werden, wobei die Lernprozesse modifiziert werden können, was eine modifizierte Verhaltensweise zur Folge habe. Il’in stellt die Forderung auf, dem Ablauf und der Beeinflussung von Lernprozessen in künftiger Forschung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Insbesondere stellt er die Frage nach dem prägenden Einfluss erlernten Verhaltens und seiner Modifizierbarkeit beim Menschen und gibt der Auffassung Ausdruck, dass das zwanghafte Verhalten bei bestimmten mentalen Krankheiten auf fehlorientierte Lernprozesse zurückgehe und durch "gegenläufige Lernprozesse" entsprechende "Verhaltensmodifikationen" erreicht werden müssten. Il’in kommt hier zu Aussagen, die wesentliche Entdeckungen der Verhaltensforschung vorwegnehmen.

3 a. Die amplifikatorische Funktion des Großhirns, Kiev 1914, pp. 96. Aufgrund anatomischer und physiologischer Untersuchungen beschäftigt sich Il’in mit den "Speicherzonen der Großhirnrinde". Er versucht, verschiedene Zonen des Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögens zu lokalisieren und erklärt Denkvorgänge als "Zusammenspiel der verschiedenen gespeicherten Informationen, die im Prozess des Informationsablaufes und -zusammenflusses verstärkt und erweitert werden und so den komplizierten Vorgang komplexen Denkens ermöglichen. In diesem Sinne spreche ich von einer amplifikatorischen Funktion des Großhirns". In Ausführung seiner Theorie der Lernvorgänge sieht er in den "Speicherzonen" Wahrnehmungen, d.h. also Erlerntes, als durch Impulse in chemisch-biologischen Strukturen gespeichert. Die Intensität des Impulses bestimmt die Intensität der Strukturierung, die nur durch größere Impulsstärke überlagert oder verändert werden kann.

3 b. Die amplifikatorische Funktion des Großhirns und die Zerebronaltheorie, um 1943 (unveröffentlichte Erweiterung des vorangegangenen Werkes, pp. 80). Il’in befasst sich mit den hirnelektrischen Vorgängen und ihrer Bedeutung für die Denkprozesse. Ausgehend von der Tatsache telepathischer Transmissionen, die nicht mit der herkömmlichen physikalischen Theorien erklärbar sind, nimmt er eine nicht auf Korpuskularstrahlung basierende Energie an, die er als "Zerebronalenergie", deren Träger die Zerebronen (wohl in Anlehnung an den Begriff der Photonen) sind. Ausgehend von der [S. 266] Tatsache, dass bestimmten physikalischen Wirklichkeiten Phänomene parallel laufen, die als "halbmetaphysisch" oder "paraphysikalisch" anzusprechen sind (etwa das elektrische Feld, das den Flug des elektrischen Stroms begleitet, das magnetische Feld oder das Gravitationsfeld), nimmt Il’in an, dass den chemoelektrischen Prozessen im Gehirn ähnliche Vorgänge parallel laufen, die z.B. in telepatischen Experimenten objektivierbar werden.

4. Die Struktur des menschlichen Körpers, die Charakterologie und die Bestimmung des Geistes, Budapest 1923, pp. 180. Das Buch entwirft im Ausbau der Theorien Ferenczis eine tiefenpsychologisch orientierte Anthropologie, deren Merkmal die innige Verflechtung somatischen und psychischen Geschehens ist. Die Ausprägung seelischer Haltungen und Fehlhaltungen, ja die gesamte Charakterstruktur reichen tief in den leiblichen Bereich, dieser aber bestimmt wiederum durch seine "genetisch vorgegebenen spezifischen Kapazitäten" die intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen. Konstitution, Disposition und Umweltprägung sind die determinierenden Faktoren für das menschliche Wesen, die nur durch das Wirken des Geistes im Sinne der Persönlichkeitsfindung und -reifung überhöht werden können. Hier liegt die Bestimmung des Geistes, die Bedingtheiten im menschlichen Leben, in der menschlichen Natur zu überwinden.

5. Die Psychoanalyse und das Problem des Geistes, 1923-26 (unveröffentlicht, mehrfach bearbeitet), pp. 230. In kritischer Auseinandersetzung mit den Lehren der Psychoanalyse versucht Il’in zunächst das Phänomen des Geistes bei Freud und Ferenczi einzuordnen. Das sich ergebende Fundament erweist sich als zu schmal, als "ein verengender Psychismus", der der Wirklichkeit der menschlichen Persönlichkeit nicht gerecht wird. Die psychoanalytische Grundkonzeption muss daher erweitert werden. Wie seelische Fehlhaltungen, Neurosen im körperlichen Bereich ihren Niederschlag finden, können sich Fehlentwicklungen im geistigen Bereich als kausal für seelische Erkrankungen erweisen. Die Theorien von Il’in kommen dem von V.Frankl entwickelten Begriff der "noogenen Neurosen" sehr nahe.

6. Das Therapeutische Theater, Paris 1942, pp. 270 mimeogr. In diesem Buch stellt Il’in die theoretischen Grundlagen und praktischen Anwendungen von Theaterspiel und Improvisationstechniken in der Behandlung von seelischen Erkrankungen dar. Er unterscheidet konfliktzentriertes und übungszentriertes Vorgehen. Aus der Lebensgeschichte des Patienten wird konfliktbesetztes Material genommen und in ein Rahmenstück gefasst, das vom Protagonisten mit dem Therapeuten oder den Mitgliedern einer Therapiegruppe gespielt wird. In einem losen Rollengerüst wird frei improvisiert. Die Vorgabe des Rahmenstückes unterscheidet das Therapeutische Theater vom Psychodrama Morenos. Eine weitere Eigenheit ist das übungszentrierte Improvisationstraining. Die von Stanislavskij entwickelten Techniken zur Ausbildung und Schulung von Schauspielern werden dazu verwandt, die Sensibilität, das Ausdrucksvermögen, die Selbstbehauptung und die Kommunikationsfähigkeit der Patienten aufzubauen. Bewegungstraining und Atem- und Stimmschulung dienen der psycho-physischen Ertüchtigung.

Geschichte der Wissenschaften

7. Geschichte der exakten Wissenschaften und der Philosophie der Wissenschaften im Mittelalter, 1918 - 1940 (unveröffentlicht), pp. 1200. Das monumentale Werk stellt verschiedene wissenschaftliche Disziplinen in ihrer geschichtlichen Entwicklung während des Mittelalters dar: die Medizin, Alchemie, Astronomie, Astrologie, die Geometrie, Arithmetik und [S. 267] Musikologie. Neben einer kaum überschaubaren Fülle von Sachangaben, von biographischen Darstellungen mittelalterlicher Gelehrter ist von besonderem Interesse, dass die wissenschaftliche Entwicklung vor einen geistesgeschichtlichen Hintergrund gestellt und von diesem her erklärt wird. Die Philosophie der Wissenschaften, d.h. die gedanklichen Motivationen, die hinter wissenschaftlichem Tun standen, wird in weitausgreifenden Analysen als vorantreibende oder retardierende Größe für die exakten Wissenschaften im Mittelalter gekennzeichnet. Besonderes Interesse verdienen die Ausführungen über die Physik und Metaphysik des Lichtes, die Lehren Vitelos, R.Bacons, R.Grossetestes und Michael Scots. Die Theorie von Nicolas v. Bubnoff zur Arithmetik im Mittelalter wird affirmierend diskutiert.

8. Geschichte der exakten Wissenschaften in Russland, 1944-48 (unveröffentlicht), pp. 1000 (Tetralogie der russischen Kulturgeschichte, Bd. I). Auf 1000 Seiten wird über die Wissenschaften des Altertums auf russischem Territorium – soweit durch Funde und Berichte erschließbar – und die Wissenschaft im Mittelalter von der byzantinischen Epoche an berichtet. 900 Seiten sind der modernen Wissenschaft (seit dem 18. Jh.) gewidmet. Mathematik: Lobačovskij, Čebychev, Marcov, Steklov, Lapounov u.a. – Physik: Boris Jacobi, Petrov u.a. – Chemie: Lomonosov, Popov, N.Zizin, D.Mendeleev, A.Butlerov u.a. Auf dem Gebiet der Biologie werden die Arbeiten Borodins, Belaevs, Timirjazevs – ein berühmter Darwinist – und seines Gegners Danilevskij, Korinskijs, Navačins u.a. behandelt, z.B. die Arbeiten von Karl Ber, Begründer der Embryologie, Vladimir Wagner, Nestor der Insektenkunde, Nicolas Wagner, Entdecker der Parthenogenese – seine Arbeiten wurden von der Pariser Akademie der Wissenschaften gekrönt – von A.Cholodkovskij etc. In der Mineralogie, Kristallographie, Geologie und Geographie finden Erwähnung: E.Federov, Begründer der modernen geometrisch-mathematischen Kristallographie, Prinz Boris Galitzin, Erfinder eines Seismographen, der auf der piezo-elektrischen Eigentümlichkeit des Quarzes basiert. Vladimir Vernadskij, Autor der Biosphärentheorie, Karpinskij, Mušketov, Borissiak u.a. werden behandelt.

9. Die Idee der musikalischen Harmonie und die mystische Theologie als Grundlagen der astronomischen Entdeckungen Kepplers, 1944 (unveröffentlicht), pp. 180. Das Buch befasst sich mit Leben und Werk Kepplers und zeigt die Zusammenhänge im vielfältigen Schaffen dieses Gelehrten auf, der zugleich Theologe, Dichter, Musikologe, Astronom und Astrologe, hervorragender Humanist und ein Mann von tiefer Frömmigkeit war. Sein Schaffen wird als Tagebuch seines inneren geistlichen Lebens dargestellt, in dem alle Kenntnisse harmonisch eingeordnet sind.

Philosophie und Theologie

10. Geschichte des russischen philosophischen Denkens, 1943-48 (unveröffentlicht), pp. 500. (Tetralogie der russischen Kulturgeschichte, Bd. II). In drei großen Abschnitten behandelt das Werk die Wege des russischen philosophischen Denkens. Zunächst werden die volkstümlichen Schätze der Weisheit und der Mystik, wie sie sich in der Folklore, der Dichtung und im religiösen Leben ausdrucken, untersucht. Der zweite Teil des Buches stellt die russische Philosophie im 18. und 19. Jh. dar, und die Problematik, der sich ausprägenden Schulen wird als Kampf zwischen dem Geist der Intuition (Pascal) und dem Geist der Geometrie (Descartes) aufgefasst. Die Slavophile Schule wird ausführlich abgehandelt. Der dritte Abschnitt setzt sich mit dem Marxismus bzw. dem dialektischen Materialismus auseinander. [S. 268]

11. Das Licht – Kleid des Ewigen, 1928 (unveröffentlicht), pp.400. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um einen Versuch einer Metaphysik des Lichtes, der auf folgendem Gedanken gründet: Es ist unmöglich, die nachstehenden. Begriffe vollständig voneinander zu scheiden: physikalische Energie und geistige Energie – materielles Licht und geistiges Licht. Die Verbindung dieser Größen läuft jedoch nicht, so betont der Autor ausdrücklich, auf eine pantheistische Konzeption des Universums hinaus, sondern will eine neue Erklärung seiner Rätsel bieten. In der Konzeption wie in der Tatsache des Lichtes sind wie in einem Knotenpunkt die ursprünglichen, die zentralen Probleme der Physik, der Metaphysik und der Theologie verknüpft. Diese Konzeption heißt, knapp formuliert: Energie. Gregor von Palamas, Theologe und Metaphysiker von eminenter Bedeutung, wird mit seinem Begriff der "göttlichen Energien", den er bei der Entwicklung seiner Lehre vom "unerschaffenen Licht" prägte und ausbildete, zum Hauptgewährsmann für Il’in. Die Theorien der modernen Physik über das Licht bewegen sich, nach den naturwissenschaftlich minutiös begründeten Ausführungen des Autors "an den Grenzen der Metaphysik", so dass man die Erklärung über die Natur des Lichtes als "annähernde und halbmetaphysische" bezeichnen kann. In der Wesensverbindung von unerschaffenem und erschaffenem Licht, die von der göttlichen Energie geleistet wird, sieht Il’in den Schlüssel für die Geheimnisse des Kosmos. Das Buch ist in seiner Anlage stark von der Sophiologie, wie sie sich bei Pavel Florenskij und Sergij Bulgakov findet, geprägt. Wesentliche Elemente dieses Buches finden sich in dem 1930 bei YMCA-Press, Paris, in russischer Sprache erschienenen Werk Il’ins "Die sechs Tage der Schöpfung – Wissenschaft und Bibel über die Schöpfung und die Ursprünge des Kosmos" verarbeitet.

12. Null, Punkt und Monade, 1939 (unveröffentlicht), pp. 120 (teilweise ins Französische übersetzt). Dieses Werk kann als ein wissenschaftlicher Anhang zu dem voraufgehenden verstanden werden. Es kritisiert die Idee der actio in distens und die entgegenstehenden Ideen des Impulses (choc) und des Kontinuums sowie die Begriffe der Trägheit und der "force vivante". Von dieser Kritik ausgehend, versucht der Autor eine neue Form der Logik zu entwickeln – eine Pan-Logik analog zur Pan-Geometrie von Lobačovskij, in der z.B. die aristotelische Logik einen Sonderfall darstellt – und die "ewigen Paradoxe" des Zenon und Parmenides zu lösen.

13. Allgemeine Morphologie des Seins und der Erkenntnis, 1916 - 1948 (unveröffentlicht), pp. 500 (auszugsweise franz. mimeographische Ausgabe 1956). In einem theoretischen und einem praktischen Teil legt Il’in die Grundzüge seiner Philosophie dar. Es handelt sich um eine neue allgemeine Seinslogik, in der die aristotelische Logik, das Novum Organum der hegelschen Logik besondere Fälle darstellen. Im zweiten, praktischen Teil des Werkes wird eine Kritik der determinierten Axiomatik in den Wissenschaften gegeben. Insbesondere die Entgegensetzung von Geist und Materie werden angegriffen, und es wird die unlösbare Verbindung dieser beiden Größen gezeigt in dem von Il’in entwickelten System des Materiologismus, das den Extremen des ausschließlichen Materialismus und Spiritualismus entgegentritt und versucht, eine neue Methodologie der Wissenschaften auf der Grundlage der Verbindung der Physik und Metaphysik über die Form zu erarbeiten.

14. Versuch einer Harmatologie, 1960 (unveröffentlicht), pp. 700. Il’ins Versuch gründet sich auf seine morphologische Theorie von der Deformation. Das Böse sei, so führt der Autor aus, ohne Grund in das Sein gelangt durch einen in seiner Herkunft unbestimmbaren Impuls, der aber – und hierin folgt Il’in der Konzeption Berdjaevs – mit [S. 269] dem Mysterium der Urfreiheit engstens verbunden ist. Durch die Freiheit vollzog sich die Urkatastrophe im geschaffenen Sein, das damit keine seinen Möglichkeiten entsprechende Gestalt fand, so dass man nur von einer "Pseudomorphose" sprechen kann. Mit dem Sündenfall wird die vorhandene Gestalt der Schöpfung weiter verbildet im Sinne einer "Anamorphose". Die ungeordneten und dem göttlichen Plan entgegengesetzten Willensakte der Menschen bringen in die Schöpfung den bösen Willen und das "böse Bewusstsein" ein, die jeder schöpferischen Gestaltung im Sinne einer "Antimorphose" entgegenwirken. Die Rettung der deformierten und disfigurierten Schöpfung, die immer mehr der apokalyptischen Auflösung zustrebt, kann sich nur in einer tiefgreifenden Verwandlung durch die Liebe – verwirklicht durch den gekreuzigten Christus – zur Schönheit realisieren, gemäß dem Wort Dostoevkijs "die Schönheit rettet die Welt". Die Schönheit aber versteht Il’in als die dritte Person der Hl. Trinität.

15. Der ursprüngliche Abfall (Sündenfall), die Sintflut und die Apokalypse, 1930 (unveröffentlicht), pp. 250. Am Geschehen der Sintflut wird deutlich, dass die Katastrophe ein für die Gestaltung der Welt unabdingbares Element ist. "Die Welt wird durch die Zerstörung geschaffen, und die Zerstörung ist eine Form der Schöpfung" formuliert Il’in in Anlehnung an das Wort M.Bakunins: "die Lust der Zerstörung ist eine schaffende Lust". Die Verwüstungen durch die Kräfte der Natur, die Katastrophen, die durch den Menschen, etwa durch den Krieg, heraufbeschworen werden, haben bei der Gestaltung der Welt, bei der Formung und Ausprägung des menschlichen Gewissens im individuellen und auch im gesellschaftlichen Bereich eine entscheidende Bedeutung, und zwar einerseits durch direkte Einwirkungen und andererseits durch die Reaktionen, die sie in jedem einzelnen Menschen und bei den Völkern und Staaten hervorrufen. Die destructio erweist sich als notwendig, um der constructio Raum zu schaffen; denn Unvollkommenes (pseudomorphes), Deformiertes (anamorphes), Zerstörtes (antimorphes) kann nicht restituiert werden, sondern erfordert Neuschöpfung. In diesem Sinne erweist sich das apokalyptische Geschehen als schöpferischer Prozess, in dem die Kraft Gottes durch die Zerstörung und über sie hinaus wirkt: "und siehe, ich schaffe alles neu" [Apk 21,5].

16. Der Prozess des Sokrates und die Ursprünge des Platonismus, 1943 (unveröffentlicht), pp. 300. Das Leitthema des Werkes stellt der Satz aus dem ersten Teil von Platon, Apologie des Sekrates, dar: "Ich bin in äußerster Armut, weil ich Gott verehre." Der Prozess des Sokrates wird als "Kompendium der menschlichen Philosophie", der Wissenschaft von der Gesittung, im Hinblick auf das Ringen zwischen dem Mittelmaß, dem Bürgersinn und den ewigen menschlichen Werten betrachtet. Il’in formuliert: "Gerade weil wir am Paroxismus des Kampfes zwischen dem Bürgersinn und den menschlichen Werten angelangt sind, ist für uns das Studium des sokratischen Martyriums besonders instruktiv." Es wird versucht, eine Parallele zwischen dem Tod des Sokrates und der Passion Christi zu ziehen, zwischen der Transzendenz des Platonismus, der im Drama des athenischen Desmoteriums wurzelt, und dem geistigen Reichtum des Christentums, der aus dem Drama von Golgatha hervorgeht. Der Tod des Sokrates hat die Haltung Platons gegenüber den Werten des Lebens, seine Haltung gegenüber den Menschen und der Gesellschaft tiefgreifend gewandelt, ja bewirkt, dass Plato die ewigen Werte entdeckte. Der verbrecherischen Stadt hat er den Tod des Gerechten, der ihn selbst, bis an den Rand des Grabes brachte (Phaidon in initio), nie verziehen, ja hier sei der Ansatz für seine Staatstheorie zu suchen, eine Stadt zu bilden, die auf ewigen Werten gründete. Der Tod des Sokrates stellt die Niederlage einer der mächtigsten philosophisch-kulturellen Strömungen der Geschichte dar, die Niederlage des [S. 270] präsokratischen Hellenismus vor den fundamentalen Problemen des Seins und der Erkenntnis. Dieses Geschehen ist aber nicht als ein Zusammenbruch, sondern als eine grundsätzliche Neuorientierung, ein neuer Ansatz aufzufassen, der als "die Frucht des Martyriums des Weisesten der Hellenen" angesehen werden muss.

17. Leo Tolstoj. Die Thanatologie, 1944 (unveröffentlicht), pp. 150. Das Buch befasst sich mit der Stellung und Bewertung des Todes im Werk Tolstojs. Der Gedanke von der Allmacht des Todes wird als die zentrale Idee des russischen Dichters herausgestellt, die sein gesamtes Schaffen bestimmt. Das Denken Tolstojs wird aufgrund dieser Konzeption von einem radikalen Pessimismus gekennzeichnet, der auch in seiner Religiosität seinen Niederschlag findet. Der Autor kommt nach einer ausführlichen Analyse der Werke Tolstojs im Hinblick auf das Thema zu dem Schluss, dass man "hinter das Christentum und die Religion Tolstojs ein beängstigendes Fragezeichen setzen muss."

18. G.Federov. Philosophie des gemeinsamen Werkes, 1948 (unveröffentlicht), pp. 300. Diese Monographie über "den genialsten Denker aller modernen russischen Schulen und zugleich einer der originellsten Denker aller Zeiten" verdient besondere Beachtung, weil sie – zumindest was die Darstellung von Federovs Philosophie anbelangt – weit über die Monographie von Ostromirov hinausgeht. Federov, mit seinen umfassenden Kenntnissen einer der erstaunlichsten Enzyklopädisten, stellt gegen die vergeblichen und fruchtlosen Spekulationen der herkömmlichen Wissenschaft die Forderung auf, dass alle Forschung und Wissenschaft die radikale Verwandlung der Welt im Auge haben muss, mit dem Ziel einer planetarischen, ja kosmischen Verklärung. Federovs zentraler Gedanke: Gott hat in unsere Hände alle Mittel zur Beherrschung und Steuerung der geologischen und metereologischen Gegebenheiten und zur Überwindung aller natürlichen Geißeln und Katastrophen gelegt, ja dazu, den gegenwärtigen feindlichen Zustand der Natur so zu verändern, dass diese dem Menschen endgültig nur Freundlichkeit entgegenbringt. Die mörderische Gewalt der Natur soll, so fordert er, umgewandelt werden in eine Gewalt, die lebendig macht und auferweckt. In der Wissenschaft und Philosophie geht es nicht um den Begriff des Seins, auch nicht um das Studium der Seinsursachen, sondern um das Studium der Bedingungen des Nicht-Seins, d.h. praktisch um den Tod. Die Frage, warum ein lebendiges Wesen des Lebens beraubt wird, geht fehl, Federovs Lehre will die ewigen Werte verwirklichen. Der wesentliche Wert aber ist das Leben – und Defätismus vor dem Feind des Menschen ist ihm die schlimmste Lästerung. Jeder Tote ist ein Ermordeter, gleichgültig ob die Ursache Granaten oder Bazillen sind. Der Ermordete kann nicht als "befriedet" gelten, und die Klage des Scheol, die beständig zu uns aufsteigt, verwirrt die ganze Ordnung des Planeten, den die Toten bewohnt haben, und vergiftet den Aufenthalt der Lebenden. Für Federov gibt es keine Wissenschaft mit begrenzten Zielen und Problemen. Alle Wissenschaften, die von der Liebe beseelt sind, können mitarbeiten an einem wirksamen Kampf gegen den Tod. Hier genau setzt sein Denken auf den unbegrenzten Dynamismus der Gemeinschaft, in welcher wirksam ist, was Federov "das gemeinsame Werk" nennt. Der große Kampf gegen den Tod kann nicht individuelle Leistungen von einzelnen Gelehrten oder Philosophen sein, sondern nur die Leistung der zusammenstrebenden Kräfte der menschlichen Gemeinschaft.  Für Federov ist die Hl. Trinität das Urbild der vollkommenen menschlichen Gesellschaft, die alle Bedingungen des ewigen Lebens und keine des Todes enthält. Im Westen, wo Fedorov nur durch vage Zusammenfassungen bekannt [S. 271] ist, hat man den Eindruck, dass es sich um einen phantastischen Träumer und Dichter handelt. Ein Dichter war er im Grunde seines Herzens, aber aus Engagement für die Menschheit war seine geistige Haltung vor der großen Krankheit, dem Tod, die eines Chirurgen, der kaltblütig seine Hand in die Wunde legt mit "der Härte eines Klinikarztes" (Tolstoj).

Musik- und literaturwissenschaftliche Arbeiten

19. Probleme der Musikphilosophie bei Prinz Odoevskij, Kiev 1917, pp. 900. Diese Arbeit, von der Universität Kiev mit der goldenen Medaille ausgezeichnet, stellt die Habilitationsschrift Il’ins dar, sie wurde 1916 beendet. In den Wirren der Revolution wurde die gesamte Auflage den Werkes bis auf einige Exemplare, die sich schon beim Autor befanden, in der Druckerei Opfer der Flammen. Das Buch dürfte nur noch in zwei oder drei Exemplaren vorhanden sein. Odoevskij muss als der bedeutendste russische Musikphilosoph, -theoretiker und -historiker des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Als Vorgänger von Metalov hat er sich als einer der ersten um die Erforschung des altrussischen Sakralgesanges bemüht, und sich mit der Transkription der Neumenmanuskripte, und der Sammlung des religiösen Volksgesanges befasst. Hier ist es insonderheit der Gesang der Altgläubigen, dem seine Aufmerksamkeit galt. Als Kenner und Sammler russischer Volksmusik galt Odoevskijs Kampf dem pseudorussischen Italienismus, der über die Ukraine nach Russland gekommen war und dort das gesamte musikalische Leben nivellierte. Als Philosoph war Odoevskij stark von Schelling beeinflusst. Als Musikhistoriker und -theoretiker hat er Bedeutendes für die Erforschung und Bewertung von Beethovens dritter Periode geleistet. Il’ins Werk behandelt auch ausführlich die Kompositionen Odoevskijs und seine Rolle als Mitarbeiter Glinkas. Die Darstellung der Arbeiten Odoevskijs umfasst neben allgemeinem musikphilosophischen, -theoretischem und musikhistorischem Material eine Darstellung der russischen Musik. Il’in hat diese Materialien in einem gesonderten Werk verarbeitet.

20. Geschichte der russischen Musik, 1935-1939 (unveröffentlicht), pp.1000. (Tetralogie der russischen Kulturgeschichte, Bd. III). Das monumentale Werk gibt eine Darstellung der russischen Musik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Der erste Abschnitt behandelt die alte Kirchenmusik seit der Epoche des byzantinischen Einflusses in ihrer Entwicklung bis zur gegenwärtigen Situation in der Emigration. Der zweite Abschnitt ist der Volksmusik gewidmet und bietet reiches Material aus dem Liedgut und der instrumentalen Folklore. Der dritte Teil des Buches stellt die "russische Klassik" und der letzte Teil die Moderne dar. Besonderes Interesse verdienen die Kapitel über Rasumovskij, Smolenskij, Metalov, Bortnjanskij, Kastal’skij, über Kalinikov, Cui, die Musiktheoretiker Mališevskij, S.Taneev, Skrebkov, Solotarev, Keldyšij, Saketti, N.Findeisen und natürlich über Čajkovskij, Borodin, Musorgskij, Rimskij Korsakov, Glasunov, Glinka, Rebnikov, Stravinskij, Šostakovič, Prokovev, um nur eine Auswahl zu geben.

21. Von Geist und Gestalt der russischer Literatur, 1952-1970 (unveröffentlicht), pp. 1000 (Tetralogie der russischen Kulturgeschichte, Bd. IV). Das Werk, der Abschlussband der Tetralogie der russischen Kulturgeschichte, bietet eine Darstellung der russischen Literatur von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Die geistliche Literatur des Mittelalters, die histographischen Werke (Chroniken etc.) werden genauso behandelt wie die Volksdichtung und das Volksmärchen. Es schließen sich Studien über die großen Meister der russischen Literatur, Lyriker, Epiker und Dramatiker an. Diese Kapitel sind zu einem großen Teil in Form von Aufsätzen in [S. 272] der Zeitschrift "Renaissance" erschienen. Wir verweisen deshalb, an Stelle einer Inhaltsangabe, auf diese Studien:  Metaphysische und Metapsychische Elemente bei Turgenev,1969 (unveröffentlicht), pp. 240. L.Tolstoj, Sein Leben und sein Werk. Ein biographischer Versuch. 1955-1962, (unveröffentlicht), pp. 270.

Anmerkungen

*Dieser Aufsatz von Hilarion Petzold erschien in: Kyrios Nr. 14, 1974 S. 253-272. Zusätzliche Anmerkungen in [...] erstellte K.Bambauer [Prof. Dr. theol. Dr. phil. Dr. med. Hilarion Petzold gehört zu den Pionieren der Methodenintegration in der neueren Psychotherapie und zu den Wegbereitern der nonverbalen und körperorientierten Therapieverfahren im deutschprachigen Raum. Er ist Professor für klinische Bewegungstherapie und Psychomotorik an der Freien Universität Amsterdam, Mitbegründer des "Fritz Perls Instituts für Integrative Therapie", Düsseldorf und wissenschaftlicher Leiter der "Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit" am Beversee. Für den Bereich der orthodoxen Theologie veröffentlichte er zusammen mit B.Zen’kovskij: "Das Bild des Menschen im Lichte der orthodoxen Anthropologie", Marburg 1969. Außerdem erschien von ihm: Antinomie und Synthese in Kirche und Kosmos, in. Kyrios, Heft 3 (1967), S. 229-251].

1) Die Angabe bei N.Zernov, The Russian Religious Renaissance of the Twentieth Century, London 1968, wo das Geburtsjahr mit 1891 benannt wird, gründet auf einem irrtümlichen Eintrag der französischen Passbehörden. Das korrekte Datum lautet: 29. August 1890.

2) Im Unterschied zu vielen russischen Emigranten in Deutschland und Frankreich hat Il’in nie die deutsche oder französische Staatsangehörigkeit erworben.

3) Vgl. hierzu H.Petzold. Unveröffentlichte Fragmente eines Briefwechsels von N.Berdjaev, Kyrios 1 (1971).

4) Vgl. zu diesem Begriff H.Petzold, in: Das Tor 4 (Düsseldorf 1969), S. 65-70.

5) V.Il’in, Die Freiheit in der Kirche. Zur Metaphysik der kirchlichen Freiheit, Kyrios I. F[olge], Jg. 1936, 343-349.

6) Der Autor [H.Petzold] hatte seit 1963 Gelegenheit, den Vorlesungen und Seminaren V.N.Il’ins zur Philosophie, Psychologie und Psychotherapie zu folgen und hat hierdurch hinsichtlich seiner philosophischen, psychologischen und psychoanalytischen Ausbildung wesentliche Prägung und Impulse erfahren.

7) Vgl. Anmerkung 1).

8) Hier ist noch zu bemerken, dass Il’in schon mit vierzehn Jahren als Gymnasiast und später als Student eine ausgesprochene Theaterleidenschaft besaß, die er bis ins hohe Alter beibehielt – er wirkte 1970 noch zuweilen bei der "Theatergruppe der russischen studentischen Jugend" in Paris mit. Er spielte selbst, schrieb eigene Stücke und dramatisierte Werke der russischen Literatur (z.B. den Wij von Gogol oder Dostoevskijs Idiot). In den Jahren zwischen 1909 und 1950 befasste er sich mit der Theorie des Theaters und war ständiger Mitarbeiter der Zeitschriften Teatral’nyj Kurier (Hrsg. von M.Paley) und Musy (ed. v. Demselben). Von dem Begriff der Katharsis in der antiken Tragödie ausgehend, ließ er Menschen frei improvisieren oder innerhalb bestimmter Rahmenhandlungen Szenen aus ihrem Leben spielen, um ihnen ihre Schwierigkeiten zu erleichtern. Dieses "therapeutische Theater", er beschrieb es in mehreren Beiträgen der genannten Zeitschriften, kommt dem Psychodrama von Moreno (Das Stegreiftheater, Potsdam 1924; Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, Stuttgart 1959) sehr nahe. Il’in praktizierte es auch in Berlin und später in den vierziger und fünfziger Jahren in Paris.

9) Vgl. zu diesem Begriff V.N.Il’in, Was ist Sobornost’, in: Orient und Okzident 13 (1933), 1-9.

10) Vgl. ibid., p. 4-5.

11) Aufsätze von V.N.Il’in in der von N. Berdjaev herausgegebenen Zeitschrift Put’ (Paris 1926ff.):
- Ehrung und Heldentat 4 (1926), 72-87.
- Von der himmlischen und irdischen Sobornost’ 6 (1927), 89-94.
- Christus und Israel 11 (1928), 59-75.
- Zum Anlass der 2. Ikonenausstellung 22 (1930), 126-128.
- Der ästhetische und theologisch-liturgische Sinn des Glockengeläuts 26 (1931), 114-119.
- Goethe als Weiser 34 (1932), 64-70.
- Die Profanisierung der Tragödie 40 (1933), 54-65.
- Der Große Samstag (Das Geheimnis des Todes und der Unsterblichkeit) 57 (1938), 48-57.

12) Vgl. die Jahrgänge der Zeitschr. Renaissance.

13) St. Serafim von Sarov. 1929, Y.M.C.A. Press, Paris 1949 (russ.).

14) Die sechs Tage der Schöpfung. Die Wissenschaft und die Bibel über die Schöfpung und den Ursprung der Welt. Y.M.C.A. Press, Paris 1930 (russ.); Das Enigma des Lebens und der Ursprung der Lebewesen. Y.M.C.A. Press, Paris (1929).

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