Die Leidenschaften: Feind oder Freund?

Bischof Kallistos Ware*

Orthodox Peace Fellowship Retreat in Vézelay, April 1999, 2. Vortrag

Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen in eckigen Klammern versehen von Klaus Bambauer

Betrachte das Wort "Wunder". Wir sind zu einem Ort gekommen, der voll von Wundern ist, diese alte Pilgerstadt von Vézelay. Ich kann mir sehr lebendig meinen ersten Besuch hier in Erinnerung rufen, als ich Student an der Universität war. Es war im Jahre 1954. Ich reiste mit einer Gruppe von Mitstudenten in einem Lastkraftwagen. Es geschah von der Rückseite des Lastkraftwagens, dass ich einen ersten Blick auf Vézelay warf – eine auf einem Hügel gelegene Stadt – und im Herzen des Höhepunktes der Stadt eine große Kirche. Jedesmal, wenn ich Vézelay sah, wie es wieder gestern Abend geschah, als ich von der Bahnstation heraufkam, wurde mein Geist lebendig und so geschah es mit meinem Sinn für Wunder. Seit 1954 bin ich zehn oder zwölf mal hier gewesen. Dann beim Eintritt in die Basilika, im Narthex stehend, steht man der wunderbaren Marmorskulptur Christi in der Glorie gegenüber, die sicherlich bei vielen Pilgern, die hierher kommen, den Sinn für Wunder erweckt.

Ich weiß nichts über Sie, aber ein Sinn für Wunder ist in meinem Lesen der Literatur immer sehr wichtig gewesen. Vom Alter von 16 Jahren an war es eine Art von christlicher Literatur, die mich besonders anzog und das waren Werke der Fantasie – zum Beispiel die Geschichten von George Mc Donald. Ich habe mich immer an den Fantasiewerken von C.S.Lewis erfreut – die Narnia-Bücher, und vor allem seine Nacherzählung des Psyche-Mythos, 1) Zusammen mit Lewis liebte ich stets die übernatürlichen Kriminalgeschichten, die von seinem Freund Charles Williams geschrieben waren – und das Übrige. Und da ist natürlich Tolkien.2) Solche Erzählungen offenbaren die Dürftigkeit der Welt, die Nähe der unsichtbaren Welt.Einmal, als eine Freundin der anglikanischen Schriftstellerin Evelyn Underhill nach Iona ging, sagte ihr Gärtner zu ihr: "Iona ist ein sehr seltsamer Ort". Und sie fragte "Was meinen Sie damit?" Der Gärtner, ein Schotte, sagte "Dort ist nicht viel zwischen Iona und dem Herrn". Vézelay ist ein anderer seltsamer Ort.

Wir müssen empfindsam werden für die Nähe der unsichtbaren Welt. Wir brauchen einen Sinn für Wunder "Der Anfang der Wahrheit ist es, sich über die Dinge zu wundern, sagte Plato. Dies ist nicht nur Plato – es ist ebenso gutes Christentum.

Haben Sie bemerkt, wie das Thema des Tages sich durch die Schrift hinzieht? Zum Beispiel in Psalm 76 lesen wir "Welcher Gott ist so groß wie unser Gott... Du bist der Gott, der Wunder tut". Oder nehmen wir die Prophezeiung der Inkarnation bei Jesaja: "Denn uns ist ein Kind geboren und sein Name wird wunderbar heißen".

Überall in den Evangelien bemerken wir, dass die Reaktion derjenigen, die Christi Worte hören und seine Wunder bezeugen, ein Gefühl von Wunder ist. Von denjenigen, die zuerst die Bergpredigt hörten, wird angemerkt, "sie waren erstaunt bei dieser Rede". Als Jesus den Sturm stillt, lesen wir, dass sie sich verwunderten, indem sie sagten "Wer kann das sein?" Die Menschen begegnen Christus mit einem Gefühl des Wunders. Diejenigen, die ihn in der Synagoge von Nazareth lehren hörten, "waren verwundert". Der Bericht von der Auferstehung im Evangelium des Markus erzählt, dass, als die Frauen den Körper nicht im Grab fanden, "zitterten und in Staunen versetzt waren". Der griechische Text sagt, dass sie "von einer seelischen Erschütterung ergriffen und ekstatisch waren" – sie waren vom Wunder außer sich. Zu Pfingsten, als die Sprache nicht länger eine Grenze zwischen den Menschen ist, finden wir sie "von den wunderbaren Werken Gottes sprechend". Ein Gefühl des Wunders ist ein goldener Faden, der überall durch die Heilige Schrift läuft. Wenn wir weiter gläubige Schüler Christi bleiben wollen, müssen wir unaufhörlich unseren Sinn für Wunder erneuern.

Gestern Abend war unser Thema die Einheit. Jerusalem, wurde uns gesagt, "ist gebaut als eine Stadt in Einheit mit sich selbst". Wir, jeder von uns, muss eine Stadt der Einheit mit uns selbst sein. Wenn wir Friedensstifter sein wollen, müssen wir unsere innere Einheit wieder entdecken. Das große Prinzip des Friedensstiftens geht von innen nach außen. Man kann nicht einen Frieden erwarten, der von Regierungen auferlegt wird. Er muss aus dem menschlichen Herzen kommen. Von innen nach außen – und wir können auch ergänzen vom Himmel zur Erde.

Unsere menschliche Berufung ist es, ein Mikrokosmos, ein Mikrotheos zu sein – ein Vermittler zu sein, um die Schöpfung zu vereinigen. Dies war die Berufung, die zuerst Adam im Paradies gegeben worden war. Indem er darin scheiterte, sie zu erfüllen, brachte er in seinem Fall vielmehr Trennung als Einheit mit. Aber diese Berufung der Vermittlung wird für die menschliche Rasse durch den zweiten Adam, Christus, wieder gut gemacht.

Ich kann nicht vereinigen, wenn ich nicht inwendig eins bin. Wie der hl. Isaak der Syrer sagte "Sei in Frieden in deinem eigenen Selbst, dann werden Himmel und Erde in Frieden mir dir sein".

Nun lassen Sie mich Ihnen ein Symbol menschlicher Einheit vorstellen, diese komplexe Einheit von Geist, Seele und Körper: das Symbol des Herzens. Was meinen wir mit dem Herzen?

Als die letzte Herzogin von Windsor ihre Memoiren veröffentlichte, benutzte sie ein Zitat von Pascal: "Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht versteht". Ich gestehe, ich habe die Memoiren der Herzogin von Windsor nicht Seite für Seite gelesen, doch eine kurzes Nachdenken über dieses Werk brachte mir die Einsicht, was sie unter "Herz" versteht: sie meinte die Emotionen und Leidenschaften, vielleicht irgendwelche verwirrten und launischen Emotionen. Aber dies war es nicht, was Pascal meinte, noch ist es das, was das Christentum unter dem Herzen versteht.

Wenn wir in die Schrift schauen, finden wir weder im Alten noch im Neuen Testament irgendeinen Gegensatz zwischen Kopf und Herz. In der Bibel fühlen wir nicht nur mit unseren Herzen – wir denken auch mit unseren Herzen. Das Herz ist der Ort der Klugheit und der Weisheit. In der Schrift werden Fühlen und Denken zusammen gehalten. In der Bibel ist das Herz das Gewissen – das moralisch-spirituelle Zentrum der ganzen Person. Böses Denken kommt aus dem Herzen, doch ebenso ist das Herz [der Ort], wo der Heilige Geist ausruft "Abba, Vater".

Das Herz ist ein vereinigende Vorstellung auf einem anderen Wege. Es hält nicht nur Fühlen und Denken zusammen, sondern es überschreitet den Kontrast Seele-Körper. Das Herz ist das spirituelle Organ, das Zentrum unserer körperlichen Struktur, aber das Herz symbolisiert auch unser spirituelles Verstehen. Es ist ein Punkt der Konvergenz und des Zusammenwirkens für die menschliche Person als Ganze.

Dies schrieb der hl. Makarios von Ägypten über das Herz: "Das Herz lenkt und regiert den ganzen körperlichen Organismus. Und wenn die Gnade das Weideland der Herzen besitzt, herrscht es über alle Glieder und die Gedanken, denn dort im Herzen ist der Intellekt, und alle Gedanken der Seele und ihre Hoffnungen. Auf diesem Wege dringt die Gnade auch hindurch zu den Gliedern des Körpers".

Das Herz ist das Zentrum des physikalischen Organismus – wenn es aufhört zu schlagen, sind wir tot. Aber es ist auch der Ort, wo die Vernunft wohnt, das Zentrum des spirituellen Verstehens. Durch das Herz erfahren wir die Gnade, und durch das Herz gelangt die Gnade zu allen Gliedern des Körpers. Das Herz enthält, sagen die Homilien des Makarios "unergründliche Tiefen", einschließlich dessen, was heute mit dem Unbewussten gemeint ist. Da gibt es in ihm Empfangsräume und Schlafzimmer, Türen und Vorhallen und viele Büros und Durchgänge. Im Herzen sind die Werke der Rechtschaffenheit und Schwäche. In ihm ist das Leben, in ihm ist der Tod.

Dann hat das Herz eine zentrale und kontrollierende Rolle. Das Herz ist auf der einen Seite hin offen zu den unergründlichen Tiefen des Unbewussten, offen auf der anderen Seite zu dem Abgrund von Gottes Herrlichkeit. Wenn die orthodoxe Tradition von dem Herzensgebet spricht, meint dies gerade nicht Gebet der Gefühle und Emotionen, es meint gerade nicht das, was in der westlichen römisch-katholischen Spiritualität das affektive Gebet genannt wird. Herzensgebet meint Gebet der ganzen Person, Gebet, an dem auch der Körper teilhat. In der hesychastischen Tradition bedeutet das Eintreten in das Herz die vollkommene Wiederherstellung der menschlichen Person in Gott.

Mein geistlicher Vater, Vater George, sagte mir einmal, ich sollte Antoine de Saint-Exupery’s Der kleine Prinzlesen. Er liebte besonders die Worte des Fuchs. "Nun ist hier mein Geheimnis", sagte der Fuchs, "ein sehr einfaches Geheimnis: Es geschieht nur mit dem Herzen, dass jemand richtig sehen kann; was wesentlich ist, ist für das Auge unsichtbar". Dies ist der Sinn des Herzens in der Schrift und in der orthodoxen spirituellen Tradition.

Nun lasst uns die Idee unserer menschlichen Einheit ausbreiten. Wir haben gesagt, dass unsere Einheit als Personen den Körper einschließt. Aber was [gilt] von den Leidenschaften?

In der Erzählung der ägyptischen Wüste, dargeboten von Palladios im vierten Jahrhundert, lesen wir, dass, als er als junger Mann dorthin kam, er dem Altvater Dorotheos3) unterstellt wurde, der ein Leben strenger Askese führte. Er pflegte Steine von einem Platz zum anderen zu tragen. Der junge Palladios dachte, dies wäre übertrieben. "Warum quälst du deinen Körper so?" "Er tötet mich, ich töte ihn", antwortete Dorotheos. Aber war er im Recht? Würde es nicht besser sein, den Körper zu verklären als den Körper zu töten? Ein anderer Wüstenvater korrigierte Dorotheos, indem er sagte "Wir haben gelernt, nicht den Körper zu töten, sondern die Leidenschaften zu töten". Aber sollten wir die Leidenschaften töten? Oder sollten wir sie verklären? Ich fühle, dass der englische Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, John Donne, der Wahrheit näher kommt, wenn er sagt "Lasst uns unsere Affektionen nicht töten und nicht sterben". Ich würde mit dem Moralisten des siebzehnten Jahrhunderts, Sir Robert Le Strange, zustimmen: "Es ist mit unseren Leidenschaften wie mit Feuer und Wasser. Sie sind gute Diener, aber schlechte Lehrer".

Lasst uns dies ein wenig tiefer erkunden. Unglücklicherweise gibt es für das griechische Wort pathos keine zufriedenstellende Übersetzung in unserer Sprache. Pathos wird normalerweise übersetzt als Leidenschaft, manchmal als Gefühl oder Affekt, oder es könnte einfach als Leiden übersetzt werden – das Leiden (die Passion) Christi. Es gibt kein einziges englisches Wort, das alle diese verschiedenen Bedeutungen umfasst. Es ist mit dem griechischen Wort pascho verbunden, welches bedeutet: leiden. So ist Pathos grundsätzlich ein passiver Zustand. Es kann als etwas betrachtet werden, das einer Person oder einem Objekt widerfährt. Die griechischen Väter sprechen über den Schlaf und den Tod, dass sie pathos seien, und Gregor der Theologe beschreibt die Phasen des Mondes als ‚passions’. Aber oft erwirbt pathos tatsächlich einen positiven Sinn – es ist nicht ein bloß passives Ding, es kann auch etwas aktives sein. Und wenn wir so dem Wort pathos begegnen oder Passion im Griechischen, müssen wir sorgfältig auf den Zusammenhang achten, um zu sehen, wie es benutzt wird.

Wenn wir die Stoiker lesen, finden wir pathos in einem negativen Sinne benutzt. Es drückt ungeordnete Impulse der Seele aus, einen Impuls, der aus der Hand geglitten ist, der der Vernunft ungehorsam geworden ist und so im Gegensatz zur Natur steht. Wie bei einigen späteren christlichen Theologen werden die Leidenschaften als Krankheiten angesehen; das Opfer der Leidenschaft ist geistig in Unordnung gebracht. Für die Stoiker sind Leidenschaften pathologische Störungen der Persönlichkeit. Der weise Mann zielt auf apatheia –Leidenschaftslosigkeit, die Eliminierung der Leidenschaften. Aber im Vergleich zu dieser negativen Sicht der Leidenschaft gibt es in der griechischen Philosophie eine positivere Sicht. Für Aristoteles sind die Leidenschaften in sich weder Tugenden noch Laster; sie sind weder gut noch böse. Wir werden wegen ihnen weder gelobt noch getadelt. Sie sind neutral. Alles hängt ab von dem Gebrauch,den wir von unseren Leidenschaften machen. Er schließt unter den Leidenschaften nicht nur solche Dinge wie Wunsch und Angst ein, sondern auch Dinge wie Freundschaft, Mut und Freude. So sollte in der Sicht des Aristoteles unser Ziel nicht sein, die Leidenschaften auszuschalten, sondern wir sollten versuchen, einen gemäßigten und vernünftigen Gebrauch von ihnen zu machen.

Plato hat eine ähnliche Sicht. Er benutzt die berühmte Analogie eines Wagenlenkers mit einem zweispännigen Wagen. Der Wagenlenker stellt die Vernunft dar, welche die Kontrolle haben sollte. Eines der beiden Pferde, das den Wagen zieht, ist von vornehmer Herkunft, das andere ist unbändig und rebellisch. Und für Plato bezeichnet das gute Pferd die edlen Emotionen des vergeistigten Teils der Seele – Mut etc.- während das unordentliche Pferd die tieferen Leidenschaften des begehrenden Teils der Seele darstellt. Die Zusammenhänge der Analogie sind deutlich: wenn der Wagenlenker überhaupt keine Pferde hat, setzt sich der Wagen niemals in Bewegung, es hat keinen Sinn, einfach mit der Vernunft zu rechnen; wenn dein Wagen sich in Bewegung setzen soll, musst du eine besondere Beziehung zu den anderen Aspekten deiner Persönlichkeit haben. Aber die Analogie führt darüber hinaus. Wenn du einen zweispännigen Wagen hast und es ist nur ein Pferd angespannt, so wirst du nicht sehr weit kommen. Der Wagen wird sofort zur Seite fahren. Um mit deinem Wagen gerade und weit zu fahren, musst du die Pferde zusammen vorgespannt haben, und du wirst mit deinen beiden Pferden zum Ziel kommen.

So ist Platos Analogie ganzheitlich – dass wir alle zum Ziel kommen müssen mit all den verschiedenen Impulsen in unserer Natur, wenn wir ein völlig menschlichen Leben führen wollen. Wir können nicht einfach gewisse Aspekte unserer Persönlichkeit unterdrücken oder ignorieren, weil wir sie nicht sehr lieben. Wir haben zu lernen, wie wir sie nutzen.

 

Schluss