A.Takho-Godi, Aleksej Fedorovič Losev*

 

Übersetzung und Anmerkungen von Klaus Bambauer

 

Das Leben von Aleksej Fedorovič Losev ist in mancher Hinsicht ein genuines Rätsel, worüber wir, seine Zeitgenossen, uns über einen langen Zeitraum den Kopf zu zerbrechen haben. "Der Mensch als Symbol", "Der Mensch als Mythos", "ein Diener der Wahrheit", "der letzte außergewöhnliche Philosoph des russischen "Silbernen Zeitalters", "der größte russische Humanist und Philosoph der Gegenwart", "ein Asket", "ein Bewahrer von intellektueller Tradition", "ein auserwählter Geist", "ein leidenschaftlicher Anhänger der dialektischen Methode", "ein russischer Denker", "einer der bekanntesten russischen Philosophen und Philologen des zwanzigsten Jahrhunderts", "ein Mann, in dessen Person russisches philosophisches Denken solch eine Macht von Talent offenbart, solch eine Schärfe der Analyse und solche Kraft von intuitiver Spekulation", und dessen Ideen "unzweifelhaft das Werk eines Genies" genannt werden können – alle diese leidenschaftlichen Worte der vergangenen Jahrzehnte, die wir zufällig herausgegriffen haben, scheinen gänzlich die glückliche Bestimmung von Aleksej Fedorovič zu bestätigen, der nur vier Monate seines 95. [Lebens-] Jahres überlebte, nachdem er ein achtbändiges Werk Geschichte der Klassischen Ästhetik und das Hauptwerk Vladimir Solov’ev und seine Zeit vollendet hatte und eine Liste gedruckter Werke von mehr als 460 Titeln und weitere ganze Serien von Schriften, die auf Veröffentlichung warten – wissenschaftliche Schriften über Mythologie, Logik, Mathematik sowie mittelalterliche Dialektik und sogar Novellen zurückgelassen hatte.

War dies nicht tatsächlich eine ruhige wissenschaftliche Karriere? Beginnend mit seinen Gymnasialjahren (Aleksej Fedorovič wurde [am 23. September a. St.] 1893 in Novočerkassk geboren und vollendete das klassische Gymnasium mit einer Goldmedaille im Jahre 1911), war er von dem schöpferischen Impuls ergriffen.1) Er veröffentlichte seine ersten Schriften im Jahre 1916 (er schloss ab in der Moskauer Staatsuniversität in zwei Abteilungen, Philosophie und klassische Philologie im Jahre 1915 mit einem Diplom ersten Grades) und wurde für die Vorbereitung einer Professur vorgesehen (er wurde nach Berlin zu fortführenden Studien in den Wissenschaften geschickt [sein einziger Auslandsaufenthalt]). In einem Wettbewerb in den Jahren 1919-1923 wurde er als Professor für klassische Philologie an der Universität von Nischegorod [Nižnij Novgorod] auserwählt und im Jahre 1923 in der Stellung bestätigt. Er war als Professor am Moskauer Konservatorium während der zwanziger Jahr tätig (1922-1930). [Hier hatte er Kontakte mit dem Musikwissenschaftler G.E.Konjus] (Aleksej Fedorovič hatte eine gute musikalische Erziehung in der Privatschule eines italienischen Preisträgers der Florenzer Musikakademie, F.A.Stagi, erhalten) und war ein aktives Mitglied der Staatlichen Akademie der künstlerischen Wissenschaften (er war der Vorstand der Abteilung für Ästhetik). Von 1927 bis 1930 veröffentlichte er acht hervorragende Bände (in nur drei Jahren!): Die Klassische Welt und die Moderne Wissenschaft (550 S.) [Moskau 1927], Musik als Gegenstand der Logik (262 S.) [Moskau 1927], Die Philosophie des Namens (254 S.) [Moskau 1927], Die Dialektik der künstlerischen Form (250 S.) [Moskau 1927], Die Dialektik der Zahl bei Plotin (194 S.) [Moskau 1928], Die aristotelische Kritik des Platonismus (204 S.) [Moskau 1929], Aufsätze über Klassische Symbolik und Mythologie (912 S.) [Moskau 1930] und Die Dialektik des Mythos (250 S.) [Moskau 1930].2)

Aber hier wird der neugierige Leser in Verlegenheit versetzt, wenn er vergeblich nach der Fortsetzung der brilliant begonnenen Karriere des jungen Gelehrten sucht. Indem er sich auf den Weg durch Bibliotheks-Kataloge begibt, stolpert er im Jahre 1953 über Losev und bemerkt mit Überraschung, dass der Gelehrte während des Zeitraums von 23 Jahren fast gänzlich schwieg (die einzige Ausnahme ist eine Übersetzung von Nikolaus von Cues im Jahre 1937; dies macht die Angelegenheit bloß noch verblüffender). Aber von 1953 an werden wir begraben von einer Lawine von veröffentlichten Schriften von A.F.Losev, Professor am Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut, dessen wissenschaftliche Aktivität regelmäßig gespanntes Erstaunen bis zu seinem Tode am 24. Mai 1988 hervorruft.

Es ist gerade diese "geringfügige Nichtübereinstimmung" – 23 Jahre der Stille – die den Leser veranlasst, ein wenig nachzudenken, und die die Unzuverlässigkeit und Unverständlichkeit der vermeintlichen gut bekannten Tatsachen demonstriert. Hier beginnen im Ausland alle Arten von Vermutungen (wir haben es nicht nötig, Vermutungen anzustellen, Losevs Bücher aus den zwanziger Jahren werden von vereinzelten Intellektuellen gelesen, die [noch] unter den Lebenden verblieben sind). Es stellt sich heraus, dass es sogar nicht bekannt war (in Enzyklopädien und Geschichten der Philosophie), wann Losev wirklich geboren wurde, im Jahre 1892 oder 1893, oder welches sein Name war, Aleksej oder Aleksander, oder im allgemeinen, was er zu dieser Zeit tat und wo er lebte. In der russischen Ausgabe von V.V.Zen’kovskijs Geschichte der russischen Philosophie fügen die Herausgeber stolz eine Fußnote ein bezogen auf die Tatsache, dass A.F.Losev ein Professor des Moskauer Staatlichen Pädagogischen Instituts ist – nein, wie man meint, er ist nicht tot, nicht unbeschäftigt, sondern ein Professor. Das Gerücht geht, dass Losev bis 1953 im Gefängnis war. Jedoch, die Herausgabe von Nikolaus von Cues im Jahre 1937 verwirrt das Bild: dies bedeutet, dass er nach 1937 inhaftiert wurde, aber zwischen 1931 und 1937 schrieb er die Übersetzungen.3)

Aber vielleicht geschah eine Katastrophe, die Manuskripte des Professors wurden zerstört, und er hatte sie im Verlauf vieler Jahre neu zu rekonstruieren. Es gab wirklich sowohl im Ausland ("jemand brach ein und stahl sie") als auch in der Sovjetunion Gerüchte (Aleksej Fedorovič selbst verneinte nicht den Verlust seiner Manuskripte im Jahre 1930, sogar in der Presse). Der Grund für diese unzuverlässigen Fakten geht auf die Tatsache zurück, dass der Pariser Russkaia mysl' sogar einen Aufruf an seine Leser veröffentlichte, Hinweise über das Schicksal von A.F.Losev an die Herausgeber der Zeitschrift weiterzugeben. Dies geschah im Jahre 1980, als er schon 87 Jahre alt war und 6 Bände der Geschichte der Klassischen Ästhetik veröffentlicht worden waren. Aber Gott segne sie, diese Emigranten!

Wir jedoch wissen sehr gut, wie die Papiere, die Manuskripte und die Bücher verloren gegangen sind. Und was ist ein Gelehrter ohne sie? Jedermann würde gewiss für viele Jahre still schweigen.

In der Presse wurde mehr als einmal berichtet, dass in der Nacht zwischen dem 11. und 12 August 1941 eine mächtige Brandbombe das Gebäude an der Ecke Arbatplatz und Kominternstrasse (früher Vozdvizhenka, heute Kalinin Prospekt) zerstörte, wo Losev lebte. Mit Glück überlebten er selbst und seine Frau Valentina Michailovna Loseva, seit dieser Nacht lebten sie außerhalb Moskaus in ihrem Sommerhaus in Kratova. Fünf Tage später fanden sie die betagten Eltern von Valentina Michailovna. Der Vater war noch am Leben, die Mutter war tot (die beiden saßen zusammen auf dem Sofa, sie hatten nicht aufs Land gehen wollen). Fünf- bis sechstausend Bücher in der unschätzbaren Bibliothek waren zerstört; über den Rest wird nichts gesagt. Aleksej Fedorovič begann sein Augenlicht zu verlieren, schon ganz arm: der Schock und die physische Anstrengung beim Ausgraben der Bücher und beim Gießen von dutzenden über dutzenden von Wassereimern auf die Funken führten zu irreversiblen Prozessen in den Netzhäuten seiner Augen.

Aber ich, A.A.Takho-Godi, die ich in das Haus von A.F. und V.M.Losev als eine graduierte Studentin in klassischer Philologie im Herbst 1944 kam, kann leicht bezeugen, dass Aleksej Fedorovič ohne jede Pause arbeitete, und dass all das Chaos eines zertrümmerten Lebens (wieder am Arbat; sein ganzes Leben in Moskau hat er in zwei Arbat-Wohnungen verbracht), das Los von Valentina Michailovna und ihm selbst war, so lange wie ich des Lebens Bürde mit beiden teilte, und später, als ich sie vollständig annahm, nachdem Valentina Michailovna 1954 gestorben war. Ja, ich war eine Zeugin für den erstaunlichen Enthusiasmus in den Seelen dieser zwei mir so lieben Menschen, ihrer täglichen Mühen und schlaflosen Nächte. Aleksej Fedorovič hatte die Angewohnheit bei Nacht, statt vielmehr zu schlafen, sich in seinem Geist einen Text bis zum letzten Detail auszudenken; dann diktierte er ihn während des Tages Valentina Michailovna oder mir, ohne irgendwelche Korrekturen; am Abend sammelte er die notwendigen Materialien. Die Nachkriegs-Manuskripte wurden alle aufbewahrt, und in ihnen kann man die Ergebnisse seiner außerordentlichen Arbeit prüfen. Aber die ursprüngliche Vorkriegssammlung existierte nicht mehr. Bewahrt vor den Bomben, vermischt mit Schmutz und Sand, waren nur einige Bücher über Mythologie und Ästhetik und Manuskripte und Typoskripte, die Aleksej Fedorovič für die Veröffentlichung früh in der Mitte der dreißiger [Jahre] vorbereitet hatte.

Jedoch, zu dieser Zeit verstand sogar ich, die ihnen vertrauteste Person in dem Gebäude, [dies] nicht und wusste nicht, warum die Lebensläufe von Aleksej Fedorovič und Valentina Michailovna so schwierig waren. Warum lehrte Aleksej Fedorovič nach 1930 in Provinzkollegien und -universitäten? Warum, nachdem er mit der Arbeit an der Moskauer Staatlichen Universität im Jahre 1942 begonnen hatte, wurde er von dort als ein philosophischer Idealist abberufen? Warum waren die Intrigen seiner Abteilungskollegen so erfolgreich – Kollegen, die sogar keine Professoren waren, wie Zinovij Iakovlevič Beletskij und Pavel Sergeevič Popov (der letztere einst ein Kommilitone und Freund), ihm Schwierigkeiten zu bereiten? Warum wurde Aleksej Fedorovič im Jahre 1944 zum Moskauer staatlichen pädagogischen Institut versetzt als ein Professor in der Abteilung der klassischen Philologie, die dort eröffnet worden war, und warum wurde sein Idealismus in diesem Falle ignoriert?

G.F.Alexandrov selbst rechtfertigte aus irgendeinem Grund die Versetzung; zu dieser Zeit stand er dem Direktorat der Propaganda und Agitation des Zentralkomittees der VKP vor. Ein sehr mächtiger Mann, er hielt sich selbst für einen "Spezialisten" in antiker Philosophie. Wenn Stalin ein führender Geist aller Wissenschaften war, dann waren seine Assistenten vollkommen fähig, Koryphäen der Teilwissenschaften zu werden. Alexandrov hob keinen Wettbewerb auf und tat alles Mögliche, Losev daran zu hindern, seine Werke zu veröffentlichen. Als im Jahre 1943 einige wenige Akademiker (einschließlich – so eigenartig es scheinen mag – M.B.Mitin) Losev als einen Kandidaten für die Mitgliedschaft in der Sovjetischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Philologie, aufgestellt hatten, vereitelte Aleksandrov dieses Vorhaben; er benötigte die Stellung für sich selbst. Und als P.S.Popov einen Lehrstuhl brauchte, erfreute seine fruchtbare Denunzierung seines früheren idealistischen Freundes Aleksandrov beträchtlich, der dann Losev entließ und den Lehrstuhl für Logik dem Verleumder gab.

Am Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut, an dem ich graduierte Studentin war, war es zuerst schwierig zu verstehen, warum der Leiter der Abteilung – Professor N.F.Deratani – und die Partei-Organisatorin M.A.Timofeeva Losev verfolgten, der bei seinen Studenten beliebt war, warum sie die jungen Menschen beunruhigten, und warum sie so viele Personen verfolgten, die sie in den schrecklichen Jahren von 1946-48 für lästig hielten, indem sie politisch versuchten, Losev selbst zu verleumden wie auch die ihm Nahestehenden. Nicht weniger überraschend war die Tatsache, dass alle diese Intrigen scheiterten und dass hinterher das Schicksal eine richtige Entscheidung brachte. Dies war sehr eigenartig für diese Ausrotter des Idealismus.

Der wahre Grund, warum Losev gehasst wurde, blieb mir für mehr als ein Jahr verborgen, obwohl ich schon eine kleine, aber traurige Lebenserfahrung hatte. Ich erinnere mich an die Zerstörung meiner Familie in Moskau, an die Verhaftung meines Vaters (zehn Jahre ohne Recht durch Briefe zu korrespondieren; nun wissen wir, was dies bedeutet, und es wurde bestätigt), meine Mutter in Lagern Mordwiniens; mein jüngerer Bruder, der im Gefängnishospital starb; meine jüngere Schwester, die gerade vor einem Kinderheim gerettet werden konnte, wo sie gezwungen war, ihre Eltern zu vergessen, die "Volksfeinde" waren.

Aber bei einer Gelegenheit belauschte ich etwas, was niemals in dem Haus am Arbat bemerkt worden war. Dort wurde mir als Antwort auf meine beständigen Fragen in einigen wenigen Worten über die Zeit erzählt, die Aleksej Fedorovič bei der Erbauung des Weißmeer-Ostseekanals verbrachte.

Es war nach Valentina Michailovnas Tod im Jahre 1954 als ich, ihre Papiere durchgehend, auf ein Bündel von Briefen stieß, teilweise vom Feuer und der Explosion der Brandbombe beschädigt, dieses Geschick brachte mich in Kontakt mit der Tragödie des Denkers, den sie in die Stille zu treiben versuchten.

Dieses waren besondere Briefe, die Korrespondenz zwischen zwei Menschen, inhaftiert in zwei Lagern; Valentina Michailovna, eine Astronomin und eine Spezialistin der Himmelsmechanik, war auch verhaftet und in ein sibirisches Lager geschickt worden, nach Borovlianka in den Altaj. Die Korrespondenz von zwei Eheleuten, zwei Wissenschaftlern, zwei Lagerinsassen, sich nacheinander sehnend (sie wurden schließlich auf dem Bärenberg wiedervereinigt), zwei Menschen von sublimer spiritueller Kraft, inhaftiert im Jahre 1930 [am 18.4.] und verurteilt (er für zehn Jahre [als Mitglied eines "kirchlich-politischen Zentrums"], sie für fünf). Jede von ihnen verbrachte eineinhalb Jahre in der Lubjanka, in dem inneren Gefängnis, und Aleksej Fedorovič verbrachte viereinhalb Monate in Einzelhaft. Er schrieb an seine Frau aus dem Lager, die Lubjanka in Erinnerung rufend: "Weder Drohungen noch Gewalt, weder Furcht vor dem Tode oder Folter können mich zwingen, schändlich zu handeln". Nach der Verurteilung am 3. September 1931 wurde der Häftling in die Butyrka gebracht, so dass zur Zeit, als er im Lager ankam, Aleksej Fedorovič schon fast zwei Jahre seiner Verurteilung verbüßt hatte. Es geschah im Jahre 1930, dass tausende von Gelehrten in jedem Bereich der Spezialisierung, humanistisch und technisch, ins Lager kamen. Und wie ein Wunder (nicht ohne die Hilfe von E.P.Peškova [Ehefrau Gorkijs] und M.I.Ul’ianova [Schwester Lenins]) kehrten sie [im Herbst] 1933 mit ihren niedergeschlagenen Überzeugungen nach Hause, nach Moskau, zum Arbat, zu ihrer Wohnung zurück, die infolge einer zweimaligen Besetzung (ein OGPU-Agent hatte dort Quartier gemacht) geplündert worden war – das bedeutet, dass jemand einbricht und Manuskripte und Papiere verschwanden.

Solches war die Katastrophe – wie es scheint. Aber es kam noch mehr dazu. L.M.Kaganovič, dieser "Kenner" der Philosophie, hatte über den Autor von acht hervorragenden philosophischen Werken, Professor A.F.Losev, ein Urteil gesprochen. Und nicht irgendwo, sondern in dem Bericht des 16. Parteitages der Kommunistischen Partei wurde Losev zu den Klassenfeinden gezählt, den schwarzen Hundert und den Obskurantisten [Es kam also zu einer öffentlichen politischen Kampagne gegen den "Idealisten" Losev]. Dies wäre genug gewesen für ein Urteil, sogar strenger als zehn Jahre, aber 1930 war noch sozusagen eine "idyllische" Zeit für Intellektuelle, die nicht in Politik verwickelt waren.

In den Lagern – die erste Strecke mit dem Zug bis Svir’stroj und von dort zu Fuß über vierzig Verst zur Stadt Važino – dort war die allgemeine Tätigkeit Baumfällen und Holzflösse anfertigen, dann Invalidität (ernster Rheumatismus und Blutungen im Sehzentrum, Skorbut und Verlust der Haare). Danach trug er eine Mütze, nicht aus akademischer Pedanterie – Losev war nicht in die Sovjetische Akademie der Wissenschaften gewählt worden – sondern wegen Lagerdystrophie. Auf der anderen Seite wurde seine Situation wesentlich erleichtert: er arbeitete als ein Lagerraumwächter, acht Stunden im Freien, warm gekleidet und nicht nur in Gefängnisuniform; die Gefangenen teilten miteinander, was sie besaßen. Das Lagerleben ließ sie das Verlassen der Butyrka bedauern. Sie lebten in Zelten, immer feucht und kalt, mit so zusammengepressten Schlafstellen, dass, wenn eine Person sich umwandte, sich alle vier oder fünf Menschen umdrehen mussten.

Natürlich war es ein Segen, dass er lange Briefe an seine Frau im sibirischen Lager schreiben konnte (mit einem Bleistift) und von ihr Briefe empfangen konnte und sogar von Zeit zu Zeit Bücher aus Moskau, hauptsächlich über Mathematik. Gedanken des Todes bedrängten ihn, trotz der Stärke seines Geistes: "Ich weiß, wie sie hier sterben. Hier gibt es keine Freiwilligen, ein normales Grab in den gefrorenen Boden zu graben". "Aber wie stark will man leben, wie stark will man leben". Während seiner siebzehn Monate im Gefängnis hatte Aleksej Fedorovič mit Begeisterung und erfolgreich dutzende von Vorträgen und Kurse in Geschichte der Philosophie, Ästhetik, Logik und Dialektik für seine Gefängniskameraden gehalten. Aber in dem Lager leitete er nur einen Feldzug gegen Analphabetentum in Arithmetik, und sogar dies provozierte die Gegenschaft der "Intellektuellen".

Aber sein "Lebensgeist" ermattete; ein Denker kann nicht ohne Gedanken leben. Er sehnte sich nach Musik, Mathematik, Astronomie. Er schrieb: "Wenn ich in der Nacht Dienst hatte, sah ich zum Himmel auf, und der Sternenhimmel war strahlend auch bei dir, bei deiner Astronomie, bei unserer gemeinsamen Wissenschaft, die gleichzeitig Astronomie, Philosophie und Mathematik ist". Er sah sich selbst als einen Philosoph des Namens, der Zahlen und der Mythen, als einen Schriftsteller und Denker, aber in keinem Sinne als Gefangener. "Welches Schwein", rief er zornig aus, "hat das Recht, mich als Gefangenen zu betrachten – mich, einen russischen Philosophen!" "Wenn ich meine Runden mache, meine Gebäude bewache, denke ich nach über Probleme der Philosophie der Zahl". In dem Lager wurde ein Buch über die Dialektik der analytischen Funktion geboren, "geschrieben in meinem Kopf ", wie Aleksej Fedorovič uns mitteilt, gewidmet Valentina Michailovna. Es wird uns nun klar, warum Aleksej Fedorovič, seines Sehens beraubt, seine Bücher in seinem Kopf ausdachte und  sie ohne Korrekturen diktierte. Er hatte eine Art von innerer Vision, die die Götter den alten weisen Männern und Propheten gegeben hatten, um die physische Vision zu ersetzen, die ihnen das Schicksal weggenommen hatte. Er träumte vom Schreiben eines Buches zusammen mit Valentina Michailovna über die "Sternenhimmel und ihre Wunder", denn sie war "zutiefst mathematisch" und "musikalisch faszinierend".

Nur durch aufmerksames Studium der erstaunlichen Korrespondenz der beiden Lager kann man die unwahrscheinliche Kraft des Geistes verstehen, die Losev für Jahrzehnte aufrecht erhielt und ihn das Denken so hoch einschätzen ließ. Welche Demut musste er haben, nicht wütend zu werden, nicht dorthin zu kommen, die Welt zu hassen, sich seiner großen Karriere bewusst ("dies ist mein Werk der Reue und meine Mission"), seine Verluste ("Ich bin ein Musiker, der sein Instrument verloren hat. Ich bin ein Schriftsteller und kann nicht ohne meine literarische Arbeit sein, und ich bin ein Denker und kann nicht ohne Denken leben"), und sein unerschöpfliches schöpferisches Potential ("Ich habe viele andere Theorien durchdacht, die ich veröffentlichen muss"). Er schrieb an Valentina Michailovna: "Versuche, dem Bösen mit Liebe und Freundlichkeit zu antworten".

Wenn viele über die verzweifelte Kühnheit seines 1930 erschienen Buches Die Dialektik des Mythos staunten, schrieb er, dass er nicht zum Schweigen gebracht werden könnte, denn "für einen Philosophen, der eine Philosophie von nicht abstrakten Formen, sondern von vitalen Phänomenen der Existenz entwirft, war dies zunehmend unerträglich. Ich erstickte an der Unfähigkeit, mich selbst auszudrücken und auszusprechen... Ich wusste, dass dies gefährlich war, aber für einen Philosophen und Schriftsteller gewinnt der Wunsch, sich selbst auszudrücken, seine blühende Individualität auszudrücken, die Oberhand über alle Betrachtungen der Gefahr".

Aleksej Fedorovič wurde verboten, im Bereich Philosophie zu arbeiten. Deshalb veröffentlichte er dreiundzwanzig Jahre lang seine Gedanken nicht. Aber dies bedeutet nicht, dass er nicht arbeitete. Im Jahre 1941 hatte er seine fünfbändige Klassische Mythologie vorbereitet (sogar dieser systematische Überblick von mythologischen Quellen, so extrem wertvoll vom Standpunkt der Wissenschaft und der Literaturkunst, wurde nicht veröffentlicht, obwohl es zur Schriftsetzung weitergegeben wurde) und seine Geschichte der Ästhetik, Band I, "Altertum" (woraus die "Ästhetische Terminologie der frühen griechischen Literatur" erwuchs, und einige seiner Materialien waren eingeschlossen im Band I der Geschichte  der klassischen Ästhetik; und er übersetzte Nikolaus von Cues und Sextus Empiricus (G.F.Aleksandrov hielt den Druck des späteren in Sotsegzis zurück. Es wurde erst 1975-76 in einer revidierten Form gedruckt).

Dieser hervorragende russische Philosoph verdiente seinen Lebensunterhalt in den 30er Jahren, indem er klassische Literatur und alte Sprache in Provinzkollegien lehrte. Es ist verständlich, warum es keine Karriere für ihn beim IFLI [Institut der Philosophie, Literatur und Geschichte] gab, wo es eine philosophische Fakultät und eine Abteilung für klassische Philologie im Jahre 1934 gab, noch an der Moskauer Staatlichen Universität, wohin diese Abteilung im Jahre 1943 übertragen wurde. Losev blieb ein "Verwandter eines Lehrers" und "kleiner Professor" (wie er – sich selbst neckend – nannte), der es liebte, bis zu dem Punkt der Selbst-Vergessenheit zu lehren, und der ein Lehrer von der Gnade Gottes war, wie man sagt. [1943 erhielt er den Titel eines Doktors der Philologie "honoris causa"].

In der Tat war sein Hauptberuf ganz unterschiedlich, und seine Karriere wurde heftig zu einem Stillstand gebracht. Der Pfad der unabhängigen Entwicklung des russischen philosophischen Denkens wurde gehemmt, und aus diesem Grund betrachtete Losev sich als den letzten russischen Philosophen. Mit welcher Qual schrieb er: "Ich habe nur gerade große philosophische Werke erreicht, in Anbetracht zu allem, was ich geschrieben habe, ist es bloß ein Vorwort". Es blieb für ihn, über sich selbst zu sagen: "Ich bin in Ketten gefesselt, während ungenützte und unausschöpfliche Kräfte in meiner Seele brodeln ... neue Gedanken kochen in meinem Geist", aber "Leiden mit einem Zweck ist besser als Glück ohne Sinn". Es wird uns nun deutlich, warum Aleksej Fedorovič ganz und gar nicht glücklich war, als etwas Unbekanntes von seinen wissenschaftlichen Texten herausgeholt wurde – ob Briefe (glänzende Briefe, die Losev als ein Student schrieb, waren gefunden worden) oder Artikel (so der Artikel "Russische Philosophie", geschrieben 1919 in deutscher Sprache in Zürich, der Artikel, im Jahre 1918 über Skrjabins Weltsicht geschrieben ["Die philosophischen Ansichten A.N.Scriabins"], seine Sekundarschulen-Kompositionen und Kolleg-Notizen). Diese zertrümmerten Fragmente verursachten ihm Irritation und Ärgernis. Nun wird es verständlich, wie qualvoll es für Aleksej Fedorovič war, sich zu erinnern (und er versuchte nicht, sich zu erinnern, als ob er die Vergangenheit vollkommen vergessen hätte) und warum er weder den Fakten noch dem künftigen Urteil der Geschichte traute, sich mit Bitternis die Worte von einem von George Bernard Shaw's Charakteren in die Erinnerung zurückrufend: "Die Geschichte will lügen".

Doch Licht scheint in die Finsternis, und die Finsternis erfaßt ihn [es] nicht [vgl. Joh 1,5]. So war Aleksej Fedorovič imstande, seine geliebten philosophischen Ideen in Werke über klassische Ästhetik aufzunehmen; die Philosophie der Geschichte; die Philosophie der Sprache, Mythen und Symbole; die Theorie der Farbe; linguistische Modelle; künstlerischen Stil und Musik. Generationen von Menschen hungern danach, in Kontakt mit der Wahrheit zu kommen, waren emporgehoben zu den Büchern von Aleksej Fedorovič. Sie wurden zum gründlichen Verstehen des reinen Gedankens des Philosophen in die Lage versetzt, wenn sie Ohren hatten zu hören [vgl. Mt 11,15].

Losev wird üblicherweise ein enzyklopädischer Gelehrter genannt, ganz einzigartig für die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts mit seiner Differenzierung in verschiedene Bereiche. Es scheint uns, dass dieser Enzyklopädismus nicht das Ergebnis einer gewaltigen Bildung und die mechanische Verbindung von verschiedenen wissenschaftlichen Sphären ist, sondern in der Vorstellung der All-Einheit verwurzelt ist, hervorgebracht durch Solov’ev und aufgenommen von Losev auf die praktische Stufe seines schöpferischen Lebens.

Dieser Kampf für All-Einheit begann ganz früh in den oberen Klassen des Gymnasiums, als er zuerst von den Büchern des französischen Astronomen und Romantikers C.Flammarion gefangen genommen wurde, dessen Charaktere lebendige Symbole der Einheit des Menschen mit dem Universum waren. Solov’evs Werke, die Losev als Preis erhielt, als er zur achten Stufe des Gymnasiums aufstieg, verstärkten seinen Sinn der universalen All-Einheit und durchtränkten ihn mit Dialektik und der Idee der Synthese zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. In seinem eigentlichen ersten Universitätsjahr bemühte er sich, die "Basisprinzipien aller menschlichen Wissenschaften" zu entdecken; sie waren dann wieder notwendig für die Philosophie, die unfähig war "ebenso ohne die Naturwissenschaften" – von dort her das Studium der Subjekte, das erfordert wurde durch Professor G.I.Čelpanov (höhere Mathematik, Mechanik, Statistik, Biologie, Physik und Physiologie)4). Es war nicht grundlos, dass der junge Losev dieses Werk "Die Höhere Synthese als Glück und Autorität" schrieb, worin er die Notwendigkeit der Versöhnung aller Gebiete des geistigen Lebens der Menschheit – Wissenschaft, Religion, Philosophie, Kunst und Moral – in einer wissenschaftlichen Weltsicht aufzeigt. Seit Losevs Kampf als Student, alles zu umfassen, sich dennoch zur gleichen Zeit zu spezialisieren, was seine Vereinigung von Philosophie und Philologie an der Universität erklärt, und später seinen Enthusiasmus für Vjačeslav Ivanov und Skrjabin, deren Poesie und Musik glänzend die Einheit des kosmischen Seins veranschaulichen, war er vom philosophischen Denken, von der Individualität des Menschen, des Helden, durchdrungen. Es ist ganz folgerichtig, dass Losevs Kandidaten-Dissertation zum Abschluß der Universität, betitelt Die Weltsicht des Aeschylos [Mirovozzrenie Ėschila], philosophische und philologische Probleme umfassen sollte, worin Mythos, Symbole und der Name in dialektischer Einheit miteinander verschlungen sind.5) Es war dieses Werk, das der junge Losev an Vjačeslav Ivanov [1866-1949], den berühmten Symbolisten, zur gründlichen Durchsicht gab, zu dem er durch den Dichter V.O.Nilender, eine guten Freund von Aleksej Fedorovič, eingeführt worden war.6)

Der junge Losev beginnt mit Musik – der Kunst des reinen Werdens, der Kunst der Zeit in ihr selbst – was zu dem Problem des philosophischen Werdens führt und das Problem eines Kontinuums stellt, auf diese Weise den Übergang zur Dialektik und zur Mathematik vollziehend. Die Säule und die Grundfeste der Wahrheit [Stolp i utverždenie istiny] von Vater Pavel Florenskij, der eng in Geist und Seele während seiner Lebens A.F.Losev verbunden blieb, war ein anregendes Beispiel von All-Einheit für den jungen Mann. All-Einheit war bei Losev auch in seiner emphatischen Zurückweisung der undurchdachten Entgegensetzung von Idealismus und Materialismus manifestiert.

Glänzend demonstrierte er Platos verkörperte (somatische) Vorstellung der Ideen, und in seinem Buch über V.Solov’ev schlägt er die philosophisch bemerkenswerte Idee der Vergöttlichung der Materie und die Verehrung von Mutter Erde vor. Das Ganze der Antike wird von Losev als eine Einheit von Idee und Materie beschrieben, Sinn und Formen. Die Götter der Antike sind die Prinzipien, die die Gestaltung des materiellen Kosmos unterstreichen, während die Idee ein produktives Modell für das kosmische Ganze ist. In seiner Theorie der kulturellen Typen weist Losev beständig hin auf die unbemerkten Übergänge von einer Epoche zur anderen, den Mangel mechanischer Trennungen zwischen ihnen und die Rudimente der Vergangenheit und die Samen der Zukunft in jeder soziohistorischen Periode. Was die All-Einheit betrifft, die Kultur der Antike, der Losev viele Jahre seines Lebens widmete, liefert das lohnendste Material, alles entschieden zusammenfassend – das Studium des Menschen und aller seiner Fähigkeiten, Gesellschaft, Natur, den Kosmos, Götter und das Schicksal. Es war kein Zufall, dass das letzte, das er in seinen Händen hatte, und was ihm vorgelesen wurde, eine [Text-] Sammlung des Wissenschaftlichen Rates der Kultur war, verbunden mit der Akademie der Wissenschaften der USSR und betitelt Antike als ein Typus der Kultur [Antičnost' kak tip kul'tury], die unter seiner Herausgeberschaft veröffentlicht worden war und zwei seiner großen Artikel einschloss, über klassische Kultur als ein Typus und klassisches Denken als ein Typus. Tatsächlich, auch Aleksej Fedorovičs beliebte Methode, die er die "Losev"- Methode nannte, basierte auf einer sehr subtilen Dialektik, angewandt auf starke, monumentale Erscheinungen der Kultur – eine Dialektik, begründet in exakter Wissenschaft und gründlichem Studium des Objekts einerseits, doch frei von übertriebener akademischer Pedanterie und sogar Elemente künstlerischer Einsicht enthaltend. Monumentalismus hielt Losev keineswegs vor dem Abstieg in die genauesten terminologischen Erkundigungen ab, häufig mit den kompliziertesten Texten arbeitend und letztlich die ganze komplexe Totalität einer Idee und die Virtuosität seiner analytischen Forschungen auf die einfachste der Formeln zusammenfassend ("Wasser kocht, aber die Idee des Wassers kocht nicht") und zu den Sätzen ("Zwanzig Sätze über klassische Kultur"), verstehbar sogar von dem Ungebildetsten.

All-Einheit schließt tragische Schicksale und dramatische Konflikte nicht aus. Losev selbst als eine wahrhaft tragische Gestalt (aber eine Seele voll von Bescheidenheit) beschrieb mit seinem eigenen speziellen inneren Verstehen die Tragödie der Lebensläufe nicht nur von Plato, Aristoteles oder Julian ("Man muß nun weitergehen" war Aleksej Fedorovičs beliebtes Wort), sondern sogar ganzer philosophischer Schulen an der Wasserscheide zwischen zwei Kulturen, d.h. die neuplatonische Schule.7) Die römischen Dichter Lukrez und Virgil starren auf uns mit Haltungen, die von Tragik erfüllt sind. Aber die ganze Renaissance mit ihren erbärmlichen berühmten Titanen – ist es nicht ein Beispiel tragischer Größe? Als ein Philosoph und Gelehrter durchlief Losev auch die gute Schule der "All-Einheit"; als er ein Mitglied philosophischer Gesellschaften war, geschah es dort (und nicht bei Universitätsvorlesungen), dass er die wichtigsten Gedanken aufnahm, und mit denen verkehrte, die Vladimir Solov’ev persönlich kannten. Diese ganze sublime, intellektuelle und freundliche Atmosphäre des reinen Denkens rettete den jungen Philosophen aus Einsamkeit und geistiger Leere, den später das Schicksal mit mehr als seiner Teilnahme an Einsamkeit und intellektueller Leere belohnen sollte.

Man muss nur sehen, welche Vorlesungen der junge Losev gab, und wer die neubekehrten gelehrten Diskussionspartner in der religiös-philosophischen Gesellschaft, benannt nach Vladimir Solov'ev 8), in der Psychologischen Gesellschaft der Moskauer Universität, in dem philosophischen Zirkel, benannt nach L.M.Lopatin (verbunden mit dem Psychologischen Institut der Universität Moskau) und in der Freien Akademie für Intellektuelle Kultur (VADK), gegründet von N.A.Berdjaev, während der Revolutionsjahre waren.9) Die Vorlesungen waren "Das Problem der fundamentalen Einheit der Platonischen Dialoge Parmenides und Timaeus" (in der VADK und in der Solov'ev-Gesellschaft), "Der Begriff 'Eidos' und 'Idea' bei Plato (in der letzten Sitzung der Psychologischen Gesellschaft im Jahre 1921 unter dem Vorsitz des gut bekannten Hegelianers I.A.Il'in), "Aristoteles' Theorie des tragischen Mythos" (im philosophischen Zirkel Lopatin), "Griechisch-heidnische Ontologie bei Plato" (in VADK). Und seine Diskussionspartner (wie in Notizen über die Vorlesungen dieser Zeit aufgezeichnet) waren P.A.Florenskij, S.L.Frank, G.A.Račinskii, I.A.Il'in, L.Šestov, F.A.Stepun, B.P.Vyšeslavcev, S.N.Bulkgakov, N.A.Berdjaev und andere – die eigentliche Blüte der russischen Philosophie. Im Jahre 1922 wurden fast alle mit ihren Familien aus dem Land vertrieben.

Aleksej Fedorovič sagte ständig: "Was ist mir mir? Ich war damals erst ein Junge, ein Student". Aber wenn man bedenkt, dass Aleksej Fedorovič im Jahre 1911 begann, die philosophische Solo’ev-Gesellschaft und die Psychologische Vereinigung der Universität Moskau als ein Ein-Jahres-Student zu besuchen, und dass sie 1921 geschlossen wurden, während die VDAK bis zum April 1922 arbeitete, sieht man, dass zu dieser Zeit Losev wirklich nicht länger ein "kleiner Junge" war, sondern seine Bücher vorbereitete, deren Ideen er tatsächlich mit seinen älteren Kollegen bei Vorlesungen der philosophischen Gesellschaften teilte.

Schon im Jahre 1918 lud Aleksej Fedorovič in seiner Stellung als Herausgeber P.A.Florenskij ein, an der Veröffentlichung einer religiös-philosophischen Buchreihe teilzunehmen, die von S.N.Bulgakov und Vjačeslav Ivanov geplant war (Losevs Brief vom 24. März alten Stils). Im Jahre 1924 schrieb er ("denn andere sind nicht länger hier, sondern weit weg") an Florenskij mit der Bitte (24. Mai neuen Stils) an der Veröffentlichung einer Serie von Sammlungen teilzunehmen, die von Menschen "ihm in der Weltsicht nahe" und "teilweise von Gelehrten" vorbereitet wurde (unter ihnen waren natürlich Losev selbst und seine Frau Valentina Michailovna). Das bedeutet, es gab noch Illusionen über die Entwicklung des russischen philosophischen Denkens. Wirklich, wie konnte es dies nicht geben, wenn Losev es vorbereitete und zwischen 1927 und 1930 tatsächlich acht seiner bemerkenswerten Bände veröffentlichte. Fünfzig Jahre später schrieb der sovjetische Philosoph V.K.Bakšutov, ein Kenner von Losevs frühen Werken, an Aleksej Fedorovič über diese Bücher, indem er sagte, sie seien "ein Flug poetischer Inspiration", und sie wären "nicht nur Losevs eigene Schöpfungen, sondern der Ausdruck des russischen nationalen Genius", und dass "ihr Licht niemals ausgelöscht wird, sondern weiter und weiter brennen wird"; sie warten auf ihre Veröffentlichung "ohne irgendeine Veränderung, welche auch immer" (12. Dezember 1979).

Jedoch Losev, der sich der traurigen, aber fest bewährten Erfahrung seines langen Lebens erinnerte (wirklich wie der Dichter sagte, "In Russland ist es notwendig, eine lange Zeit zu leben") antwortete: "Alle, die mir Glück wünschen, waren mit ihren guten Wünschen verspätet", "morgen werden sie mein Grab graben". "Empfangt von mir Freundlichkeit und Liebe, aber die Gesetze der Natur und Gesellschaft haben unglücklicherweise weder Freundlichkeit noch Liebe". Zu dieser Zeit, am 21. November 1980, hegte Losev nicht länger die Illusionen, die er in seinen frühen zwanziger [Jahren] hatte. Und sogar als am 12. Januar 1988, vier Monate vor seinem Tode, M.Hagemeister, einer der Teilnehmer eines Symposions,10) gewidmet P.A.Florenskij in Bergamo, Italien, und Herausgeber von Losevs Dialektik der künstlerischen Form in Deutschland ihm einen bewegenden Brief sandte (er wurde überbracht vom Enkel von Pavel Florenskij, P.V.Florenskij, ein junger Freund der Losevs (wir waren alle, diejenigen von uns in unseren fünfzigern und sechzigern, jung für ihn), überlegte Aleksej Fedorovič tief. Der Brief war unterzeichnet von den Teilnehmern des philosophischen Seminars der Universität Marburg, die schrieben, dass sie Die Philosophie des Namens11) studierten und jetzt übergegangen seien zu Die Dialektik des Mythos, und – mit Hagemeisters Worten – säße man und analysierte diese Bücher bis zum Einbruch der Nacht. Nach dem Lesen des Briefes erinnerte Aleksej Fedorovič sich, wie er einst selbst in den Jahren, die längst vergangen waren, Hegel, Schelling und Cassirer studierte, wie er Vorlesungen in philosophischen Gesellschaften gab, und wie er Tag und Nacht literarisch an seinen frühen Büchern arbeitete. Aber es gab [nun] keine Freude [mehr], nur Trauer in seinen Worten. Es war zu spät. Sogar die Liebe und die Achtung der guten Menschen, alles war zu spät.

Aber dennoch, wie glänzend war seine Karriere sowohl im Leben als auch in der Wissenschaft! Er trank in seiner Fülle den Kelch des bitteren und freudigen Dienstes gegenüber der Wahrheit. Wie erstaunlich das Ende und der Beginn seines der Buße hingegebenen Werkes, wie er es sah, der Wissenschaft – der Beginn und das Ende seine Lebens – kamen zusammen. Er begann und endete mit Musik; er begann und endete mit dem Kosmos der Antike; er begann und endete mit dem Symbol; er begann und endete mit dem Mythos; und er begann und endete mit dem Namen. Er tat in klassischer Ästhetik, was ihm verboten worden war, in der Philosophie zu tun, weil die Antike das beste Beispiel der Welt für die Realisierung von All-Einheit zu sein schien, denn in der Antike fand die ganze innere Tiefe des Sinnes, die begreifbare Phänomenalität der Idee, das integrale Leben irgendeines Objekts von dem kleinsten Sandkorn bis zu dem allumfassenden Kosmos vollkommenen Ausdruck.

Aleksej Fedorovič schrieb seine acht frühen Bücher zwischen 1927 und 1930; und von 1958 bis 1988 – dreißig Jahre – schrieb er acht Bände der Geschichte der klassischen Ästhetik  (der siebente Band wurde nach seiner Tode veröffentlicht, und der achte [Band] wurde zum Verlag Iskusstvo geschickt). Er begann mit Vladimir Solov’ev, als er gerade in seinem letzten Jahr auf dem Gymnasium war. Er beendet sein Leben mit Solov’ev, als er sein Hauptwerk Vladimir Solov’ev und seine Zeit beendete (zwei Wochen vor seinem Tode zu Progress Publishers gegeben).12) Von seinen Kindheitsjahren an bis zu dem Ende der Schule nahm er in jedem Jahr am 24. Mai an der Gedächtnisfeier der Brüder Cyrill und Methodius, der Erzieher und "Lehrer der Slawen" (eine Privatkirche in dem Gymnasium war ihnen gewidmet) teil. Aleksej Fedorovič verließ dieses Leben gleichzeitig mit dem ersten Millenium der Christianisierung der Rus' am 24. Mai 1988 am Tag der Heiligen Cyrill und Methodius, der großen Patrone seiner geliebten Philosophie und Philologie.

 

Anmerkungen

*Der russische Text erschien in "Literaturnaja gazeta" Oktober 1988, der englische Text, der hier ins Deutsche übersetzt wurde, wurde veröffentlicht in: Soviet Studies in Philosophy 1989, Vol. 28, Nr. 2, S. 30-44. Die Autorin dieses Artikels, Aza Alibekovna Takho-Godi (seit 1954 mit A.F.Losev, der seit 1947 erblindet war, verheiratet), ist seit 1988 die Witwe von Fedorovič Losev. Sie ist Professorin und Doktor der philosophischen Wissenschaften und steht der Abteilung für klassische Philologie an der Moskauer Staatsuniversität vor. Ergänzungen des Übersetzers werden in [...] gesetzt. Für allgemeine Korrekturen wird Christoph Bambauer gedankt.

Weitere biographische Hinweise zu Losev: "Sein Vater [Fedor Petrovič] war Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik, quittierte jedoch bald den Schuldienst, um als Berufsmusiker [Cellist und Dirigent] weiterzuarbeiten. Er verließ die Familie, als Aleksej drei Jahre alt war, so dass die aus dem geistlichen Milieu der russisch-orthodoxen Kirche stammende Mutter für Losevs frühe Entwicklung bestimmend wurde... Seit 1911 besuchte er [Losev] die ‚Psychologische Gesellschaft’, wo er mit so bedeutenden Repräsentanten der russischen Philosophie wie N.A.Berdjaev, S.L.Frank und P.A.Florenskij kommunizierte, die einen tiefergehenden Einfluss auf sein Denken ausgeübt haben als die Moskauer Philosophieprofessoren. Besonders bedeutsam war für ihn damals die Begegnung mit dem Dichter und Theoretiker des russischen Symbolismus und hervorragenden Kenner der Antike, Vjačeslav Ivanov, der Losevs Verständnis von Dichtung und Mythos nachhaltig beeinflusst hat" (Losev, Die Dialektik des Mythos, Hamburg 1994, S. XII, Zit. Die Dialektik des Mythos). Mit Valentina Michailovna Sikolova war Losev seit 1922 verheiratet.

1) Vgl. weitere Einzelheiten zur Biographie Losevs sowie zu seinen Werken in: Wilhelm Goerdt, Russische Philosophie. Grundlagen, Freiburg 1995, S. 596f. Zit. Goerdt, Russische Philosophie.

Wir ergänzen hier die biographischen Details noch um folgende, nicht unwichtigen Einzelheiten aus: M.Hagemeister, Einleitung in A.F.Losev, "Dialektik der künstlerischen Form", Moskau 1927, Nachdruck München 1983, zit. Losev, Dialektik der künstlerischen Form. "Aleksej Fedorovič besuchte das Klassische Gymnasium seiner Vaterstadt und geriet dort unter den Einfluß seines Lehrers für Latein und Griechisch, des Tschechen Josef Mikš (1853-1918), der seit seiner Studienzeit in Leipzig mit dem berühmten polnisch-russischen Altphilologen Tadeusz Zieliński (F.F.Zelinskij), 1859-1944) befreundet war, einem Wegbereiter der Rezeption antiken Gedankengutes insbesondere in den Kreisen der russischen Symbolisten. Losevs Interesse galt indessen nicht nur den klassisch-philologischen Fächern, sondern richtete sich auch auf Mathematik, Astronomie und Musik. Neben dem Gymnasium besuchte er eine private Musikschule, wo er sich mit Erfolg im Fach Geige ausbilden ließ" (S. V).

2) Vgl. Die Dialektik des Mythos. Vgl. auch die dortige Einleitung des Herausgebers, Alexander Haardt, über: "Mythos, Sprache und Kunst im Frühwerk Aleksej Losevs" (S. IX-XXIII).

Die genannten frühen Schriften konnten, obwohl sie am antiken Neuplatonismus, an Patristik, am deutschen Idealismus und an Husserl orientiert waren, in den angegebenen Jahren – zwischen 1927 und 1930 – in Moskau veröffentlicht werden.

3) Goerdt, Russische Philosophie, schreibt: "1930 soll L. auch 10 Monate inhaftiert gewesen sein, womit seine Wendung zum Marxismus "auf nicht leichten Wegen" [...] zusammenhängen könnte. 1931 bis 1941 war er an einem Pädagogischen Institut tätig, seit 1942/44 ist er Professor auf Lebenszeit für klass. Philologie am staatl. Lenin-Institut für Pädagogik in Moskau" S. 596 A. 290). Von 1942 bis 1944 war Losev als Professor am Lehrstuhl für Logik der Moskauer Staatlichen Universität tätig. Dieser Lehrstuhl wurde ihm jedoch wegen "Propagierung Hegelschen Denkens" entzogen (so bei A.Haardt, Husserl in Russland – Phänomenologie der Sprache und Kunst bei Gustav Špet und Aleksej Losev, München 1993, S. 191. Zit. Haardt, Husserl in Russland.

4) Vgl. dazu W.Goerdt, Russische Philosophie: "Seine Lehrer der Philosophie waren G.I.Čelpanov (1863-1936), seit 1907 Prof. in Moskau und wohl auch M.L.Lopatin" (S. 596). Vgl. dazu auch den Hinweis von A.Haardt, Die Dialektik des Mythos, auf A.F.Losev: "Ėros u Platona [Der Eros bei Platon], in: Jubilejnyj sbornik professoru G.I.Čelpanovu ot učastnikov ego seminariev v Kieve i Moskve (Festschrift für Prof. G.I.Čelpanov von den Teilnehmern an seinen Seminaren in Kiew und Moskau). Moskau 1916. S. 52-79. Nachdruck: Вопросы Философии 1988, Nr. 12, S. 121-139 (S. XXV).

5) A.F.Losev beendete sein Universitätsstudium im Jahre 1915 (so Goerdt, Russische Philosophie S. 596 A. 290). So zitiert D.Nikulin, Metaphysik und Ethik. Theoretische und praktische Philosophie in Antike und Neuzeit, München 1996 (mit einem Vorwort von V.Hösle S. 7-9): "Wie A.Losev zu Recht behauptet, ist der antike Typ der Weltanschauung durch und durch symbolisch, denn in ihm sind einige symbolische Formationen vorhanden (die Tragödie, die Philosophie als Verfahren des Lebens), die dem Menschen helfen, sich in einer idealen Welt des Seins, in einem Zustand der Sammlung, der Wahrheitsschau aufzuhalten – natürlich unter der Bedingung, dass der Mensch versteht, mit dem Symbol umzugehen, denn dieses Verständnis ergibt sich nur um den Preis von Unterrichtung und beständigen Anstrengungen. In der Neuzeit dagegen wird die gesamte Welt als bezeichnet angesehen: Das, was keine Bezeichnung bekommen hat, hat keine Bedeutung und folglich auch keinen Sinn und keine Verwendung im allgemeinen System der Beziehungen" (S. 34). Eine aufmerksame Lektüre dieses Buches von D.Nikulin (geb. 1962 in Novosibirsk), dessen 1993 in russischer Sprache erschienenes Werk zu "Raum und Zeit in der Metaphysik des 17. Jahrhunderts" mit dem Preis der Russischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurde, legt sich – mit V.Hösles Worten – aus folgenden Gründen nahe: "Dafür ist es eine großartige Stärke dieses Philosophierens, dass es mit moralischem Pathos auftritt, dass es sich nicht mit bloßen Denkspielereien begnügt, sondern persönlich für die eigenen Ideen einsteht. Wem damit ernst ist, sich möglichst ohne Vorurteile auch mit anderen Kulturen und ihren Denktraditionen auseinanderzusetzen, der wird es begrüßen, hier ein Buch auf deutsch lesen zu können, das sicher zu den wichtigsten Produktionen der neueren russischen Philosophie gehört" (S. 9).

6) Vgl. dazu die ausführliche Studien von F.Stepun in: Mystische Weltschau. Fünf Gestalten des russischen Symbolismus, München 1964: "Wjatscheslaw Iwanow" – Der russische Europäer (S. 201-278); außerdem: B.Schultze, Russische Denker, Wien 1950, S. 423-435.

7) Vgl. dazu den Hinweis bei Haardt, Husserl in Russland: "Die Brücken zum Denken Plotins und Proklos' schlug er [Losev] über die Systeme des deutschen Idealismus, insbesondere über diejenigen Schellings und Hegels, sowie über solche Denker des antiken und mittelalterlichen Christentums wie Pseudo-Dionysius, Johannes von Damaskus und Nicolaus Cusanus, die alle vom antiken Platonismus wesentliche Impulse erhalten hatten. Das Verbindende dieser so verschiedenen Erfahrungshorizonten zugehörigen Weltauslegungen sah Losev in der ihnen gemeinsamen dialektischen Denkweise, welche es erlaube, die Wirksamkeit in ihrer Totalität und Lebendigkeit als sich entwickelnde Einheit von Gegensätzen zu rekonstruieren" (S. 187f.). Über die frühen Impulse, die Losev empfing, schreibt Haardt: "Früh fühlte er sich durch die Philosophie Vladimir Solov’evs angezogen, deren Leitgedanke von der dialektischen Einheit des Endlichen mit dem Unendlichen für sein weiteres philosophisches Denken wegweisend geworden ist. [...] In den Seminaren von Čelpanov und Špet wurde Losev mit Husserls "Logischen Untersuchungen" und den "Ideen I" bekannt gemacht" (a.a.O., S. 188). Sein Lehrer der klassischen Philologie war – nach Haardt – der Gräzist N.I.Novosadskij (1859-1941).

8) Vgl. zur Mitgliedschaft N.A.Berdjaevs in dieser Gesellschaft seine Autobiographie "Selbsterkenntnis", Darmstadt 1953, S. 175. Zit. "Selbsterkenntnis". Schon zuvor hatte Berdjaev in St. Petersburg die "Religionsphilosophische Gesellschaft". Dann verließ er die Stadt im Jahre 1907. Losev selbst besuchte die Gesellschaft seit 1911.

9) Vgl. dazu N.Berdjaev: "Schon damals [1917] durchlebte ich eine innere Erschütterung, verstand für mich selber die Ereignisse zu deuten und begann sehr aktiv hervorzutreten; ich hielt viele Vorlesungen, hielt Vorträge, schrieb viel, debattierte, war sehr aktiv im Schriftstellerverband, gründete die "freie Akademie für Geisteskultur" ("Selbsterkenntnis" S. 254). Vgl. dort auch die Ausführungen Berdjaevs über V.Ivanov (S. 170ff.).

10) Zur Florenskij-Tagung in Bergamo vgl. auch den Bericht von Abt Innokentij: "International Symposium in Bergamo in Memorial of Father Pavel Florensky", in: The Journal of the Moscow Patriarchate Nr 3/1989, S. 50/51.

11) Philosophie des Namens, Moskau 1927. 1. Nachdruck Moskau 1990. 2. Nachdruck Moskau 1990. In diesem Zusammenhang erfahren wir von Haardt, Husserl in Russland: "Spätestens zu Beginn der zwanziger Jahre gelangte Losev unter den Einfluss der Theologie des "imjaslavie" ("Имяславие" =der "Preisung des Gottesnamens"), einer in der griechischen und russischen Orthodoxie umstrittenen Strömung, die auf den Hesychasmus und Gregor von Palamas zurückging und damals in den Kreisen der Moskauer Intelligenz Beachtung fand. Gemeinsam mit P.A.Florenskij hat Losev diese theologische Konzeption zu explizieren versucht. Schon im Verlaufe seines Studiums war Losev mit Professor F.F.Egorov (1869-1931), einem philosophisch interessierten Mathematiker, bekannt geworden, der der mystisch-gnostischen Bewegung der "imjaslavie" nahestand (Vgl. Losev, Dialektik der künstlerischen Form S. VI). Vgl. dazu auch: F.A.Losev: Имяславие in: Вопросы Философии Nr. 9/1993, S. 52-60. Auf dem Hintergrund des "imjaslavie" ist auch sein philosophisches Hauptwerk, die 1923 im wesentlichen beendete "Philosophie des Namens", zu verstehen, derzufolge das Wesen eines Seienden in seinen Energien, insbesondere in seinen Namen, manifest wird, dies in einer Weise, dass das Wesen im Namen zugleich verborgen bleibt" (S. 190). "Besonderer Aufmerksamkeit erfreut sich der religiös-philosophische Hintergrund von Losevs frühen Werken, insbesondere die in seiner "Philosophie des Namens" nur in Andeutungen greifbare Bewegung des "imjaslavie", zu deren Theoretikern Losev zu Beginn der zwanziger Jahre gehört hatte. Auch das gesamte Spektrum von "Einflüssen" auf Losevs frühes Denken, das vom antiken Neuplatonismus bis zur Lebensphilosophie Bergsons und zur Phänomenologie Husserls reicht, kommt immer wieder zur Sprache" (Haardt, a.a.O., S. 195). Vgl. zu weiteren Einzelheiten: Haaardt, Husserl in Russland, S. 190, A. 523.

12) Vgl. Die Dialektik des Mythos: "Knapp vor seinem Tode beendete Losev die umfassende Monographie über "Vladimir Solov’ev und seine Zeit", Moskau 1990, nachdem er über Solov’ev schon 1983 eine kleinere Arbeit publiziert hatte. Zu erwähnen ist auch die 1988 erschienene, mit A.Gulyga veranstaltete zweibändige Ausgabe von Werke Solov’evs (S. XV). Über seine übrige literarische Tätigkeit teilt A.Haardt in seiner Einleitung zu "Dialektik des Mythos" mit: "Seit 1953 hat Losev in den Bereichen der antiken und neuzeitlichen Philosophie und Literatur, der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Ästhetik und Musiktheorie und anderen Forschungsgebieten an die 400 Arbeiten, darunter 34 Bücher veröffentlicht" (S. XIV). Eine Festschrift erschien im Jahre 1983 zu seinem 90. Geburtstag in Tbilisi (vgl. Goerdt, Russische Philosophie, S. 596, A. 290). In Hinsicht auf die Festschrift bemerkt Haardt, Husserl in Russland: "Als erster Schritt einer Renaissance von Losevs frühem Denken kann die [...] Festschrift angesehen werden. Hier wird versucht, die ganze Vielfalt kultur- und philosophiegeschichtlicher Bezüge herauszuarbeiten, aus denen heraus Losevs Schaffen zu verstehen ist. Die Rolle V.Solov’evs für das Denken des jungen Losev, die Bedeutung des frühen Nietzsche für seine Ästhetik und seine Bezüge zum zeitgenössischen Symbolismus werden ebenso thematisiert wie seine Rezeption von Plotin und Proklos" (S. 195). Zur weiteren Würdigung von Losevs Werk vgl. Haardt, Husserl in Russland, "Werk und Resonanz", S. 193-196. "So sieht der russische Philosoph S.L.Frank in ihm einen "Anhänger der Phänomenologie Husserls, der die Phänomenologie in eine universale 'Dialektik' verwandelt, wobei er sich auf die dialektischen Konstruktionen von Platons 'Parmenides' stützt und auf deren weitere Ausarbeitung bei Plotin und Proklos" Haardt, a.a.O., S. 193). Weiter erläutert Haardt, Husserl in Russland, mit Blick auf Losev, dass in der interessierten Öffentlichkeit das Werk Losevs zunehmend zur Kenntnis genommen würde, belege die Serie "Aus der Geschichte des russischen philosophischen Denkens" in der "Literaturnaja gazeta" im Oktober 1988 mit dem hier auf dem Englischen übersetzten Artikel über Aleksej Losev von Takho-Godi (S. 195). Von besonderem Wert ist auch A.F.Losevs kurze theologisch-historische Studie "Die christliche Trinitätslehre im Übergang von der Antike zum Mittelalter", ohne Quellenangabe abgedruckt in: Stimme der Orthodoxie, Heft November 1990, S. 34-46. In diesem Aufsatz bezieht sich Losev auch auf sein erwähntes Werk "Geschichte der antiken Ästhetik", Bd. 2, Moskau 1969, S. 280-299 sowie Bd. 6, Moskau 1980, S. 296-298. Um die Qualität der Arbeit Losevs zu demonstrieren, hier nur ein kurzer und exemplarischer Ausschnitt. So kann Losev im Zusammenhang seiner genannten trinitätstheologischen Studie im Abschnitt "Das Problem der Person" sagen: "Die Person ist eine einmalige, unwiederholbare Einheit. Zum ersten setzt sie zwingend die Existenz anderer ebensolcher Einheiten voraus, denn nur, indem sie sich von ihnen in bestimmer Hinsicht unterscheidet und in einen Vergleich mit ihnen tritt, gewinnt sie ihre Besonderheit – sonst wäre sie nicht unwiederholbar. Zum anderen kann es solche personalen Einheiten nur geben, wenn eine Person überhaupt, d.h. eine universale Einheit personaler Art existiert; denn ohne Vergleich mit ihr wäre die Einzelperson überhaupt keine Einheit. Außerdem beruht die Person auf der Selbstbezüglichkeit sowohl im Hinblick auf sich selbst als auch im Hinblick auf alle anderen; denn diese Selbstbezüglichkeit ist die äußerste Verallgemeinerung aller ihrer Einzelfunktionen und deshalb eine selbstgenügsame und zugleich faktische (nicht nur ideal-gedankliche) Substanz... Die Person existiert nur durch andere Personen, es gibt sie nicht ohne Gemeinschaft, deren Kondensat sie ist... In jenen ersten Jahrhunderten der neuen Ära, als das Christentum ans Licht trat und seinen Aufstieg begann, war die antike Philosophie nicht nur reif, sondern überreif geworden: Alle für sie spezifischen Fragen von Einheit und Vielheit, von Bewusstsein und unbewussten Dingen überhaupt, von Idee und Materie wurden nun endgültig gelöst und in eine systematische Ordnung gebracht" (S. 45f.).

 

Anhang aus: Вопросы Философии, Nr. 9, 1988, S. 172f: Aleksej Fedorovič Losev

 

Übersetzung von Gertraude Bambauer

 

Am 24. Mai 1988 starb im 95. Lebensjahr der bedeutende Philosoph, Gelehrte von Weltruf, Patriarch der einheimischen klassischen Philologie, Staatspreisträger, Doktor der philologischen Wissenschaften Professor Aleksej Fedorovič Losev.

Leben und Persönlichkeit A.F.Losevs sind einzigartig. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts geboren, nimmt er die intellektuellen Probleme und die geistige Größe der russischen Kultur Anfang des 20. Jahrhunderts in sich auf, beendet 1915 die historisch-philosophische Fakultät der Moskauer Universität in zwei Fächern zugleich: in Philosophie und klassischer Philologie. A.F.Losev schafft in 20 Jahren eine Reihe glänzender Arbeiten, an denen das Interesse immer mehr wächst, nicht nur in der UdSSR, sondern auch in der ganzen Welt ("Der antike Kosmos und die gegenwärtige Wissenschaft", "Musik als Gegenstand der Logik", "Philosophie des Namens", "Dialektik der künstlerischen Form", "Dialektik des Mythos"). Ein Kind seiner Zeit, spiegelte A.F.Losev all ihre Aufschwünge und Stürze nicht nur im Denken, sondern auch in seinem Schicksal wider: Im Laufe einer zwanzigjährigen Periode (dreißiger - vierziger Jahre) war die Möglichkeit, veröffentlicht zu werden, für den Gelehrten faktisch unzugänglich. Jedoch weder die zwei Jahre, die er am Weißmeerkanal arbeitete, noch die verlegerischen Schwierigkeiten dämpften seinen historischen Optimismus und konnten seinen riesigen Fleiß erschüttern, genährt von der selbstlosen Hingabe an die heimische Kultur und von dem Glauben an ihre Gegenwart und Zukunft. Der Nachlass A.F.Losevs besteht aus mehr als 400 Titeln, darunter 35 Monographien, in denen der Gelehrte praktisch zu allen Problemen der Geisteswissenschaften sein Wort sagte ("Ästhetik der Wiedergeburt", "Sprachliche Struktur", "Zeichen, Symbol, Mythos", "Hellenistische römische Ästhetik", "Probleme des Symbols und realistische Kunst", "Antike Geschichtsphilosophie" u.a.). Einen besonderen Platz nimmt die übersetzerische Tätigkeit A.F.Losevs ein, der kommentierte Übersetzungen von Platon, Nikolaus Cusanus, Proklos, Aristoteles, Sextus Empiricus und vielen anderen antiken und mittelalterlichen Autoren herausgab. Die Gedankenwelt Losevs bildet den geistigen Wert unserer Gesellschaft, die Ideen des Gelehrten beeinflussten schon die Geisteswissenschaften und werden noch lange Einfluss darauf ausüben.

Für viele Generationen von Gelehrten waren die Arbeiten A.F.Losevs das Verbindungsglied zwischen der Kultur Ende des 19. Jahrhunderts – Anfang des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart; sie stellen das Bild der auf Freiheit gerichteten Entwicklung der europäischen Kultur wieder her. Losevs Bild der Weltzivilisation ist durchdrungen von historischem Optimismus und intellektueller Güte; die Kultur erscheint in seinen Arbeiten als allumfassende, weise Einheit, die die scharfen und gefährlichen Ränder der abstrakt theoretischen, religiösen, nationalen und anderen Abgrenzungen ausgleicht. Der Name A.F.Losevs bleibt in unserer Wissenschaft als Symbol für die Einheit der Weltkultur.

Einen besonderen Ort im Nachlass des Gelehrten nimmt die siebenbändige "Geschichte der antiken Ästhetik" ein, an der A.F.Losev von Mitte der dreißiger Jahre bis zu seinen letzten Lebenstagen arbeitete. Diese Arbeit ist eine für unsere Zeit höchst vollständige Sammlung typologischer und einzigartiger Momente der antiken Kultur, in der ebenfalls auch eine sozial-historische Charakteristik der Antike ausgearbeitet ist. Die Verbindung von konkret historischen und archetypischen Auffassungen der Antike mit Einbeziehung praktisch aller anderen Entwicklungsstufen der Weltkultur macht diese Arbeit nicht nur zu einem akademischen Kompendium, die die Reproduktion der wissenschaftlichen Tradition in den folgenden Generationen gewährleistet, sondern auch zu einer programmatischen abschließenden Arbeit des Gelehrten.

A.F.Losev war nicht nur Kulturkritiker, sondern auch Schöpfer der Kulturgeschichte. In den zwanziger Jahren skizzierte der Gelehrte – und arbeitete in den folgenden Jahren auch aus – solche fundamentalen Probleme wie die Vereinigung von naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Wissen, die Entwicklung des dialektischen Denkens, die Anwendung von Logik und Dialektik auf Ästhetik und Musikwissenschaft, Sprachphilosophie, Mathematikphilosophie, historische Grundformen des Denkens, von Mythologie und Symbolismus zu Dialektik und Historismus und viele andere. A.F.Losev kommen viele Ideen in Philosophie, Ästhetik, Philologie, Linguistik, Musikwissenschaft und Logik zu.

Leider ist nicht alles aus dem Nachlass A.F.Losevs publiziert. Man wartet auf die Herausgabe solcher Arbeiten wie die Artikel über Skrjabin (1919), russische Philosophie (1918), die Arbeiten zur dialektischen Logik (sechziger Jahre), die Monographie "Vl. Solov’ev und seine Zeit",1) den Artikel über mittelalterliche Dialektik, die Arbeiten "Antike Philosophie in zusammenfassender Darstellung", "Antike Mythologie. Quellensammlung. Kommentare und Beiträge von Prof. A.F.Losev", ein Sammelband mit Artikeln für junge Leute. Schließlich existiert auch das künstlerische Erbe A.F.Losevs: zwei philosophische Romane, geschrieben in den dreißiger Jahren. Uns steht nur noch bevor, das Phänomen A.F.Losev in seiner ganzen und vollständigen Gestalt kennenzulernen.

A.F.Losev war ein Aufklärer im vollen Sinn des Wortes. Bis zu Ende seines Weges arbeitete er nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Pädagoge, der einige Generationen von Philologen- und Philosophenklassen erzog. Bis zu seinen letzten Lebensmonaten wendete A.F.Losev sich an ein Studentenauditorium, worin nicht nur das Bewusstsein der Verantwortung für das Schicksal der Kultur, sondern auch die ewige Jugend des Losev'schen Denkens selbst und die Großzügigkeit eines klugen Verstandes zum Ausdruck kamen. Für uns alle zeigte sich A.F.Losev als eine Gestalt des kompromisslosen, nonkonformistischen und persönlichen Dienstes an der Wahrheit. Die Wissenschaft war seine Liebe, Objekt eines asketischen Dienens. Nicht nur das Denken A.F.Losevs, sondern auch seine moralische Kraft strömt ein in das dankbare Gedenken unserer Kultur.

Wenn zu Lebzeiten des Gelehrten diese Worte nicht gesprochen wurden, so können sie heute mit großer Aufrichtigkeit und Verantwortung ausgesprochen werden: A.F.Losev tritt in die Plejade hervorragender vaterländischer Philosophen ein, die die Kontinuität der Entwicklung der großen russischen Kultur gewährleisten.

 

Anmerkung

[1) Das hier erwähnte Werk über "Vl. Solov’ev und seine Zeit" (Vl. Solov’ev i ego vremja) erschien im Jahre 1990 in Moskau].

 

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