Berdjajew: Christliche Mystik begründet die Lehre von Gottes Menschheit

von Michael Aksionov Meerson*

 

 

aus dem Englischen übersetzt und mit zusätzlichen Anmerkungen in [...] versehen von

Klaus Bambauer

 

 

Nikolai Berdjajew (1874-1948), ein Freund und Kollege von Mereschkowskij und Iwanow und ihr Mitkämpfer des neuen religiösen Denkens, entwickelte das trinitarische Liebesparadigma in der Philosophie. Er war der russische Hauptarchitekt der existentiellen Philosophie der Trinität, die einen liebenden und leidenden Gott verkündigte, einen Gott der Beziehungen, Gott, den Liebhaber und den Geliebten, einen Gott, der sich nach seinem Anderen sehnt. Moltmann betrachtet Berdjajew und Mereschkowskij als die Hauptbefürworter der Lehre von der "göttlichen Tragödie" in der russisch-orthodoxen religiösen Philosophie, der Lehre, die er als eine der Schlüsselquellen seiner eigenen Theologie des leidenden Gottes identifiziert (1). Moltmann betont die Wichtigkeit der beiden Hauptgesichtspunkte von Berdjajews Lehre – ungeschaffene Freiheit und Gottes Sehnsucht nach dem Menschen. Im Namen dieser Freiheit und Sehnsucht weist nach Moltmann Berdjajew die monistische Sicht Gottes zurück, indem er auf Gottes Drei-Einheit besteht. Moltmann betont die Nähe zwischen Berdjajews Bemerkung des "inneren leidenden Dürstens der Gottheit" und der mystischen Einsicht in den göttlichen Durst des leidenden Jesus in "Der Offenbarung der Göttlichen Liebe" durch Julia von Norwich (2).

 

Berdjajew nannte seine Synthese ein mystische Philosophie, indem er betonte, dass seine Schlüsselquellen von der westlichen Mystik kamen, d.h. Meister Eckhart, Angelus Silesius, Jakob Böhme, die Viktoriner, Angela von Foligno und Ruusbroec. Soweit russische Quellen betrachtet werden, verband Berdjajews existentielle Synthese Solowjews Lehre der Gott-Menschheit, Mereschkowskijs Ideen über die Trinität und mystische Liebe und Iwanows symbolisches Vorbild.

Berdjajew stellt sein System des christlichen Existentialismus dar, worin er verschiedene zentrale Themen für Moltmann, Panikkar und Befreiungstheologen vorwegnimmt. Berdjajew zeigt ein personalistisches Verständnis der menschlichen Person, des trinitarischen Gottes und die Beziehungen zwischen der menschlichen Person und Gott auf. Der "anthropologische Wendepunkt" und die "Erhebung der Subjektivität", ursprüngliche Charakteristika der modernen Theologie, von Moltmann ausgewählt (3), sind vollkommen in Berdjajews Denken gegenwärtig. Berdjajew behauptet, dass der Bund zwischen Gott und Menschheit Ausgangspunkt für die Philosophie des religiösen Humanismus vorsieht. Gott schafft uns in vollkommener Freiheit. Jeder von uns ist Gottes Anderer, Gott teilt unser Schicksal durch Leiden mit uns.

 

Gottes Menschheit, in Christi Leiden vollkommen offenbart, schließt Gottes ontologische Solidarität mit uns ein. Christi Liebe weist auf die ontologische Liebe in der Trinität. Ein Bund ist nur zwischen Personen möglich. Der Mensch, der eine Person ist, tritt in Beziehungen mit dem persönlichen Gott ein, der Liebe ist. Als ontologische Liebe ist Gott der Liebhaber, der Geliebte und die Liebe selbst. Gott ist sich selbst-verbreitende und sich selbst-mitteilende Liebe, die vollkommene Gemeinschaft und Vereinigung, die drei Personen erfordert.

 

Indem er Kants Kritik ablehnt und seine Furcht vor Metaphysik zurückweist, schlägt Berdjajews existentielle Synthese eine philosophische Brücke von der mittelalterlichen Liebesmystik zum gegenwärtigen trinitarischen Liebesparadigma. Anstelle der neukantianischen rationalistischen Erkenntnistheorie plant Berdjajew die Prinzipien einer existentiellen Erkenntnistheorie: diese Prinzipien sind sowohl symbolisch als auch modellhaft. Indem er Iwanow und anderen russischen Symbolisten folgt, bringt Berdjajew wieder den religiösen Symbolismus von Hugo und Richard von St. Viktor als einen integralen Teil seiner Theorie der religiösen Erkenntnis hervor. Darüber hinaus personalisiert er diesen Symbolismus, indem er darauf besteht, dass theologischer Symbolismus mehr anthropozentrisch als kosmozentrisch sein muss. Gott als Person und als die vollkommene Vereinigung von Personen ist sowohl das Vorbild menschlicher Personen als auch der vollkommenen menschlichen Vereinigung. Jeder von uns, die wir sowohl ein Mikrokosmos als auch Bild und Gleichnis Gottes sind, kann Gott aus eigener mystischen Erfahrung kennen. Berdjajew besteht darauf, dass wir mystische Theologie nötig haben, weil die christologischen und trinitarischen Dogmen über-rational sind und nicht von der Vernunft allein begriffen werden können. Sie binden unseren Willen mehr als unseren Geist. Unsere Akzeptanz Gottes ist identisch mit einem freien willentlichen Akt der Liebe. Die Erfahrung unserer Liebe und der interpersonalen Beziehungen befähigen uns, das Mysterium der göttlichen Liebe zu durchdringen.

 

A. Der anthropologische Wendepunkt im trinitarischen Denken

 

1. Berdjajews Lehre vom göttlichen Leiden

 

Indem er Moltmanns Konzeption des Christentums als einer Religion eines leidenden Gottes (4) vorwegnimmt, besteht Berdjajew darauf, dass die theologische Lehre der absoluten Unbeweglichkeit der Gottheit der mystischen Tatsache der Leiden Christi widerspricht. Das aristotelische Absolute kann sich nicht aus sich selbst herausbewegen und eine Welt schaffen, weil ihm keine Bewegung oder Veränderung zugeordnet werden kann. Man hat diese philosophische Vorstellung mit den Visionen der Mystiker zu korrigieren. "Die ‚Gottheit’ von Eckhart und die Mystiker", behauptet Berdjajew, "sind nicht das Absolute als der letzte abstrakte Begriff: es ist das letzte Mysterium und darauf sind keine Kategorien anwendbar" (5). Berdjajew betont, dass der statische Begriff Gottes als reiner Akt ein philosophischer, aristotelischer und kein biblischer Begriff ist. Die Theologie eines selbst-genügsamen Gottes, der nichts und niemand nötig hat, hat keine Basis in der [Heiligen] Schrift. Die Bibel offenbart in der Gottheit emotionales Leben. Das Mitleid ist dem inneren Leben der Trinität immanent (6).

 

Nach Berdjajew ist christliche Theologie stets mehr anthropozentrisch als theozentrisch gewesen, und sie wurde vom Gesichtspunkt der menschlichen Psychologie her konstruiert. Er argumentiert: Darf man behaupten, dass Gott kein seelisches Leben, keine affektiven und emotionellen Zustände eigen sind? Die Begrenzungen der menschlichen Idee Gottes sind überraschend. Man scheut sich, ihm die innere Tragik zuzuschreiben, die jedem Leben eigen sind […] oder die Sehnsucht nach dem Anderen, nach der Geburt des Menschen; scheut sich aber nicht, ihm Zorn, Eifersucht, Rache und ähnliche affektive Zustände zuzuschreiben, die bei dem Menschen Anstoß erregend sind. Es liegt ein tiefer Abgrund zwischen der Auffassung der menschlichen und göttlichen Vollkommenheit. Selbstzufriedenheit, Selbstgenügsamkeit, steinerne Bewegungslosigkeit, Stolz, Forderung einer grenzenlosen Unterwerfung – das sind die Eigenschaften, die von der christlichen Ethik als sündig und lasterhaft gebrandmarkt, die aber von ihr Gott ohne weiteres zugeschrieben werden (7).

Wie Mereschkowskij weist auch Berdjajew das Bild Gottes als des absoluten Monarchen zurück: Selbstherrschaft im Himmel ist so ungerecht und unvollkommen, wie sie es auf Erden ist (8). Wenn wir unsere Sehnsucht nach Gott voraussetzen, findet Berdjajew das Bild eines himmlischen Tyrannen als besonders widerwärtig (9).

Stattdessen besteht er auf dem Bild eines dreieinigen Gottes, des Gottes der Bibel, der mit uns leidet. Der Gott der Bibel "ist gekreuzigte Liebe, der Befreier", der "sich selbst nicht durch Autorität, sondern durch die Kreuzigung geoffenbart hat". Die Schrift bietet Gottes Hauptqualitäten dar als "Menschenfreundlichkeit, Freiheit, Liebe und Opfer" (10).

 

2. Über die Personalität Gottes und des Menschen

 

Diese Qualitäten schließen ein personalistisches Portrait Gottes ein. Berdjajew weist hin auf das letzte Mysterium der Personalität: "Das menschliche Wesen ist in dieser Welt ein Rätsel, vielleicht sogar das höchste Rätsel, nicht als ein Lebewesen oder als ein Sozialwesen, nicht als ein Teil der Natur und Gesellschaft, sondern gerade als eine Persönlichkeit" (11).

 

Personalität und Individualität unterscheiden sich vom Gesichtspunkt der Existenzphilosophie: der Gegensatz zwischen Individuellem und Universalem, das natürliches und soziales Leben charakterisiert, verschwindet in der Personalität (12).

 

Von diesem Mysterium der Personalität leitet Berdjajew das Mysterium Gottes und der Schöpfung ab. Wir können nicht die Personalität auf biologische, psychologische oder soziologische Begriffe reduzieren. Personalität ist spirituell; sie setzt die Existenz einer spirituellen Welt und sogar die Existenz Gottes voraus (13). Gott allein hat die Macht, Personalität zu schaffen, die seine höchste Schöpfung ist (14). Personalität wiederum wird in ihren Wurzeln von mystischer Erfahrung genährt (15).

 

Die Mystik hat immer die Welt des inneren Selbst im Gegensatz zu der Welt des äußeren Individuums geoffenbart. Die mystische Dimension offenbart jedem von uns, dass wir ein Mikrokosmos sind. Im Gegensatz zum eingeschlossenen Individualismus öffnet das mystische Eintauchen in sich selbst den Weg heraus aus sich selbst, indem die Grenzen des isolierten Selbst aufgebrochen werden (16).

 

Berdjajew hält daran fest, dass drei Bedingungen für christliche Mystik notwendig sind: "Personalität, Freiheit und Liebe" (17). Personalität ist ewig, unwiederholbar, immer wechselnd, wobei sie doch sie selbst bleibt. Personalität schafft sich fortwährend selbst und braucht Zeit, die Fülle des Lebens zu erreichen. Mit anderen Worten, das Geheimnis der Personalität ist mit dem Geheimnis der Freiheit verbunden (18).

 

Indem er Fichte und Solowjew folgt, behauptet Berdjajew, dass eine Person niemals vollständig gegeben ist, aber dass das Werden zu einer Person unsere Aufgabe ist, ein Ideal des Menschen. In einem beständigen Zustand des Werdens ist unsere Persönlichkeit "ein ununterbrochener schöpferischer Akt". Es ist fortschreitende Selbst-Offenbarung, die Persönlichkeit kämpft hin zu einem unendlichen Inhalt, der sich fortwährend selbst transzendiert (19).

 

3. Das trinitarische Liebesparadigma: die Vergegenwärtigung von Richard von St. Viktors Modell

 

Für Berdjajew setzt die Selbst-Setzung der Persönlichkeit ontologisch den Dialog und die Gemeinschaft mit anderen voraus (20). Weil Personalität eine soziale Dimension hat, "begründet die Realisierung der Persönlichkeit sowohl Gemeinsamkeit als auch Gemeinschaft". Deshalb ist die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft nicht nur ein Thema für Soziologie und Sozialphilosophie, sondern ein metaphysisches Grundproblem für die Existenzphilosophie (21). Das Mysterium der Persönlichkeit lässt uns über das Geheimnis unseres Ursprungs und das Geheimnis Gottes als Person nachdenken. Dieses Geheimnis der Persönlichkeit lässt uns Gott suchen und in einen Dialog mit ihm eintreten. Innerhalb der existentiellen Perspektive begründet die Personalität Gottes und des Menschen Beziehung oder einen Bund, die Gemeinschaft der Liebe (22).

 

Für Berdjajew schließt personalistisches Denken über Gott das Liebesparadigma in der trinitarischen Lehre ein. Man kann nicht von einem persönlichen Gott in abstrakten monotheistischen Begriffen denken. Eine Persönlichkeit als eine absolute – in sich selbst eingeschlossen und selbst-genügsam – kann nicht existieren. "Wie das Absolute ist Gott nicht eine Persönlichkeit", behauptet Berdjajew. "Aber Gott als Persönlichkeit setzt ein ‚anderes’, eine andere Person voraus: er ist Liebe und Opfer" (23). Gott existiert als "existentielle Begegnung", innerhalb deren er sich als Personalität offenbart (24).

 

Berdjajews Überlegung gleicht der von Richard von St. Viktor im dritten Buch seines De Trinitate, aber er drückt es in stärker existentialistischen Begriffen aus. In Übereinstimmung mit der Schrift und mit den Mystikern, dass Gott Liebe ist, besteht Berdjajew darauf, dass "Gott der Liebhaber ist, und dass er weder ohne seinen geliebten Anderen existieren kann noch es wünscht" (25). Gottes Sehnsucht nach einem Geliebten zeigt nicht so sehr "eine Verminderung, sondern vielmehr die Fülle und Vollkommenheit von Gottes Existenz" an (26).

 

Unendliche Liebe in Gott schließt personale Beziehungen und die Trinität ein. Die Hypostasen der Heiligen Trinität sind Personen. Indem sie Personen sind, setzen sie gegenseitige Liebe voraus sowie Bewegung von jeder von ihnen zu den anderen. Die Person des Vaters begründet die Personen des Sohnes und des Heiligen Geistes. Deshalb betont Berdjajew, dass personalistische und humanistische Metaphysik und Ethik auf der christlichen Lehre von der Trinität begründet sind (27).

Wie Richard von St. Viktor glaubt Berdjajew, dass die absolut seiende Liebe, Gott der Vater den geliebten Einen, den Sohn, braucht. Und damit ihre Liebe vollkommen sei, benötigen sie die dritte Person, den Mit-Geliebten, den Heiligen Geist (28).

 

Das göttliche Mysterienspiel ist nicht in der Dualität vollendet: es begründet die Trinität. Die Beziehung Gottes zu dem anderen wird im dritten vollkommen gemacht […]. Das vollkommene göttliche Leben wird nur in ‚Drei-in-Einheit’ gegeben: der Liebhaber und der Geliebte begründen ihr Reich und finden den letzten Inhalt für ihr Leben (29).

 

Wie Mereschkowskij betont Berdjajew die existentielle Verwirklichung der trinitarischen Lehre. "Die Trinität ist eine heilige, göttliche Zahl: sie bedeutet Vervollkommnung, Fülle, die Unterwerfung von Streit und Trennung". Berdjajew wendet den russischen Begriff sobornost' auf diese Fülle des trinitarischen Lebens an, wo Personalität ihre endliche Realisierung findet (30).

 

 

Fortsetzung