Der Nachsommer

 

Einführung

In den letzten Jahrzehnten habe ich dieses Buch dreimal gelesen.

In aller Bescheidenheit sei es gesagt: Friedrich Nietzsche rechnete den „Nachsommer“ zu den wenigen Höhepunkten der deutschen Prosa, die es verdienen, „wieder und wieder gelesen zu werden“ (F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Band 2, 2. Abteilung, § 109).

Das ist eigentlich erstaunlich; denn die Handlung ist äußerst dürftig. Auf den ersten Blick ist es ein Bildungsroman, der vom allmählichen Anwachsen des Wissens sowie der Fertigkeiten eines jungen Menschen spricht. Zudem ist es ein Liebes- und Familienroman, der zwei Parallelbiographien darstellt, eine glücklich und eine unglücklich verlaufende, wie dies nach ihm Lev Nikolaevič Tolstoj in seinem Roman „Anna Karenina“ 1873-1878 tat.

Ist dies ein gewöhnlicher Roman? Nein; denn die Art und Weise, wie in ihm diese Entwicklungen geschildert werden, ist entscheidend. Es ist die kontemplative Sprache, die mich in ihren Bann zog. Einsichten in Zusammenhänge werden vermittelt. Probleme unserer Zeit, wie Umweltzerstörung und Gleichgültigkeit gegenüber kulturellen Werten, werden auch erörtert. Dabei bleibt es aber nicht: In ruhiger Gewißheit werden Möglichkeiten aufgetan, damit umzugehen.

Dabei ist alles in eine leise Wehmut getaucht; denn zwei Menschen, die füreinander bestimmt waren, finden sich erst spät und erleben einen „Nachsommer“.

Stifter hat nicht die Perspektive der menschlichen Wahrnehmung, sondern die der göttlichen Schöpfung. Deshalb gelangt er zu dem Fazit: „Gott hat das Wort groß und klein nicht, für ihn ist es nur das Richtige“ (Brief Stifters an Friedrich Culemann, 3. Februar 1854).

Der Elefant und der Großglockner sind für Stifter keine größeren Kunstwerke als die Mücke und das Sandkorn. (Brief Stifters an Ottilie Wildermuth, 8. Februar 1854).

Die eine Hauptperson des Romans, Heinrich Drendorf, ist deshalb „ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge“ (Nachsommer, 24). [Die andere Hauptperson ist Gustav Freiherr von Risach.]

Entscheidend ist die Bildung zur Selbsterkenntnis, die eine Orientierung an gültigen Vorbildern voraussetzt. Dabei geht es im „Nachsommer“ nicht darum, jemanden in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern zu warten, bis diese Person selber das Richtige findet.

In diesem Roman sind mehrere Geschichten übereinander „gemalt“, wie bei einem Palimpsest, bei dem die ältere Malschicht durchscheint. Die Jugendtorheit Risachs korrespondiert mit der glücklichen Entwicklung Drendorfs. Sie bildet gleichsam den dunklen Hintergrund zu dem vordergründigen Bild.

Der Autor

Adalbert Stifter wurde am 23. Oktober 1805 in Oberplan an der Moldau im Böhmerwald geboren. (Hier ein Bild des Geburtshauses.) Er wollte Landschaftsmaler werden (das Buch spricht ausführlich davon) und besuchte daher seit 1826 neben seinem Jurastudium in Wien auch Vorlesungen zur Kunstgeschichte. Als Beispiel gelte seine Darstellung des Stiftes Kremsmünster, die 1823/1825 entstand.

Während des Studiums hatte er sich in Fanny Greipl (1808-1839), die Tochter eines wohlhabenden Kaufmannes, verliebt, die jedoch seine Briefe nicht beantwortete. Er geriet in Selbstzweifel und trank mehr, als ihm guttat. Der Kummer blockierte ihn, sodaß er 1830 sein Studium ohne Abschluß abbrechen mußte.

Nachdem Fanny 1836 den Beamten Joseph Fleischanderl geheiratet hatte, schloß Stifter im Jahre 1837 die Ehe mit der Putzmacherin (Modistin, Hutmacherin)  Amalia Mohaupt (1811-1883), . Da Amalia verschwendungssüchtig war, fanden Pfändungen statt. Beide liebten einander und waren glücklich trotz der widrigen Lebensumstände. Amalia pflegte ihren Mann, der häufig krank war und hielt den Haushalt in peinlicher Ordnung.

1848 mußte Stifter Wien verlassen, da er ein Anhänger der revolutionären Bewegung war und als Wahlmann für die Frankfurter Nationalversammlung fungierte. Amalia und Adalbert zogen nach Linz. (Hier sein Arbeitszimmer im Stifterhaus in Linz mit ihren Porträts.)

Er war als Lehrer in einem Privathaushalt, aber auch in der Schule, tätig. 1853 wurde er zum Schulrat ernannt. Im gleichen Jahr wurde er Landeskonservator und damit verantwortlich für den Erhalt der Baudenkmäler in Oberösterreich. Diese Tätigkeit hinterließ deutliche Spuren im „Nachsommer“.

Belastend wurde für Amalia und Adalbert ihre Kinderlosigkeit. Schließlich nahmen sie Juliane, eine Nichte Amalias, als Ziehtochter auf. Diese riß mehrmals von zuhause aus. Im Winter 1859 fand man ihre Leiche in der Donau. Es konnte nicht geklärt werden, ob es Mord oder Suizid war. Ihr Tod traf das Ehepaar schwer.

Adalbert Stifter veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, Novellen und Romane. 1866 wurde er wegen seiner häufigen Krankheiten pensioniert. Er war ein übermäßiger Esser sowie Trinker und nahm täglich sechs reichliche Mahlzeiten zu sich. Er wurde von den zunehmenden Beschwerden einer Leberzirrhose geplagt. Am 26. Jänner 1868 öffnete er sich auf dem Krankenbett in Linz mit einem Rasiermesser die Halsschlagader. Er starb am 28 Jänner 1868. Da dies zwei Tage nach dem Suizidversuch geschah, kann der Blutverlust nicht die hauptsächliche Todesursache gewesen sein. Sein Grab befindet auf dem St.-Barbara-Friedhof in Linz.

Das Buch

Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Eine Erzählung, 3 Bände, Pest 1857; Der Nachsommer. Roman, Nachwort von Uwe Japp, München 2022.

Zitate

Jeder Mensch und jedes Ding, pflegte er [Drendorfs Vater] zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber müsse er ganz sein. (Nachsommer, 8f).

Er zeigte uns, wenn wir spazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schatten, er nannte uns die Farben, welche sich an den Gegenständen befanden, und erklärte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher Bewegung doch wieder eine Ruhe herrschte, und Ruhe in Bewegung sei die Bedingung eines jeden Kunstwerkes. (Nachsommer, 13).

Es gibt solche, die sagen, sie seien zum Wohle der Menschheit Kaufleute Ärzte Staatsdiener geworden; aber in den meisten Fällen ist es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf sie dahin gezogen hat, so verbergen sie durch ihre Aussage nur einen schlechteren Grund, nämlich daß sie den Stand als ein Mittel betrachteten, sich Geld und Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. (Nachsommer, 16). [Stifter setzt bei Aufzählungen keine Kommata.]

[Gustav Freiherr von Risach im Rosenhaus:] Ich lernte nach und nach selber, und da trat mir der Starrsinn der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren, und sich erst hier unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die frühern eine Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern sehr häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, die stets sagt: ‚Es ist so auch recht‘, und die jede weitere Vorsicht für unnötig erachtet. (Nachsommer, 87).

Die Hofbühne [in Wien] stand auch in dem Rufe der Musteranstalt für ganz Deutschland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutscher Sprache auf keiner deutschen Bühne etwas gäbe, was jener Darstellung gleich käme, und ein großer Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem Buche über diese Dinge von dem Darsteller des Königs Lear auf unserer Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen könnte, wie er sie darstellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit unübertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist. (Nachsommer, 167f). [Die Rede ist von dem Schauspieler Heinrich Anschütz, der 1785 geboren wurde, seit 1821 im Wiener Hofburgtheater auftrat und 1865 starb.]

Weil die Menschen nur ein einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. (Nachsommer, 189).

Besonders kamen mir die Gedanken, wozu dann alles da sei, wie es entstanden sei, wie es zusammenhänge, und wie es zu unserem Herzen spreche. (Nachsommer, 287).

Eine Tatsache fiel mir auf. Ich fand tote Wälder, gleichsam Gebeinhäuser von Wäldern, nur daß die Gebeine hier nicht in eine Halle gesammelt waren, sondern noch aufrecht auf ihrem Boden standen. Weiße abgeschälte tote Bäume in großer Zahl, so daß vermutet werden mußte, daß an dieser Stelle ein Wald gestanden ist. (Nachsommer, 289f).

Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz ändern? In welch schneller Folge geht es? Wenn durch das Wirken des Himmels und seiner Gewässer das Gebirge ständig zerbröckelt wird, wenn die Trümmer herabfallen, wenn sie weiter zerklüftet werden, und der Strom sie endlich als Sand und Geschiebe in die Niederungen hinausführt, wie weit wird das kommen? Hat es schon lange gedauert? (Nachsommer, 290).

Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens wert ist, so ist es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste, die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein Einschiebsel ist, und wer weiß es, welch ein kleines, da sie von anderen Geschichten vielleicht höherer Wesen abgelöset werden kann. (Nachsommer, 291).

Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir selbst. (Nachsommer, 293).

Das Auge soll nur geübt und unterrichtet werden, die Seele müsse schaffen, das Auge soll ihr dienen. (Nachsommer, 295).

Die man gebildet nennt, sind fast überall gleich; das Volk aber ist ursprünglich (Nachsommer, 315).

Bei den alten Römern ist ein großer Teil ihrer Erfolge in der Geschichte und ihres früheren Glückes in der Pflege und Entwicklung ihres Körpers zu suchen. Ihr Glück dauerte auch nur so lange, als die vernünftige Pflege ihrer Leibesübungen dauerte. In neuen Schulen vernachlässige man diese Pflege zu sehr, die bei uns um so notwendiger wäre, als sich durch das Zusammengehäuftsein in dunstigen und heißen Stuben ohnehin Übel erzeugen, die dem Aufenthalte in freier Luft fremd sind. Darum werden auch die Geisteskräfte von Schülern der neuen Zeit nicht entwickelt, wie sie sollten, und wie sie es bei Kindern, die in Wald und Feldern schweifen, freilich auf Kosten ihres höheren Wesens wirklich sind. Daher stamme ein Teil der Schalheit und Trägheit unserer Zeiten. (Nachsommer, 322).

Ich hatte eine Empfindung, als ob ich bei einem lebenden schweigenden Wesen stände und hatte fast einen Schauer, als ob sich das Mädchen in jedem Augenblicke regen würde. Ich blickte die Gestalt an, und sah mehrere Male die rötlichen Blitze und die gräulich weiße Farbe auf ihr wechseln. (Nachsommer, 327).

Freilich stand die Gestalt jetzt viel vorteilhafter, da durch die reinen Scheiben der Glaswand das klare Licht auf sie fiel, und alle Schwingungen und Schwellungen der Gestalt deutlich machte. (Nachsommer, 331).

Das ist der hohe Wert der Kunstdenkmale der alten heitern Zeit der Griechenwelt, nicht bloß der Denkmale der bildenden Kunst, die wir noch haben, sondern auch der der Dichtung, daß sie in ihrer Einfachheit und Reinheit das Gemüt erfüllen, und es, wenn die Lebensjahre des Menschen nach und nach fließen, nicht verlassen, sondern es mit Ruhe und Größe noch mehr erweitern, und mit Unscheinbarkeit und Gesetzmäßigkeit zu immer größerer Bewunderung hinreißen. Dagegen ist in der Neuzeit oft ein unruhiges Ringen nach Wirkung, das die Seele nicht gefangen nimmt, sondern als ein Unwahres von sich stößt (Nachsommer, 335f).

Das ist eben das Wesen der besten Werke der alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst überhaupt, daß man keine einzelnen Teile oder einzelne Absichten findet, von denen man sagen kann, das ist das schönste, sondern das Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das schönste, die Teile sind bloß natürlich. (Nachsommer, 338).

Es ist diese Ruhe jene allseitige Übereinstimmung aller Teile zu einem Ganzen, erzeugt durch jene Besonnenheit, die in höchster kunstliebender Begeisterung nie fehlen darf, durch jenes Schweben über dem Kunstwerke und das ordnende Überschauen desselben, wie stark auch Empfindungen oder Taten in demselben stürmen mögen, die das Kunstschaffen des Menschen dem Schaffen Gottes ähnlich macht, und Maß und Ordnung blicken läßt, die uns so entzücken. Bewegung regt an, Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir Schönheit nennen. (Nachsommer, 342).

Was bei einem lebenden Menschen gilt, dachte ich, gilt bei einem Kunstwerke nicht, bei welchem alle Teile gleich schön sein müssen, so daß keiner auffällt, sonst ist es eben als Kunstwerk nicht rein, und ist im strengsten Sinne genommen, keines. (Nachsommer, 344).

Es ist die Seele, die da spricht, und in ihrer Reinheit und in ihrem Ernste uns mit Bewunderung erfüllt, während spätere Zeiten, von denen Eustach zahlreiche Abbildungen von Bildwerken vorlegte, trotz ihrer Einsicht ihrer Aufgeklärtheit und ihrer Kenntnis der Kunstmittel nur frostige Gestalten in unwahren Flattergewändern und übertriebenen Gebärden hervorbrachten, die keine Glut und keine Innigkeit haben, weil sie der Künstler nicht hatte, und die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil der Künstler nicht mit der Seele arbeitete, sondern mit irgend einer Überlegung nach eben herrschenden Gestaltungsansichten, weshalb er das, was ihm an Gefühl abging, durch Unruhe und Heftigkeit des Werkes zu ersetzen suchte. (Nachsommer, 346).

In diesem Augenblicke ertönte durch das geöffnete Fenster klar und deutlich Mathildens Stimme, die sagte: „Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück abgeblüht.“ Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welche sagte: „Es ist nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.“ (Nachsommer, 367).

„Das dürfte sich vielleicht auch einmal fügen“, antwortete er, „das Beste aber, was ein Mensch für einen anderen tun kann, ist doch immer das, was er für ihn ist.“ (Nachsommer, 377f).

Ich tauchte meine ganze Seele in den holden Spätduft, der alles umschleierte, ich senkte sie in die tiefen Einschnitte, an denen wir gelegentlich hinfuhren, und übergab sie mit tiefem inneren Abschlusse der Ruhe und Stille, die um uns waltete. (Nachsommer, 382).

Darum ist auch in der Kunst nichts ganz unschön, so lange es noch ein Kunstwerk ist, das heißt, so lange es das Göttliche nicht verneint, sondern es auszudrücken strebt, und darum ist auch nichts in ihr ohne Möglichkeit der Übertreffung schön, weil es dann schon das Göttliche selber wäre nicht ein Versuch des menschlichen Ausdruckes desselben. Aus dem nämlichen Grunde sind nicht alle Werke aus den schönsten Zeiten gleich schön und nicht alle aus den verkommensten oder rohesten gleich häßlich. Was wäre denn die Kunst, wenn die Erhebung zu dem Göttlichen so leicht wäre, wie groß oder klein auch die Stufe der Erhebung sei, daß sie vielen ohne innere Größe und ohne Sammlung dieser Größe bis zum sichtlichen Zeichen gelänge? Das Göttliche müßte nicht so groß sein, und die Kunst würde uns nicht so entzücken. Darum ist auch die Kunst so groß, weil es noch unzählige Erhebungen zum Göttlichen gibt, ohne daß sie den Kunstausdruck finden, Ergebung Pflichttreue das Gebet Reinheit des Wandels, woran wir uns auch erfreuen, ja woran die Freude den höchsten Gipfel erreichen kann, ohne daß sie doch Kunstgefühl wird. Sie kann etwas Höheres sein, sie wird als Höchstes dem Unendlichen gegenüber sogar Anbetung, und ist daher ernster und strenger als das Kunstgefühl, hat aber nicht das Holde des Reizes desselben. Daher ist die Kunst nur möglich in einer gewissen Beschränkung, in der die Annäherung zu dem Göttlichen von dem Banne der Sinne umringt ist, und gerade ihren Ausdruck in den Sinnen findet. (Nachsommer, 388).

„Wer weiß, wie es mit diesen Dingen ist“, erwiderte mein Gastfreund, „und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung Vertrauen Warten.“ (Nachsommer, 388f).

„Diese Steine sind durch viele Jahre mein Vergnügen gewesen. Oft in trüben Stunden, wenn Sorgen und Zweifel das Leben seines Duftes beraubten, und es dürr vor mich hinzubreiten schienen, bin ich zu dieser Sammlung gegangen, habe diese Gestalten angeschaut, bin in eine andere Zeit und in eine andere Welt versetzt worden, und bin ein anderer Mensch geworden.“ (Nachsommer, 400).

„Man sehnt sich, ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei, und es gewährt einen Abschluß, von dem einen Einerlei in ein anderes über zu gehen. Aber es gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, daß es als Fülle die ganze Seele ergreift, und als Einfachheit das All umschließt. Es sind erwählte Menschen, die zu diesem kommen, und es zur Fassung ihres Lebens machen können.“ (Nachsommer, 456f).

So hat Gott es auch manchen gegeben, daß sie dem Schönen nachgeben müssen und sich zu ihm wie zu einer Sonne wenden, von der sie nicht lassen können. (Nachsommer, 540).

Je größer die Kraft ist, um so mehr glaube ich, wirkt sie nach den ihr eigentümlichen Gesetzen, und das dem Menschen innewohnende Große strebt unbewußt der Äußerlichkeiten seinem Ziele zu, und erreicht desto Wirkungsvolleres, je tiefer und unbeirrter es steht. Das Göttliche scheint immer nur von dem Himmel zu fallen. (Nachsommer, 541).

Der Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, sie blüht, wenn sie auch in der Wüste ist, und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht. Ihm ist klar und schön vor Augen, was er bildet, wie sollte er meinen, daß reine unbeschädigte Augen es nicht sehen? […] Nach Jahrzehnten denkt und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift nicht, wie sie konnten mißverstanden werden Aber man hat durch diese Künstler erst so denken und fühlen gelernt. (Nachsommer, 542).

Wie nun diejenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt haben, beschaffen sind, muß sie der Staat nehmen. Oft sind selbst große Begabungen in größerer Zahl darunter, oft sind sie in geringerer, oft ist im Durchschnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf diese Beschaffenheit seines Personenstoffes mußte nun der Staat die Einrichtung seines Dienstes gründen. Der Sachstoff dieses Dienstes mußte eine Fassung bekommen, die es möglich macht, daß die zur Erreichung des Staatszweckes nötigen Geschäfte fortgehen und keinen Abbruch und keine wesentliche Schwächung erleiden, wenn bessere oder geringere einzelne Kräfte abwechselnd auf die einzelnen Stellen gelangen, in denen sie tätig sind. Ich könnte ein Beispiel gebrauchen, und sagen, jene Uhr wäre die vortrefflichste, welche so gebaut wäre, daß sie richtig ginge, wenn auch ihre Teile verändert würden. schlechtere an die Stelle besserer, bessere an die Stelle schlechterer kämen. Aber eine solche Uhr dürfte kaum möglich sein. Der Staatsdienst mußte sich aber so möglich machen, oder sich nach der Entwicklung, die er heute erlangt hat, aufgeben. Es ist nun einleuchtend, daß die Fassung des Dienstes eine strenge sein muß, daß es nicht erlaubt sein könne, daß ein Einzelner den Dienstesinhalt in einer andern Fassung als in der vorgeschriebenen anstrebe, ja daß sogar mit Rücksicht auf die Zusammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet werden muß, als man es von seinem Standpunkte allein betrachtet, tun könnte. Die Eignung zum Staatsdienste besteht nun auch in wesentlichen Teilen darin, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist, ohne dessen Zusammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen, und daß man dann dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollführt. Das letztere ist der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute Staatsdiener. (Nachsommer, 608).

Ihr seht, daß mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geschick zum Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Personen und Sachen ist, und das Geschick zu einer tätigen Einreihung in ein Ganzes und kräftiger Arbeit für Zwecke, die außer dem Gesichtskreise liegen, was nicht minder eine Grundbedingung für jede Gliederung ist. Ich wollte immer am Grundsätzlichen ändern und die Pfeiler verbessern, statt in einem Gegebenen nach Kräften vorzugehen, ich wollte die Zwecke allein entwerfen, und wollte jede Sache so tun, wie sie für mich am besten ist, ohne auf das Ganze zu sehen, und ohne zu beachten, ob nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Lücke gerissen werde, die mehr schadet, als mein Erfolg nützt. (Nachsommer, 610).

Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein, wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat, schwimmen muß. Ich legte deshalb in einem gewissen Lebensalter meine Ämter nieder. (Nachsommer, 610f).

So wie aber der Staat selber die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, also nicht eine Gestalt [Inhalt, Gehalt, Konkretes] sondern eine Fassung [Form]: so beziehen sich die Ergebnisse der Arbeiten der Staatsmänner meist auf Beziehungen und Verhältnisse der Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen nicht Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen [abstrakten] Begriffen eine Gestalt leihen [mit konkreten Dingen benennen] mußte um sie [be]halten zu können, so habe ich oft in gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Gestalt gedacht, und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknüpft. (Nachsommer, 613f).

Die Erklärung liegt darin, daß du nicht zu sehen vermochtest, was zu sehen war, und daß ich dann nicht näher treten vermochte, als ich hätte näher treten sollen. In der Liebe liegt alles. Dein schmerzhaftes Zürnen war die Liebe, und mein schmerzhaftes Zurückhalten war auch die Liebe. (Nachsommer, 677f).

Und ich weiß nicht, ob je der heiße Kuß der Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen, und zu größerer Höhe erhebend gewesen ist als dieses verspätete Umfassen der alten Leute, in denen zwei Herzen erzittern, die von der tiefsten Liebe überquollen. Was im Menschen rein und herrlich ist, bleibt unverwüstlich, und ist ein Kleinod in allen Zeiten. (Nachsommer, 679).

So leben wir in Glück und Stetigkeit gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer. (Nachsommer, 682).

Die Familie ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und Wissenschaft als Verkehr Handel Aufschwung Fortschritt, oder wie alles heißt, was begehrungswert erscheint. Auf der Familie ruht die Kunst die Wissenschaft der menschliche Fortschritt der Staat. (Nachsommer, 715).

 

Literatur

·     Achenbach, Hendrik, Topisches Erzählen bei Adalbert Stifter. Untersuchungen zur Gestaltung von Bildungsgängen in ausgewählten Werkkomplexen, Studien zur deutschen Literatur, Band 226, Berlin 2021.

·     Gann, Thomas, „Abschluß des Menschlichen“. Zur Eschatologie von Stifters „Nachsommer“ mit Blick auf Bolzano und Herder, in: Weimarer Beiträge 67 (2021), Heft 2, 196-222.

·     Helduser, Urte, Shakespearomanie auf dem Theater um 1800 und in Stifters Nachsommer, in: Medienkritik 2023, 92-106.

·     Schuster, Jana, Herausgeberin, Zeit und Zeiten in Stifters Nachsommer, Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, Band 28, Linz 2021.

 

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025

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