Der Mariendom Neviges

 

Die Kirchtürme, Photographie von H. M. Knechten

 

Anläßlich von Wallfahrten war ich verschiedene Male in Neviges. Ich muß gestehen, daß mich dieser Wallfahrtsort nicht besonders angesprochen hat. Zuviel Beton, eine abweisend-graue Farbe, viel zu uniform.

Dieses Mal aber nahm ich mir Zeit und hatte auch innere Ruhe, um einen Zugang zu finden. Die Formsprache der Kirche entstammt dem 20. Jahrhundert.

 

Der Eingangsbereich, Photographie von H. M. Knechten

 

Da ist das Heilige Zelt, das den Israeliten bei ihrer Wanderung durch die Wüste die Gegenwart des Allmächtigen versichert. Da ist der Heilige Berg, Stätte der inneren Einkehr und der Offenbarung. Da ist die feste Burg als Zuflucht der Bedrängten.

 

Der Innenraum, Photographie von H. M. Knechten

 

Da ist der Ort, an welchem Brot und Wein, die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit, verwandelt werden in Fleisch und Blut Christi. In Seinem Sterben schenkt Er uns Leben, in Seiner Hingabe ermöglicht Er uns Befreiung.

 

Der Altar aus einem einzigen Block Peperino (Pfefferstein, basaltisches Tuffgestein) von Elmar Hillebrand, Photographie von H. M. Knechten

 

Da ist der Marktplatz, die Agora, auf der, mitten im Alltag, das Heilige Evangelium verkündet wird, an der Schnittstelle von Profanem und Sakralen, beim Einbruch des Transzendenten in das persönliche Leben, bei der Begegnung mit dem Ganz Anderen in der Seele.

 

Lichtspiele, Photographie von Cornelia Attolini

Lichteinfall vom Dach her, Photographie von H. M. Knechten

 

Wer die Weite liebt, findet in der großen Kirche seinen Ort. Wer die Verborgenheit schätzt, findet Stätten des intimen Gebetes in der Krypta, wörtlich übersetzt: verborgener Raum.

 

Krypta unter der Marienkapelle, Photographie von H. M. Knechten

 

Besonders kostbar sind die Kirchenfenster. Sie wurden vom Architekten der Kirche, Gottfried Leo Böhm (1920-2021) entworfen und von der Glaswerkstätte Hein Derix in Kevelaer angefertigt. Das Hauptmotiv der Fenster ist die rosa mystica, die geheimnisvolle Rose, welche die allheilige Jungfrau Maria symbolisiert.

 

Das Rosenfenster, Photographie von H. M. Knechten

Im obersten Bereich symbolisiert ein rotes Band den Bereich der Herrlichkeit und Liebe Gottes. Die aschfahlen und grauen Farben stehen für die Gottesferne, zerstörerische Abhängigkeiten, Gier und Mißgunst, Haß und Gewalt. Die Geheimnisvolle Rose bringt jedoch neue Hoffnung und bleibendes Leben.

Das Heilig-Geist-Fenster, Photographie von H. M. Knechten

 

Das Feuer des Heiligen Geistes überwindet den Tod, die zerstörerischen Mächte und die Hoffnungslosigkeit. Der Heilige Geist kommt im Bild der roten Wolke mit Sturm und Feuersgluten. Er drängt den Bereich der Finsternis und des Grauens zurück. Die Welt wird immer mehr vom Geist durchdrungen, dies ist im unteren Bereich zu sehen, der Menschen, Häuser und die Schöpfung zeigt, welche den Geist, dargestellt in der roten Farbe, annehmen.

 

Das Hardenberger Gnadenbild, Marienwallfahrt Neviges: „Du bist gantz schön, meine Freundin, an dir [ist] kein flecken“ (Hld 4,8)

 

Seit der ersten Bergischen Synode im Jahre 1589 im Pfarrhaus des Dorfes Neviges, welches der Herrschaft Hardenberg unterstand, fand kein katholischer Gottesdienst mehr statt. Als Johann Sigismund von Bernsau, der Herr Zu Hardenberg, der 1649 zum alten Bekenntnis zurückgekehrt war, im Jahre 1655 starb, durfte kein Requiem für ihn gefeiert werden. Seine Gemahlin, Anna von Asbeck (1590-1685) rief 1676 Franziskaner nach Neviges.

Der Dorstener Franziskaner Thomas Schirley (1647-1694) betrachtete 1680 ein Marienbild in Wilhelm Nakatenusʼ (1617-1682) Himmlisch Palm-Gärtlein, Köln 1664, dabei vernahm er eine Stimme, die ihm auftrug: „Bring mich nach dem Hardenberg, da will ich verehret sein!“

1681 wurde dieses Gnadenbild von Dorsten nach Neviges gebracht und die Wallfahrt zu diesem Ort setzte ein. 1728 wurde der Bau der Kirche zur Empfängnis Mariens vollendet.

Die Franziskaner verließen dieses Kloster im Jahre 2020. Seither ist hier Thomas Diradourian von der Priestergemeinschaft St. Martin als Pfarrer tätig.

Kirche St. Mariä Empfängnis, barocke Marienstatue. Inschrift: „Zuflucht der Sünder Maria 1750 absque macula“ (ohne Verfehlung). Photographie von H. M. Knechten. Das Hardenberger Gnadenbild, das sich hier befand, wurde 1968 in den Mariendom überführt.

 

Die Wallfahrtskirche Maria, Königin des Friedens wurde 1966 bis 1968 nach Plänen des Architekten Gottfried Böhm als Felsendom erbaut.

Es handelt sich um einen Stahlbetonbau auf unregelmäßigem polygonalen Grundriß mit freitragendem Betonfaltdach. Wand und Decke stützen sich gegenseitig und ergeben eine Gemeinschaft, bei der alle Teile aufeinander angewiesen sind. Die höchste Spitze des Daches befindet sich zwischen Altar und Gemeinde. Damit wird die Begegnung Christi mit Seinem Volk herausgestellt. Kantig aneinanderstoßende, vielfach geknickte Wandflächen und Dächer aus sandgestrahltem Sichtbeton verleihen dem Bau ein felsartig zerklüftetes Aussehen. Im weiten Innenraum sind drei balkonartig vorkragende Emporen. Das Backsteinpflaster und die Straßenlaternen nehmen die Gestaltung des offenen Kirchenvorplatzes auf, der, von Gottfried Böhm als Wallfahrtsweg konzipiert, beständig ansteigt. Der freie Rhythmus des zentralisierenden Grundrisses ist von den liturgischen Orten bestimmt, welche durch Farbfenster aus dem Raumdunkel hervorgehoben sind.

 

Mariensäule mit dem Gnadenbild, Photographie von Cornelia Attolini

 

Für das Gnadenbild hatte die erste Ehefrau Jan Wellems, Erzherzogin Anna Maria von Österreich, 1681 eine silbervergoldete Tragmonstranz gestiftet. Das Gnadenbild wurde in die Mariensäule von Elmar Hillebrand (1925-2016) eingefügt. Diese Säule steht in der höhlenartigen Marienkapelle, besteht aus Peperino, ist vier Meter hoch und ist baumartig gestaltet; das Blattwerk birgt das Gnadenbild, welches so klein ist wie das in Kevelaer.

Der Tabernakel mit dem Ewigen Licht befindet sich in der Sakramentskapelle. Elmar Hillebrand gestaltete eine sieben Meter hohe Säule aus Peperino, die 12.500 kg wiegt. Dies weist auf Macht und Stärke Gottes hin. Das Netzornament wirkt wie ein Flechtwerk und macht den massiven Stein gleichsam transparent.

Hier neigt sich der Göttliche Geist in der Farbe Rot auf die Rose hinab, Zeichen der Überschattung, des Empfangens, der Menschwerdung Gottes.

Die Orgel wurde 1976 von der Firma Gebrüder Stockmann in Werl für die Antoniuskirche in Hildesheim gebaut. Sie wurde von der Firma Romanus Seifert & Sohn in Kevelaer 2010 umgebaut und 2012 ergänzt. Sie weist 33 klingende Register auf, die auf Hauptwerk, Schwellwerk, Auxiliarwerk und Pedal verteilt sind.

Der Name Neviges leitet sich von der alten Bezeichnung des Hardenberger Baches her: Navigisa. Der erste Bestandteil ist lateinisch und begegnet zum Beispiel im Flußnamen nava – die Nahe. Der zweite ist germanisch und mit dem Verb gießen verwandt. Beides zusammen bedeutet: ein Bach/Fluß, der sich (schäumend) ergießt.

 

 

Kreuzweg, Golgotha, Photographie von Cornelia Attolini

 

Zur 200-Jahr-Feier und mit dem Ende des Kulturkampfes im Jahre 1881 nahm die Marienwallfahrt einen neuen Aufschwung. Deshalb wurde auf dem Schlütersberg, heute Kreuzberg, ein Kreuzweg mit vierzehn Stationen nach dem Vorbild des Kevelaerer Kreuzweges von 1874 geschaffen. Die Terrakottareliefs wurden nach Teilzerstörung durch eine Bombe im Zweiten Weltkrieg von 1949 bis 1955 durch steinerne Reliefs von Georg Anton Stockheim (1890-1969) ersetzt.

 

Bibliographie

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o  Elser, Oliver, und Miriam Kremser, Herausgeber, Böhm 100. Der Beton-Dom von Neviges. Zum 100. Geburtstag von Gottfried Böhm am 23. 1. 2020, Frankfurt am Main 2020.

o  Euskirchen, Claudia, Olaf Gisbertz und Ulrich Schäfer, Einführung von Udo Mainzer, Nordrhein-Westfalen I: Rheinland, Georg Gottfried Julius Dehio (1850-1932), Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, 5 Bände, Berlin 1905-1912; München und Berlin 2005, 1009-1011 (Neviges).

o  Franziskaner des Konventes zu Neviges, Der betrachtete Mariendom. Ein meditativer Rundgang durch die Wallfahrtskirche zu Neviges, herausgegeben vom Provinzialat der Franziskaner, Düsseldorf 1980.

o  Haun, Gerhard, Die Wallfahrt nach Neviges, Wuppertal 1981.

o  Haun, Gerhard, Mariendom Neviges, Kleine Kunstführer, 17. Auflage Lindenberg im Allgäu 2022.

o  Kaiser, Jürgen, PilgerOrte im Rheinland, fotografiert von Florian Monheim, Köln 2017, 189-199 (Neviges. Maria, Königin des Friedens. Wunder aus Beton?).

o  Kiem, Karl, Vielschichtige Betonfelsen. Die Wallfahrtskirche in Neviges, in: Gottfried Böhm, herausgegeben von Wolfgang Voigt, Frankfurt am Main und Berlin 2006, 60-79.

o  Kremser, Miriam, Eine neue Schicht Böhm. Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“ in Neviges, in: Deutsche Bauzeitung 155 (2021), 86-90.

o  Kunkel, Steffen, Suche nach dem Unbestimmten. Gottfried Böhm und die Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, Leipzig 2024.

o  Reifenrath, Pater Rufinus, Wallfahrtsstätte Neviges, Kleine Kunstführer 920, 10. Auflage Regensburg 1992.

o  Schneider, Herbert, Die Frau im Glanz der Sonne. Das Gnadenbild von Neviges, Trier 2007.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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