Igor Smolitsch zum Gedächtnis

Robert Stupperich

 [S. 16] Am 2. November 1970 verstarb in Berlin der bekannte Historiker der russischen Kirche Dr. phil. Igor Smolitsch im 72. Lebensjahr, ohne das Erscheinen des 2. Bandes seines Lebenswerkes der "Geschichte der russischen Kirche. 1700-1917" erlebt zu haben. Obwohl andere dafür sorgen, dass dieser 2. Band veröffentlicht wird, muss man doch sagen, dass dieses Leben zu früh abbrach. Es hätte der Wissenschaft noch viel geben können.

Smolitsch gehört zu jener Generation russischer Gelehrter, die unter den schwersten Verhältnissen sich ihr Gelehrtentum erkämpft haben. In Uman’ [Gebiet Čerkassy, Ukraine] am 9.2.1898 geboren, hatte er gerade die Schule beendet, als er zu den Waffen gerufen wurde. Wie so viele seiner Altersgenossen hat er an der Front den Zusammenbruch des Zarenreiches erlebt und wurde zugleich in die Kämpfe des Bürgerkrieges hineingezogen. Mit den Resten der Vrangel’-Armee kam er 1920 nach Konstantinopel, wo er bis 1923 verblieb, um sich dann nach Berlin durchzuschlagen. Es war die Zeit, in der eine Reihe namhafter russischer Professoren, 1922 von der Sowjetregierung ausgewiesen, in Berlin ein "Russisches Wissenschaftliches Institut" begründeten. In der alten Schinkel-Akademie am Friedrichwerderschen Markt kamen die russischen Emigranten zusammen, die dort abends Vorlesungen von Karsavin, Eichelbaum, Il’in, Stratonov u.a. hörten. Smolitsch gehörte nicht zu den zufälligen Hörern. Er absolvierte dort ein volles Studium der russischen Geschichte und Literatur, das er mit einer umfassenden Arbeit "Zur Geschichte der Kolonisation des Wolgagebietes im 16. und 17. Jh." abschloss. Als das "Russische Wissenschaftliche Institut" zu bestehen aufhörte, ging Smolitsch zur Berliner Universität über und arbeitete bei Karl Stählin weiter, der seine "Geschichte Russlands" inzwischen bis zum Ende des 18. Jh.s geführt hatte. Mit dem 3. Bande sollte dieses Werk ein anderes Gesicht bekommen und auf eigene Forschungen aufgebaut werden. Stählin zog seine Studenten zur Mitarbeit heran. Die Ergebnisse der Dissertationen gingen in die Darstellung Stählins ein. Das ist auch bei Smolitsch der Fall gewesen, dessen Arbeit über Ivan Vasil’evič Kireevskij 1934 dem Verfasser den Dr. phil. eintrug. In den folgenden Jahren hat I.Smolitsch eine fruchtbare literarische Tätigkeit entfaltet. Seine Arbeiten waren planvoll angelegt. Von Kireevskij her interessierte ihn die Erscheinung der russischen Starzen, aber zugleich auch die religiöse Welt des 19. und 20. Jh.s. Hatte er in den Jahren 1929-33 in der russischen Zeitschrift "Put'" (Der Weg) in Paris einige Arbeiten veröffentlicht, so erschienen seine weiteren Arbeiten in [S. 17] deutschen Organen, der "Zeitschrift für slavische Philologie", den "Jahrbüchern für osteuropäische Geschichte" und dem "Kyrios". Die Einzeluntersuchungen über die Starzen, das Problem des Klosterbesitzes und die von den Klöstern ausgehende Kolonisation fasste er zugleich in Buchform zusammen. Von diesen ist das Buch über "Leben und Lehre der Starzen" (1936) viel gelesen worden, hat 1952 eine zweite Auflage erlebt und 1967 eine französische Übersetzung erfahren. Äußerst inhaltsreich ist dann sein Werk "Russisches Mönchtum. Entstehung, Entwicklung und Wesen. 988-1917", Würzburg 1953 = Das östliche Christentum, N.F. 10/11. Mit diesem Buch hat sich Smolitsch den Ruf eines der bestinformierten Forscher auf dem Gebiet der russischen Kirchengeschichte erworben. Hatte er in ihm der altrussischen Welt ein Denkmal gesetzt, so konnte er sich seitdem seiner zweiten Lebensaufgabe zuwenden, die "Geschichte der russischen Kirche. 1700-1917" zu schreiben. Diese Aufgabe war seit I.Runkevič, dem Bibliothekar des Hl. Synod (1900), nicht mehr in Angriff genommen worden. Smolitsch hatte die Gabe, mit größter Gründlichkeit die reiche Literatur dieses Zeitalters zu durchforschen. Hatte er auch keinen Zugang zu den Archiven, so hat er wie keiner vor ihm das gedruckte Material gekannt und zu beurteilen gewusst. Von diesem großen, monumentalen Werk erschien 1964 in Leiden der 1. Band, das Erscheinen des 2. Bandes konnte er nicht mehr erleben. Dabei war, wie er schrieb, schon 1966 das Manuskript bis auf die Register fertig. Aber die gründliche Art des Verfassers ließ ihn immer noch weiter feilen und ergänzen. Smolitsch übertrifft in seiner Zuverlässigkeit frühere Darstellungen, selbst die von Kartašev. Der Name Smolitsch spricht jetzt für die Russische Kirchengeschichte. Er wurde daher von den in den letzten Jahren erscheinenden theologischen Lexika Religion in Geschichte und Gegenwart und Lexikon für Theologie und Kirche als Mitarbeiter für dieses Gebiet herangezogen. Ebenso war es ein Akt der Gerechtigkeit, dass ihn in Anerkennung seiner Leistung das Institut de Théologie Orthodoxe St. Serge in Paris im Jahre 1964 zum Docteur ès sciences ecclésiastiques ehrenhalber ernannte.

Persönlich war dieser tiefgründige Gelehrte ein frommer, milder und bescheidener Mann. Als er auf Grund seines großen Werkes über die Geschichte der russischen Kirche in einer Besprechung mit Golubinskij verglichen wurde, wehrte er ab. Freilich sah er den Unterschied nur darin, dass Golubinskij alle verfügbaren Quellen zu Gebote standen, während er selbst gezwungen war, sein Werk "nur auf Grund der gedruckten und oft nicht ganz vollständigen Quellen und Literatur – in Berlin, Rom und Paris – zu schreiben". Und doch, Smolitsch war ein Forscher von hohen Graden, dazu ein Mann, der ganz seiner Wissenschaft gehörte, für sie lebte und für sie Opfer zu bringen wusste. In dieser Beziehung muss er in die Reihe der bedeutenden russischen Forscher gestellt werden. Ein ehrenvoller Platz ist ihm da sicher.

Aus: Kirche im Osten, Bd. 14, Göttingen 1971, S. 17f.

Neue Ausgaben seiner Bücher (H.M.Knechten)

Hauptseite