Altgläubige

 

Die Entstehung

In Venedig waren liturgische Bücher in griechischer Sprache gedruckt worden. Beim Vergleich mit den slavischen ergaben sich Unterschiede. Patriarch Nikon (Minin; 1605-1681) verfügte 1652, daß eine Angleichung stattzufinden habe, da er die griechischen Varianten für die ursprünglicheren hielt. Er wußte nicht, daß beim Druck nicht die besten Handschriften zugrundegelegt worden waren, sodaß die slavischen Textformen oft besser waren.

Der Brauch bei den Slaven, sich mit zwei Fingern zu bekreuzigen (zum Zeichen der Gottheit und Menschheit Christi) war älter als der Brauch der Griechen, sich mit drei Fingern zu bekreuzigen (zu Ehren der Heiligem Dreieinigkeit). Aber bei beiden Arten weisen die übrigen Finger jeweils auf das andere Geheimnis des Glaubens hin.

Eine Gruppe von Priestern und Gläubigen, die später Altgläubige genannt wurden, vollzog die Reformen nicht mit.

Avvakum Petrov

Avvakum auf dem Weg in die sibirische Verbannung, Gemälde von Sergéj Dmítrievič Milorádovič (1851-1943) aus dem Jahre 1888, Staatliches Museum der Religionsgeschichte in St. Petersburg, Quelle: Wikipedia

 

Avvakum (Habakuk) Petrov wurde am 20. November 1620 im Dorfe Grigorovo (Gouvernement Nižnij Novgorod) geboren. 1638 heiratete er Anastasija Markovna (1624-1710). 1644 wurde er zum Priester geweiht. Im gleichen Jahre wurden sein Sohn Iván, im folgenden Jahre seine Tochter Agrippina und ein Jahr später sein zweiter Sohn Prokopij geboren.

Avvakum war außerordentlich streng. Er forderte von den Gläubigen lange und ausgiebige Gebetszeiten, dehnte die Feier der Liturgie auf sieben Stunden aus, geißelte in seinen flammenden Predigten Laster jeglicher Art und vertrieb Gaukler sowie Bärenführer von den Marktplätzen. Männern, die sich den Bart abrasierten, verweigerte er seinen Segen. Eine Frau, die nach seiner Ansicht „in Sünde lebte“, sperrte er drei Tage lang in einen Keller ein und ließ sie beinahe verdursten.

Aufgrund der Proteste gegen seine rigorose Amtsführung wurde er immer wieder vertrieben, sein Haus wurde zerstört und er mußte woanders neu beginnen.

Den liturgischen und religiösen Reformen Patriarch Nikons setzte er härtesten Widerstand entgegen. Deshalb wurde er 1653 mit seiner Familie nach Sibirien verbannt. 1658 wurde seine zweite Tochter, Ksenija, geboren. Schließlich wurde er von seiner Familie getrennt und in den Polarkreis verbannt, 100 km südlich des Nordpolarmeeres.

Es gab mehrere Versuche, Avvakum zum Einlenken zu bewegen. Als alle Bemühungen erfolglos blieben, wurde er am 14. April 1682 in Pustozérsk verbrannt.

Verfolgung der Altgläubigen

Jahrhundertelang wurden Altgläubige verbannt, eingekerkert oder hingerichtet.

Erst am 17. April 1905 erfolgte ein Toleranzerlaß, der den Altgläubigen die freie Ausübung ihres Glaubens gestattete. Allerdings setzte von 1917 an eine neue Welle der Verfolgung ein.

Heute wird die Anzahl der Altgläubigen weltweit auf zweieinhalb Millionen geschätzt. Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/historische-minderheit-100.html (abgerufen am 11. März 2024).

Auch ihnen gelingt es nicht immer, ihren eigenen Kindern den überlieferten Glauben weiterzugeben.

Priesterliche Altgläubige

Die Kirche Mariä Schutz und Fürbitte in Rogožka, Quelle: Wikipedia

 

Moskau, Altgläubigenkirche Mariä Schutz und Fürbitte, priesterliche Richtung (поповцы).

1771 schenkte die Zarin Katharina die Große den Altgläubigen ein Grundstück am Rogožka-Stadttor im Osten der Stadt, damit sie dort ihre Toten bestatten konnten, die an der Pest gestorben waren.

Die Kirche Mariä Schutz und Fürbitte innen, Quelle: Wikipedia

 

Hier sind heute folgende Kirchen: die nicht beheizbare Sommerkirche Mariä Schutz und Fürbitte, 1790-1792 errichtet, die beheizbare Winterkirche der Geburt Christi, 1804 erbaut, und die Kirche des heiligen Nikolaus, 1776 entstanden. Bei der südlich gelegenen Kirche des heiligen Erzengels Michael befindet sich der Sitz des Metropoliten der Orthodoxen Altgläubigenkirche Rußlands.

Liturgie findet in der Kirche Mariä Schutz und Fürbitte teil. Während der Lesungen herrscht absolute Aufmerksamkeit. Gesungen wird nach alter Tradition einstimmig, wobei der Leiter der Sängerinnen und Sänger die betreffende Stelle mit einem langen Stab in einem gewaltigen Notenbuch, das auf einem Pult liegt, anzeigt. Bei den Verneigungen bis zum Boden dürfen die Hände nicht beschmutzt werden, daher gibt es ein Handkissen (подручник). Die Männer tragen Bart und ein langes, leinenes Hemd, das über der Hose von einem gestickten Gürtel zusammengehalten wird. Die Frömmigkeit ist sehr dicht, weil die Gläubigen ihren Glauben gegen Schwierigkeiten durchtragen müssen.

Priesterlose Altgläubige

Die Altgläubigenkirche des heiligen Nikolaus, priesterlose Richtung (безпоповцы). Sie gehen davon aus, daß es kein gültiges Priestertum mehr gibt und verzichten auf die Feier der Liturgie. Die Ikonostase ist in ihren Kirchen direkt an die Stirnwand des Gebäudes gebaut, weil dahinter kein Altarraum ist. Eine Apsis existiert nicht.

Kleine Kirche auf dem Verklärungsfriedhof in Moskau,
Quelle: Wikipedia

 

1771 erwarb der Kaufmann Ilʼja Alekseevič Kovylin (1731-1809) ein Grundstück im Norden Moskaus. Dort ließ er den Friedhof der Verklärung Christi (преображенское кладбище) für seine Glaubensrichtung anlegen. 1784-1811 wurden hier ein Männer- und ein Frauenkloster erbaut. 1784-1790 wurde die Kirche des Entschlafens der allheiligen Gottesgebärerin erbaut.

1854-1857 wurde sie umgebaut und ein Seitenaltar, dem heiligen Nikolaus geweiht, eingefügt. 1866 wurde die Kirche den Eingläubigen zugesprochen, die den alten Ritus beibehalten, aber der Staatskirche angehören. 1867 weihte Patriarch Filaret (Drozdov; 1782-1867) den Hauptaltar des Entschlafens der allheiligen Gottesgebärerin. Den Priesterlosen bleiben kleinere Kirchen. Sie beten hier das Stundengebet: die erste, dritte, sechste und neunte Stunde, die Vesper, die Komplet, das Mitternachtsgebet und die Matutin. Ich erlebe Gebete und Gesänge für einen Entschlafenen. Der offene Sarg steht inmitten der Kirche; es gilt aber als unglückbringend, das Gesicht des Verstorbenen anzuschauen.

Das Leiterchen

Leiterchen, Photographie von H. M. Knechten

 

Auf der Himmelsleiter, welche der Patriarch Jakob schaute, stiegen Engel auf und nieder (Gen 28, 12). Von daher leitet sich die Bezeichnung „Leiterchen“ (лестовка) für die Gebetsschnur ab. Sie besteht aus Leder.

Bei jeder Sprosse wird gebetet: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, sei mir Sünder gnädig“. Die Sprossen werden mit dem Daumen der linken Hand gegriffen. Bei jedem Gebet erfolgt eine kleine Verneigung.

Bei den neun großen Sprossen, welche die neun Engelchöre bezeichnen (Throne, Cherubim und Seraphim, Mächte, Herrschaften und Gewalten, Engel, Erzengel und Fürsten), wird eine Verneigung bis zur Erde gemacht.

Bei den drei ersten und letzten großen Sprossen wird gesagt: „Alleluja, Alleluja, Ehre sei Dir, o Gott“. Bei den mittleren drei großen Sprossen wird gebetet: „Gedenke meiner, Herr, wenn Du in Dein Reich kommst“ (Lk 23, 42).

Von den hundert kleinen Sprossen stehen die ersten zwölf für die Apostel, die folgenden 38 für die Wochen, welche der Sohn Gottes im Leibe der allheiligen Gottesgebärerin verbrachte, 33 Sprossen stehen für die Lebensjahre Christi auf Erden und 17 für die Prophezeiungen des kommenden Messias in der Heiligen Schrift.

Die beiden Dreiecke stellen das Alte und Neue Testament dar. Das Dreieck ist ein Zeichen für die Dreieinigkeit. Die Sterne verweisen auf die sieben Sakramente.

Das Leiterchen bildet einen Kreis, der die Unendlichkeit symbolisiert. Der Christ ist ja dazu aufgerufen, unablässig zu beten (1 Thess 5, 17).

 

Alle Belege finden sich in: H. M. Knechten, Leidendulder. Zum 1000. Todestag der heiligen Boris und Gleb. Zum 400. Geburtstag des Leidendulders Avvakum, Studien zur russischen Spiritualität XIV, Kamen zweite Auflage 2017, 55-114 (Erzpriester Avvakum).

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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