Tagebuch 1992

 

Sonntag, 11. Januar

Ein Pfarrer: „Die Gemeinde ist nicht Endverbraucherin des Heiligen Geistes, sondern Quelle des Heiligen Geistes.“

Samstag, 29. Februar

„Freilich braucht der Mensch zuweilen eine gewisse Zeit, um die verborgene Weisheit dieser theologia crucis zu erkennen und dabei jene tiefste Gelassenheit in der äußersten Verlassenheit zu gewinnen, die Tauler einmal als den Gipfel der religiösen Vollkommenheit bezeichnet hat“ (Peter Wust (1884-1940), Ungewißheit und Wagnis, Salzburg 1937; fünfte Auflage München und Kempten 1950, 211).

Mittwoch, 26. März Synaxe des Erzengels Gabriel

„Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48).

„Die Vollkommenheit des himmlischen Vaters, die Jesus allen Menschen als Vorbild aufgezeichnet hat, besteht im Erbarmen. So heißt es in der lukanischen Fassung der Bergpredigt: ‚Seid barmherzig, wie es auch euer himmlischer Vater ist‘ (Lk 6, 26).“ (Maria Beesing, Robert Nogosek und Patrick O’Leary, Das wahre Selbst entdecken. Eine Einführung in das Enneagramm, Würzburg 1992, 64).

„Gebet, einen Stern zu erlangen

Mein Gott, laß mich ausgehen, einen Stern zu finden … Aber du willst nicht, daß ich einen Stern erlange … Ist dieser Stern der Tod vielleicht?“ (Francis Jammes, 1868-1938, Quatorze prières, Orthez 1898; Gebete der Demut, Übersetzung von Ernst Stadler, Bilder von Herbert Thiele, Freiburg im Breisgau 1952, 22).

Dienstag, 14. April Großer Dienstag

„Anthony de Mello, Jesuitenpater und Schriftsteller, sagt, daß es unmöglich sei, gleichzeitig deprimiert und dankbar zu sein“ (Anthony de Mello, 1931-1987, A Way to God for Today, Videoband; zitiert nach Margaret Frings Keyes, Emotions and the Enneagram. Working through your Shadow, Muir Beach, California 1992; Transformiere deinen Schatten. Die Psychologie des Enneagramms, Übersetzung von Erika Ifang, rororo 9165, Reinbek 1992, 150).

Depression verengt den Blick auf Negatives, Sinnloses, Auswegloses. Dankbarkeit öffnet die Augen für Überraschungen im Alltag, für Schönes und Verborgenes.

Sonntag, 17. Mai Von der Samariterin

Das Ja, das ich heute spreche, ist anders als das Ja, das ich vor zehn Jahren gesprochen habe, und anders als das Ja, das ich in zehn Jahren sprechen werde, wenn ich dann noch lebe.

Der Mensch ist die Bundeslade Gottes. Ein Bund ist nichts Passives: Er erfordert ein immer erneutes Ja, um lebendig zu bleiben. (Aus meiner heutigen Predigt).

Donnerstag, 21. Mai Konstantin und Helena; Владимирская

„Die Liebe ist Demut; der Trauring prangt mit keinem Juwel“ (Jean Paul, eigentlich: Johann Paul Friedrich Richter, 1763-1825, Titan, 68. Zykel, in: Band 3, Berlin 1802.)

Sonntag, 31. Mai Väter von Nikaia

„Je tiefer ein Mensch in die Zeit eindringt, in das eigentliche Wesen der Zeit, umso entscheidender ist er auch auf sich selbst verwiesen; auf die Kraft der Seele, des Glaubens, des Geistes, die ihn befähigt, in dieser Zeit zu bestehen: in ihr, worauf es ankommt, wirklich ein Mensch zu sein und das Erbe der Menschheit in sich zu bergen (Reinhold Schneider, 1903-1958).

Donnerstag, 9. Juli

Bellarmin und die Rabbinen sagen, daß die Taube das Blatt, das sie dem Noah zutrug [Gen 8, 11], aus dem Paradies abgeblattet, das zu hoch für die Sündflut lag“ (Jean Paul, Siebenkäs. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten T. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel, II, 7, Berlin 1796; Tempel-Klassiker, Bd. I, Wiesbaden 1974, 856).

„Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ (Jean Paul, Siebenkäs, II, 1. Blumenstück, Bd. I, Wiesbaden 1974, 890-894).

„Die Scholastiker glauben, zwei Engel haben Platz an ein und derselben Stelle. Occam I. qu. quæstio 4 u. a.“ (Jean Paul, Siebenkäs, III, 9, Bd. I, Wiesbaden 1974, 907).

„Das größte Geschenk müßte man so willig empfangen, als sei es das kleinste; daher rechnete es unter die unbekannten Seligkeiten der Kinder, daß sie unbeschämt sich können beschenken lassen“ (Jean Paul, Siebenkäs, III, 9, Bd. I, Wiesbaden 1974, 931).

„Und ohnehin steht ja Geistlichkeit in einem nahen Verhältnis mit dem weiblichen Herzen; daher bedeutet ursprünglich auf der deutschen Spielkarte das Herz die Geistlichkeit“ (Jean Paul, Siebenkäs, III, 10, Bd. I, Wiesbaden 1974, 939).

„Es ist leichter, sich für die Menschen aufzuopfern als sie zu lieben; es ist leichter dem Feinde Gutes zu tun als ihm zu ergeben“ (Jean Paul, Siebenkäs, III, 1. Fruchtstück, Bd. I, Wiesbaden 1974, 1018).

Samstag, 11. Juli

Ungeduld.

„Beten Sie darum, daß Sie sich selbst vergessen und hinschenken können.“

Mittwoch, 29. Juli Martha

„“Daß es hier, wo nur das Wesentliche zählt, für mich leichter war, das zu lernen, was jeder Mensch auf dieser Erde lernen muß. – Und das wäre, Hochwürden? – Den Sinn des Lebens so weit zu erfassen, daß man bereit ist zu sterben“ (Margaret Craven, 1901-1980, I Heard the Owl Call My Name, Toronto 1967; Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen, Reinbek 1976; Reinbek 1991, 138).

Samstag, 1. August Makrina

„Der Anblick ist groß, wenn der Engel im Menschen geboren wird, wenn alsdann am Horizont der Erde die zweite Welt aufsteigt und wenn die ganze Sonnenwärme der Tugend auf das Herz nicht mehr durch Wollen fällt“ (Jean Paul, Hesperus, oder 45. Hundsposttage. Eine Biographie, Berlin 1795, 29; zitiert nach: Rolf Vollmann, Das Tolle neben dem Schönen. Jean Paul. Ein biographischer Essay, Tübingen 1975; München 1978, 51).

Dienstag, 4. August Pfarrer von Ars

Wir ließen einen Drachen steigen. Er braucht Wind, und damit auch Widerstand, um fliegen zu können, ohne diese fällt er zu Boden. Fliegt er zu stark nach rechts, muß nach links gegengesteuert werden; tendiert er nach links, muß er nach rechts gezogen werden, um in der Mitte zu bleiben. Dies ist ein Bild für das Leben.

„Im ganzen mineralogischen, atomistischen oder toten Reiche der Kristallisation herrscht nur die gerade Linie, der scharfe Winkel, das Eck; hingegen im dynamischen Reiche von den Pflanzen bis zu den Menschen regiert der Zirkel, die Kugel, die Walze, die Schönheitswelle!“

Der Staat und die positive Wissenschaft wollen Eckiges, „um leichter eingemauert zu werden. Hingegen die organisierende Kraft […] will das nicht, das ganze Wesen will kein Stück sein; es lebt von sich und von der ganzen Welt“ (Jean Paul, Flegeljahre. Eine Biographie I, 17, 2 Bände, Tübingen 1804 und 1805; Bd. II, Wiesbaden 1974, 828f).

Freitag, 14. August Prozession mit dem ehrwürdigen und lebenspendenden Kreuze des Herrn

„Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter reinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. – Der zweite ist: gerade hinabzufallen ins Gärtchen und da so einheimisch in eine Furche sich einzunisten, daß, wenn man aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. – Der dritte endlich – den ich für den schwersten und klügsten halte – ist der: mit den beiden anderen zu wechseln“ (Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein, aus fünfzehn Zettelkästen gezogen. Nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette. Erzählung, Billet an meine Freunde anstatt der Vorrede, Bayreuth und Lübeck 1796; Bd. I, Wiesbaden 1974, 46).

„Mache deine Gegenwart zu keinem Mittel der Zukunft; denn diese ist ja nichts als eine kommende Gegenwart, und jede verachtete Gegenwart war ja eine begehrte Zukunft!“ (Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein, aus fünfzehn Zettelkästen gezogen. Nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette. Erzählung, Letztes Kapitel, Bayreuth und Lübeck 1796; Bd. I, Wiesbaden 1974, 174).

Samstag, 15. August Mariä Entschlafen

„Das Sehnen nach Liebe ist selber Liebe“ (Jean Paul, Der Jubel-Senior, Dritter Hirten- oder Zirkelbrief. Über den Egoismus, Leipzig 1797; Bd. I, Wiesbaden 1974, 292).

Sonntag, 16. August Übertragung des nicht von Menschenhand geschaffenen Bildes nach Edessa

„Ich gedenke nicht einmal, daß die Religion, wie jedes Geschöpf, keinen besseren Wohnort haben kann als seinen Geburtsort, und der ist die Wüste (Anmerkung: Herder nennt die arabische Wüste die Geburtsstätte der drei berühmtesten Religionen)“: Jean Paul, Der Jubel-Senior, Fünfter offizieller Bericht, Leipzig 1797; Bd. I, Wiesbaden 1974, 332.

Verzweiflung ist der einzige echte Atheismus“ (Jean Paul, Dämmerungen für Deutschland. Über den Gott in der Geschichte und im Leben, Tübingen 1809; Bd. I, Wiesbaden 1974, 644).

„Nur ein enges Herz wächst nicht, aber ein weites wird größer; jenes verengen die Jahre, dieses dehnen sie aus“ (Jean Paul, Über das Immergrün unserer Gefühle, Berlin 1824; Bd. I, Wiesbaden 1974, 665).

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2023

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