Philosophische Zeitschriften in Russland

Evert van der Zweerde

 

1. Voprosy filosofii

Die führende Zeitschrift, sowohl quantitativ als auch qualitativ, ist noch immer Voprosy filosofii. Sie erscheint ununterbrochen und regelmässig seit 1947, anwachsend von zwei Ausgaben pro Jahr 1947 zu unveränderlichen 12 [Ausgaben] im Jahre 1995. Ihre Ausgabe wurde ermäßigt von 85400 im Jahre 1990 auf ca. 10000 im Jahre 1995. Leicht verringert in der Größe liefert sie noch 1920 gedrängt bedruckte Seiten im Jahr, eine Seite entspricht drei Standard-Buchseiten. Herausgegeben wie früher von dem führenden philosophischen Forschungsinstitut, dem Philosophischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften und geleitet von Wladislaw Lektorskij (* 1932) seit 1988, bietet sie ein breites Spektrum von Themen, Stellungnahmen und Trends in der russischen Gegenwartsphilosophie wie auch eine Auswahl westlicher Philosophen. Einer ihrer festgegründeten Teile sind die sog. "Kruglye stoly“ [Runde Tische], eine Erscheinung aus den 1960er und 1970er Jahren, wieder erscheinend im Jahre 1988 mit der Rückkehr von Iwan Frolow (*1929) als führender – und vielleicht letzter – offizieller Philosoph. Obwohl in der Qualität unterschiedlich, sind diese Protokolle unschätzbar für die Einsicht, die sie in die Art der russischen Gegenwartsphilosophen bieten und ihre Ansichten über jedes vorstellbare philosophische Thema diskutieren. Von großer Wichtigkeit für die Entwicklung der russischen philosophischen Kultur sind die "Anhänge" der Zeitschrift, tatsächlich eine Serie von Editionen klassischer Texte aus Russlands philosophischer Vergangenheit, begonnen im Jahre 1989 mit Erlaubnis des Zentralkommitees der Sowjetunion – über 30 Bände sind bis jetzt erschienen. In diesen Serien erschienen u.a. Werke von N.Berdjajew, K.D.Kawelin, P.Tschaadajew, G.G.Spet, W.Solowjew, A.F.Lossew, S.L.Frank, P.A.Florenskij, V.V.Rosanow, N.O.Losskij [Vgl. sämtliche Autoren, die veröffentlicht wurden, im Aufsatz von van der Zweerde, S. 45, A. 11]. Im Jahre 1997 feierte Voprosy filosofii den 50. Geburtstag; es wird interessant sein zu sehen, wie die Sowjetperiode, 45 dieser 50 Jahre umfassend, durch die gegenwärtigen Herausgeber gewürdigt wird, da viele [von ihnen] auch Mitglieder des sowjetischen philosophischen Establishments waren (A.I.Wolodin, A.F.Zotow, V.Z.Kelle, N.V.Motroschilowa, A.P.Ogurcow, T.I.Oisermann, V.S.Stepin und I.T.Frolow).

2. Logos

Die zweite Zeitschrift ist [nach Voprosy filosofii] hinsichtlich ihrer Wichtigkeit die Zeitschrift Logos, energisch geleitet von dem jungen Walerian Anaschwili. Sechs Ausgaben sind seit ihrem [ersten] Erscheinen im Jahre 1991 herausgekommen, stärker und professioneller werdend mit jeder neuen Veröffentlichung bei einer laufenden Ausgabe von 2000 Exemplaren. Im Gegensatz zu Voprosy filosofii, welches eine allgemeine philosophische Zeitschrift ist, hat Logos ein besonderes Profil, indem sie auf eine Wiederbelebung der phänomenologischen Tradition des vorrevolutionären russischen akademischen Lebens zielt. In dieser Hinsicht sieht die Zeitschrift sich selbst als eine Fortführung des Internationalen Magazins der Philosophie der Kultur Logos, die von 1910-1914 in Moskau und 1925 in Paris erschien. "Phänomenologie" muss in dieser Beziehung weit gefasst werden; die Zeitschrift schließt interessante Dialoge mit anderen Traditionen, z.B. über Psychiatrie und Psycho-Analyse in Bd. 5, über Sprachphilosophie in Bd. 6, ein.

3. Put’

Als nächstes kommt Put’ [Der Weg], der sich nach seinem Erscheinen im Jahre 1992 selbst der Öffentlichkeit darstellte als die Weiterführung der Zeitschrift mit dem gleichen Namen, die von 1925-1940 in Paris erschien, herausgegeben von dem gut bekannten emigrierten Philosophen Nikolaj Alexandrowitsch Berdjajew (1874-1948). Ihr Herausgeber bleibt Alexander Jakowlew, Sohn des früheren mit M.Gorbatschew eng Vertrauten. Zurzeit erscheint die Zeitschrift mit 1000 Exemplaren pro Auflage. Obwohl ausgesprochen international in ihrem Charakter ist dieser Aspekt weniger offensichtlich geworden in den jüngsten der acht Ausgaben, die inzwischen erschienen sind. Weniger 'programmatisch' als Logos enthält die Zeitschrift eine Mannigfaltigkeit interessanter Artikel, z.B. "Filosofija snizu" [Philosophie von unten] von Ewgenij Barabanow in Bd. 6, oder "Svoboda sobstvennosti" [Freiheit des Eigentums], von Wladimir Bibischin in Bd. 7; sie schließt ein Archivmaterial wie zwei frühe Aufsätze von Walentin Asmus (1894-1975), einer derjenigen, der die philosophische Kultur in der Sowjet-Periode 'rettete' und den Grundstein legte für ihr Wiedererscheinen in der Gegenwart: seine Eröffnungsansprache "Filosofskie zadači Logiki" [Die philosophischen Aufgaben der Logik] von 1922 sowie ein Werk über den Komponisten Modest Mussorgskij. Die Zeitschrift veröffentlicht höchst nützliche Bibliographien von russischen und ausländische philosophischen Publikationen (in anderen Zeitschriften fehlend). S. 46, Anmerkung 12: Ständige Gerüchte gibt es, seitdem Put’ sein Erscheinen eingestellt hat. Wenn dies wahr ist, so war der 8. Bd., der 1995 erschien, der letzte.

4. Filosofskie nauki

Noch erscheint Filosofskie nauki [Philosophische Wissenschaften] trotz ernsthafter Schwierigkeiten. Bis 1991 erschienen 12 Ausgaben mit 7000 Exemplaren, doch die Zeitschrift beendete ihr Erscheinen nach der dritten Auflage im Jahre 1992. In der Hoffnung, dass bestimmte Organe ihre Versprechen hinsichtlich finanzieller Unterstützung einhalten würden, wurden für 1992 vier weitere Ausgaben angekündigt. Sie erschien wieder im Jahre 1992, beträchtlich gekürzt: die gegenwärtig 6 jährlichen Ausgaben wurden in zwei Bänden veröffentlicht, jede von ihnen ist nur wenig umfangreicher als die einzige Ausgabe von 1991; sie erscheint in 3000 Exemplaren. Herausgeber ist der Philosoph der Wissenschaft Jurij Zinewitsch (*1943). Die Zeitschrift scheint nicht viel von herausgeberischer Politik zu besitzen, aber sie enthält interessante Materialien: eine ständige Abteilung von Debuts junger Philosophen, eine Serie von Gesprächen am runden Tisch mit ausländischen Teilnehmern über 'Konflikttheorie', beginnend in Bd. 4 von 1993 sowie Interviews z.B. mit Walerij Podoroga (*1946) über "Fenomen Vlast' [Das Phänomen Macht]" (1993 Bd. 1). Allgemein gesprochen, im Vergleich mit anderen Zeitschriften ist diese interessant im Hinblick auf den Grad der Aufmerksamkeit, den sie den Ausgaben in sozialer und politischer Philosophie zuwendet.

5. Vestnik

Vestnik MGU, Serie 7: Philosophie [Bulletin der Moskauer Staatsuniversität] erscheint seit 1946, sechsmal im Jahr in einer Auflage von etwa 2000 Exemplaren; sie ist das Hausjournal der philosophischen Fakultät der MGU. Als solche ist sie eine wertvolle Informationsquelle hinsichtlich der Lehre der Philosophie im postsowjetischen Russland, indem sie die Veränderungen im letzteren reflektiert. Einige dieser Veränderungen wurden manifest in einer "Kruglyj stol" Diskussion [Runder-Tisch-Diskussion], gehalten in der MGU im Jahre 1994, veröffentlicht in Bd. 2 und 3 im Jahre 1995. Teilnehmer waren Alexander Nikiforow (*1948), der Initiator der Diskussion "Javljaetsja li filosofija naukoj?" [Ist Philosophie eine Wissenschaft?] in Filosofskie nauki 1989-1991, die den öffentlichen Durchbruch der sowjetischen Konzeption der Philosophie als die theoretische Basis einer 'wissenschaftlichen Ideologie' markierte, Alexander Panin (*1936), Dekan der Fakultät für Philosophie, Witalij Kusnetzow (*1932), Vjatscheslaw Botscharow (*1937) und verschiedene andere über die Natur der Philosophie; dieses sind Philosophen mit einem ausgeprägten sowjetischen Hintergrund, die versuchen, ihren Weg in einem neuen Zeitalter zu definieren.

6. Načala

Ein evidentes Element dieser neuen Zeit ist das Wieder-Erscheinen religiöser Philosophie auf der russischen philosophischen Szene. Obwohl die übrigen Zeitschriften diesem Thema auch Aufmerksamkeit in vieler Hinsicht widmen, ein wichtiger Trend, ist eine Zeitschrift besonders darauf konzentriert: Načala, die sich selbst als eine 'religiös-philosophische Zeitschrift' definiert. Sie begann mit ihrem Erscheinen im Jahre 1991 und – zunächst marginal – wurde sie seitdem eine etablierte Zeitschrift. Herausgeber dieser Zeitschrift, die in 3 bis 4 Ausgaben pro Jahr erscheint (die erste Ausgabe im Jahre 1994 war als Nr. 11 bezeichnet) ist N.Skorobogat’ko. Sie tendiert dahin, jede ihrer Ausgaben um einen wichtigen russischen Philosophen von einer mehr oder weniger evidenten 'religiösen' Ausrichtung zu organisieren: Gustav Špet (1992, Bd. 1), Konstantin Leont’jew (1992, Bd. 2), Wassilij Rosanow (1992, Bd. 3), Aleksej Losew (1993, Bd. 2, und 1994, Bd. 1). Sie ist nicht nur wichtig wegen dieser besonderen Ausgaben, die Originalwerke ebenso enthalten wie Briefe oder auch Studien von zeitgenössischen russischen und ausländischen Spezialisten, sondern auch, weil sie führende gegenwärtige religiöse Denker wie Sergej Choruschij und Nikolaj Gawriuschin veröffentlicht.

Evert van der Zweerde, Philosophical Periodicals in Russia Today, in: Studies in East European Thought 49( 1997), Nr. 1, S. 35-46 (in Auszügen aus dem Englischen übersetzt von Klaus Bambauer).

 

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