Gebet und inneres Leben in der orthodoxen Tradition*

Boris Bobrinskoy

Einführung

1. Liturgisches und persönliches Gebet

[S. 212] Die ökumenische Gegenüberstellung, wie sie kürzlich hinsichtlich der verschiedenen liturgischen Traditionen erfolgt ist, hat die Dringlichkeit deutlich gemacht, mit der die geistliche Erfahrung und das innere Leben zu behandeln sind, welches den bekannten liturgischen Formen zugrunde liegt. Diese Innerlichkeit des liturgischen Lebens, die für den Christen von entscheidender Wichtigkeit ist, spielt eine große Rolle und ist die notwendige Voraussetzung für eine Integration desselben in die sakramentale Gemeinschaft. Doch ist es ebenso schwierig den Inhalt dieses inneren Lebens zu beschreiben und zu umgrenzen, als auch die Riten und Formen des liturgischen Gebets zu analysieren, deren historische Entwicklung zu studieren und sie untereinander zu vergleichen. Nur in dem Maße, als die geistlichen Erfahrungen der verschiedenen christlichen Traditionen miteinander in Vergleich gebracht werden, wird das ökumenische Gespräch die Grenzen einer konventionellen und spekulativen Theologie überwinden und wirklich lebendig und fruchtbar werden.

Das Zeugnis einer Kirche über ihr liturgisches Leben und die es beherrschenden Gesetze kann nur bei Kenntnis der Formen und der Probleme des inneren Lebens des Christen behandelt werden. In der Tat, der liturgische Kultus und das Gebetsleben des Christen bedingen sich gegenseitig. Sie ergänzen und durchdringen sich und erhellen sich gegenseitig. Es gibt immer Spannung und Ausgleich zwischen dem öffentlichen und dem privaten Gebet, zwischen der gemeinsamen Handlung der Kirche und der inneren Heiligung des einzelnen Christen. Jede Minderung oder Entwertung eines der beiden Bereiche zuungunsten des anderen führt unvermeidlich zu Verarmung und Zerstörung der Gemeinschaft des Menschen mit Gott und mit seinem Nächsten. Es ist deshalb wichtig, dass wir schon jetzt den wirklichen und keineswegs zu mindernden Wert des inneren Lebens hervorheben. Dieses darf in keinem Falle zugunsten des liturgischen Kultes entwertet werden. Im Gegenteil, es gibt die Voraussetzungen für den Wert des gemeinsamen Gebetes ab. Von der Autorität des einen hängt die des anderen ab und umgekehrt. Wenn also der Mensch der Gemeinschaft mit den Menschen bedarf, um in Gemeinschaft mit Gott treten zu können, wenn das öffentliche Gebet eine Forderung ist, die sich aus dem Wesen der Kirche [S. 213]selbst ergibt, so fühlt doch der Mensch nichtsdestoweniger das unwiderstehliche Bedürfnis des Alleinseins, um zu beten, mit Jesus Christus ein Gespräch von Person zu Person führen zu können, und nur Gott allein am Geheimnis seines Herzens teilhaben zu lassen.

Nach den Darstellungen der Evangelien scheint die Lehre Christi selbst uns in zwei sich gegenseitig ausschließende Richtungen zu führen. Jesus hat einerseits die Wichtigkeit des gemeinsamen Gebetes hervorgehoben: "Wenn zwei unter euch auf der Erde ihre Stimme vereinigen, um, was es auch sei, zu erbitten, so wird es ihnen von meinem Vater im Himmel gegeben. Wenn zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, so bin ich mitten unter ihnen" (Mt. 18, 19-20). Auf der anderen Seite hat unser Herr geboten, im Verborgenen zu beten (Mt. 6,5 f.). Aber diese beiden Arten des Gebetes stehen nicht im Widerspruch miteinander. Im Gegenteil, wenn das persönliche Gebet immer in das gesamte Leben der Kirche eingeordnet ist, das ja das ganze Leben eines jeden Christen durchdringt, so setzt das gemeinsame Gebet, die eucharistische Handlung, doch die persönliche Vorbereitung voraus.

Wenn das persönliche Gebet zu einer individualistischen Frömmigkeit und einer anarchischen Ekstase entarten kann, wenn es vom liturgischen Rhythmus der Kirche abgeschnitten ist, so wird auf anderen Seite das liturgische Gebet unpersönlich, formalistisch und äußerlich, wenn es nicht durch die Bewegung des innerlichen Geläubigen verinnerlicht und belebt wird. Deshalb schlägt die Kirche eine genaue und gut durchdachte, umgrenzte Regel für das persönliche Gebet ihren Gläubigen vor, bevor sie dazu kommen, an der Eucharistie der Gemeinde teilzunehmen.

Die persönliche und im verborgenen gepflegte Gebetshaltung ist nicht Frömmigkeit, sondern - im Gegenteil - wahrhaft universal und katholisch, weil sie alle Bedürfnisse und Absichten der ganzen Kirche, der Menschheit in ihrer Gesamtheit, umfaßt.

2. Das Gebet im Leben Jesu

Wir wissen, welchen Raum das verborgene Gebet im Leben Jesu selbst eingenommen hat. 40 Tage des Gebetes in der Wüste gingen dem öffentlichen Wirken des Herrn voran (Mt. 4,1-2). Oft hat sich Jesus für die Nacht in das Gebirge oder an einen einsamen Ort begeben, um mit seinem Vater zu reden. "Abseits von den Menschen" (Mt. 14,23; vgl. Mk. 6,46). "In der Frühe", so sagt uns Markus, "während es noch sehr dunkel war, erhob er sich und ging hinaus an einen wüsten Ort, um zu beten" (1,35; vgl. Lk. 4,42). "Aber er", schreibt Lukas, "zog sich in die Wüste zurück und betete" (Lk. 5,16). In den für sein Wirken besonders entscheidenden Augenblicken betete Jesus während der Nacht, z. B. vor der Erwählung der Zwölf. "Zu dieser Zeit", sagt Lukas, "begab sich Jesus in das Gebirge, um zu beten, und er verbrachte dort die ganze Nacht im Gebet zu Gott" (6,12). Er hat auch in Gemeinschaft mit seinen Jüngern gebetet (Lk.9,18), insbesondere bei der Verklärung auf dem Berge Thabor (Lk. 9,28), bevor er sie das Vater Unser lehrte (Lk. 11,1-4), am Ölberg im letzten Jahre seines öffentlichen Wirkens (Lk 21, 37, Joh 8, 11) und schließlich in der Nacht, in der er verraten ward (Mt 26, 36-40; Mk 14, 35; Lk 22, 40-46), zog [S. 214] sich Jesus auf den Ölberg in den Garten Gethsemane zurück, wo er "mit großen Schreien und unter Tränen die Gebete ausstieß und Seufzer zu dem, der ihn vom Tode erretten konnte" (Hebr. 5, 7), indem er aber ganz und gar den eigenen Willen dem des himmlischen Vaters unterwarf (vgl. auch Joh. 12, 27 f.).

Die Lehre Jesu über das Gebet entspricht dem Beispiel seines eigenen Lebens. Man muss nicht nur immer beten und darf im Gebet nicht nachlassen (Lk. 18, 1-8; 21, 34-36), sondern dieses muss auch demütig machen (Lk. 18, 9-14) und still, verborgen vor den Augen der Menschen. "Wenn ihr betet, so seid nicht wie die Heuchler, die öffentlich zu beten scheinen, in den Synagogen und an den Ecken der Straßen, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin, aber wenn du betest, so gehe in deine Kammer, schließe die Tür hinter dir zu und bitte deinen Vater, der auch an diesem verborgenen Orte gegenwärtig ist, und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten" (Mt. 6, 5-6). Dieses Gebet ist ein Herzensgebet, ein Akt der Liebe (Mt. 22, 37; 13, 15: 15, 8, 15-20). Es ist eine Waffe, die unüberwindbar ist im Kampf gegen die Dämonen und ihre Anschläge (Mt. 17, 21).

Die Evangelien geben uns mehrere Beispiele für die Gebete, die Jesus an seinen Vater richtete, z. B. bei der Rückkehr der 70 Jünger von ihrer Aussendung, wo er "vor Freude im Heiligen Geiste zitterte" (Luk. 10, 21-22) oder auch vor der Auferweckung des Lazarus (Joh. 11, 41 f.) oder schließlich vor dem Verlassen des Abendmahlraumes, das hohepriesterliche Gebet, wo Jesus für seine Jünger eintritt und für die Einheit derer bittet, die an ihn glauben (Joh. 17). Es ist uns an dieser Stelle nicht möglich, bei der geistlichen Überlieferung der Kirdie zu verweilen, aber es wäre leicht zu zeigen, wie diese in den Anfängen des Christentums verwurzelt ist, nicht nur im Schoße des koinobitischen und idiorrhythmischen Mönchtums, sondern auch im eigentlichen Leben der Christen inmitten einer feindlichen und gottlosen Welt.1)

I. Anthropologie des Gebetes

Bevor wir dazu übergehen, die in der orthodoxen Kirche gebräuchlichen Formen des Gebetes zu beschreiben, scheint es uns wichtig, einmal eingehender darzulegen, was man die "Anthropologie des Gebetes" nennen könnte. Wir meinen damit ein Bild von der Struktur des Menschen, von der Wirkung der Sünde und von dem Sündenfall, infolgedessen auch von der Bedeutung des Gebetes und von dem inneren Kampf im Hinblick auf die Wiederherstellung des Menschen in der göttlichen Liebe.

1. Die Anthropologie der Schrift und der Väter

Nach der Lehre einiger christlicher Denker, die mit ihren Konzeptionen dem Platonismus zuneigen oder ihm doch sehr nahestehen, besteht das Heil in einer Überwindung des Leibes oder Befreiung vom Körper in einer rein geistigen Gottesschau. Es ist klar, dass bei einer solchen Lehre der Körper selbst keinen Teil am Gebet und am inneren Leben hat. Je mehr die Seele vom Körper befreit wird, umso stärker wird das Gebet rein spirituell und vollkommen sein. Dagegen lehren uns die Anthropologie der Bibel und die [S. 215] Überlieferungen der Väter, dass der Mensch ein vollkommen organisches Wesen ist, in welchem der physische Bereich und das geistig-seelische Leben ein unteilbares Ganzes bilden, das den lebendigen Menschen als ein Geschöpf Gottes erscheinen lässt. "Der Mensch ist körperlich geschaffen worden, und der ganze Organismus, der er ist, wirkt mit seinem seelischen Leben zusammen".2) Der Mensch ist also nicht ein Intellekt, der von der Materie gefangengehalten wird, sondern ein geistleibliches Ganzes, das Gott in seiner Totalität geschaffen hat und das er durch seine Menschwerdung, die Erlösung und die Geistausgießung als Ganzes zu retten gekommen ist. Die Gnade, d. h. der Geist Gottes, durchdringt den ganzen Menschen, heiligt sein Fleisch, seine Seele und seine Vernunft, denn Gott ist dem menschlichen Körper ebenso fern und ebenso nahe als er es der Seele und der Vernunft ist.

Es ist klar, dass nach der Anthropologie der Bibel und der Kirche das Gebet und das innere Leben den ganzen Menschen verpflichten. Die Psalmen bieten ergreifende Beispiele für die Rolle des Leibes im Gebet. "Mein Seele dürstet nach dir, mein Gott, nach dir seufzt mein Fleisch wie ein trockenes Land, das ohne Wasser ist" (Ps. 63, 2; vgl. Ps. 73, 26, 119, 120). Das Fleisch hat teil an diesem Durst, an diesem Verlangen nach Gott. Wenn Gott dem Menschen begegnet und ihn durchdringt, so durchdringt er ihn in Gesamtheit, er formt ihn in seiner Seele und in seinem Leibe um.

Der Ursprung des geistlichen Lebens kann in einer solchen Sicht nicht der Intellekt sein. Der Geist des Menschen kann nicht als der Ort der Erkenntnis und der Einigung mit Gott angesehen werden, wie in den dem Platonismus zuneigenden Mystikern die Betrachtung des Intelligiblen durch das, was im Menschen diesem am ähnlichsten ist, d. h. die Vernunft, möglich ist. Nach der heiligen Schrift aber und der aus Tradition geborenen Erfahrung ist es keineswegs die Vernunft, sondern das Herz des Menschen, welches den eigentlichen inneren Motor für sein ganzes Leben abgibt, nicht nur für das leibliche Leben und die Affekte, sondern auch für die natürliche Erkenntnis und endlich für das geistliche Leben. Im Herzen vollziehen sich die intimsten und geheimsten Entscheidungen. "Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über" (Mt. 12,34). Die geistliche Erblindung selbst ist ein Erblinden des Herzens (Mt 13, 5). Insbesondere gilt vom Volke Israel, dass es Gott nur mit den Lippen ehrt, "sein Herz aber ist fern von mir" (Mt. 15, 8). Aus dem Herzen kommt endlich alles das, was vom Munde ausgeht, die Gedanken und die unreinen Neigungen (Mt. 15, 17-19).

Im Herzen wurzelt das Geheimnis der menschlichen Person, jenes Verborgene, das allein Gott kennt (Mk. 3, 5; Lk. 9, 47; 16, 15). Wenn die Abwesenheit Gottes eine Verhärtung des Herzens bedeutet, so findet der Mensch Gott auch durch die Erneuerung seines Herzens wieder. "Ich werde in euer Inneres ein neues Herz geben, ich werde das steinerne Herz von euch nehmen, um euch ein fleischernes Herz zu geben (Ezech. 11, 19, vgl. 18, 31 36, 26). Gerade in diesem neuen Herzen verwirklicht sich der neue Bund, und durch diesen neuen Bund strömt das göttliche Leben in den Menschen ein.

[S. 216] Es versteht sich von selbst, dass diese Hervorhebung der entscheidenden Rolle des Herzens für das geistliche Leben, für die geistliche Erkenntnis im Gebet keineswegs eine Sentimentalität bedeutet. Es ist auch keine Vorherrschaft der Gefühlsaffekte über die Vernunft. Das Herz ist das Zentrum. Das Herz ist das Zentrum des ganzen Lebens, nicht nur des natürlichen, sondern auch des übernatürlichen. Es ist ja das Ziel des christlichen Lebens, sein Herz zu öffnen, nicht in einem individualistischen Sinne, sondern im Sinn des totalen Lebens in der Kirche, d. h. es der Gegenwart Christi durch den Heiligen Geist aufzutun. Die geistliche orthodoxe Tradition hat, indem sie eine sehr reale Versuchung in ihrer eigenen Geschichte überwunden hat, nämlich die des platonischen Spiritualismus, das Herz wieder entdeckt und mit ihm den Sinn der Ganzheit des Menschen, der Totalität des Menschen vor Gott. Ich könnte aus dem 4. Jahrhundert die Namen von St. Makarius dem Großen, aus dem 6. Jahrhundert von Maximus dem Bekenner und aus dem 14. Jahrhundert den hl. Gregor Palamas erwähnen. So sagt der heilige Maximus der Bekenner, dass der Mensch in seiner Seele und in seinem Leibe immer eine Einheit bleibt durch die Gnade Gottes, d. h., dass der Mensch sich selbst als ein Ganzes zu einem angenehmen Opfer darstellt nach dem Worte des Apostels Paulus. "Opfert eure Leiber zu einem Gott angenehmen Opfer." Was heißt es, seinen Leib zu opfern, wenn dieser nicht eine positive Realität ist?

Der Leib nimmt also am Gebet teil. Er ist nicht der Sitz des Bösen im Menschen. Es gibt auch intellektuelle Sünden, ich möchte fast sagen, geistliche Sünden, nicht weniger als rein fleischliche Sünden. Wenn also auf der einen Seite der Körper am Gebet teilhat, indem der Mensch die Knie beugt, fastet, das Zeichen des Kreuzes macht, sich niederwirft, aufrecht steht, ermüdet ist, so geht doch andererseits die geistliche Freude aus der Gegenwart des Heiligen Geistes im Menschen hervor und herrscht auch über den Körper selbst.

Die Väter unterstreichen sehr gern die Verklärung des Leibes und des Angesichts, wenn diese von geistlichen Realitäten durchdrungen werden. Die geistliche Freude, sagt der hl. Gregor Palamas, die aus dem Geiste in den Körper strömt, ist keineswegs durch die Gemeinschaft mit dem Körper verdorben, sondern wandelt diesen Körper um und macht ihn geistlich, weil dieser nun die schlechten Begierden des Fleisches austreibt, die Seele nicht mehr nach dem Niedrigen zieht, sondern sie mit sich erhebt, so dass der ganze Mensch Geist wird, wie geschrieben steht: "Alles, was aus dem Geiste geboren ist, das ist Geist" (Joh. 3). Es scheint uns also, dass das übernatürliche Leben die wahre Hierarchie im Mensdien wiederherstellt, die wahre Relation zwischen den körperlichen, seelischen und geistlichen Anlagen. Infolge der Unterwerfung des Leibes unter die Seele und der Seele unter den Geist strahlt der ganze Mensch die Gegenwart des Heiligen Geistes, der in ihm ist, aus. Dieses kommt auch zum Ausdruck in einer Unterhaltung, die uns vom hl. Seraphim mit einem seiner Schüler berichtet wird. Dieser fragte den Heiligen, worin die Vollkommenheit besteht. Der hl. Seraphim antwortete: "In dem Erwerben des Heiligen Geistes". – "Wie kann ich aber wissen, dass ich mich unter der Gnade des Heiligen Geistes befinde?" Über alle Erklärungen des hl. Seraphim hinaus, die nicht bis in das Herz

 

Fortsetzung