Der Versöhnungstag (Lev 16)

im altorientalischen Kontext

 

 

Heinrich Michael Knechten

 

 

Für viele Christen in Deutschland ist Weihnachten gefühlsmäßig das wichtigste Fest im ganzen Jahr. Theologisch und liturgisch kommt aber dem Osterfest der höchste Rang im Kirchenjahr zu. Für Moslems steht das Opferfest (‛īd al-ādha) im Mittelpunkt, für Juden der Versöhnungstag (jōm kippūr).

 

Am jüdischen Versöhnungstage versuchen die Menschen, sich miteinander und mit dem Herrn durch Fasten und Gebet zu versöhnen, der barmherzig und zur Vergebung bereit ist. In der Heiligen Schrift ist der Versöhnungstag vor allem in der Priesterschrift (P) belegt, und zwar im Buche Leviticus, dem dritten Buch Mose, Kapitel 16, sodann in Lev 23,26-32 und Num 29,7-11. Das Fest wird auch Ex 30,10 kurz erwähnt: „Aaron soll an den Hörnern dieses Altares einmal im Jahre die Sühnung vollziehen mit dem Blute des Sündopfers, das zur Sühnung dargebracht wird. Solche Sühnung soll jährlich einmal geschehen bei euren Nachkommen.“

 

Zunächst stellt sich die Frage, wie der Text Lev 16 überliefert ist.

 

 

Textüberlieferung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In Lev 16 hat sich der masoretische Text als zuverlässig erwiesen. Alle abweichenden Überlieferungen können erklärt werden. Nun ist ein Überblick über die bisherige Erforschung dieses Kapitels zu geben.

 

 

Auslegungsgeschichte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zur Methode

 

In den Mittelpunkt der Überlegungen muss der Text selbst gerückt werden. Andernfalls besteht Gefahr, seine Einzelheiten aus dem Auge zu verlieren und so an seinen Problemen vorbeizugehen (Jacob, Segal, Radday) oder auf außerliterarische Kriterien zu rekursieren, wodurch der Taxt als literarische Größe verfehlt wird (Landersdorfer). Eine Vermischung sachlicher, ideeller und formalliterarischer Kriterien ist unstatthaft.

 

Diese Forderung ist nicht unumstritten. W.Staerk wendet gegen Eißfeldt ein, dass analytische Arbeit am Pentateuch nicht von formaler Quellenkritik, sondern von methodischer Stoff- und Ideenkritik auszugehen habe (Staerk, Literarkritik, 35). S.Grill hält es gar für eine theologisch belanglose Frage, wann, wo und von wem die biblischen Bücher, Kapitel und Verse geschrieben worden seien (Testament, 12f).

 

Nach O.Kaiser ist das Ziel der Literarkritik, den ursprünglichen Wortbestand eines Buches, einer Quellenschrift oder einer Einzelüberlieferung von den späteren Zusätzen zu trennen und damit den Weg für eine geschichtliche Würdigung des Textes zu bahnen. Dubletten und Widersprüche sind Anzeichen für die Uneinheitlichkeit des Textes (Exegese, 16f).

 

W.Richter fordert, der inhaltlichen müsse die formale Analyse voraufgehen. Damit soll vermieden werden, textfremde Fragestellungen und Inhalte in den Text hineinzutragen. Sind kleine Einheiten herausgearbeitet worden, kann ihr Verhältnis zueinander untersucht werden (Exegese, 42.66.72).

 

E.Zenger fordert, eine neue Einheit dann anzusetzen, wenn ein neues Thema oder ein neues Geschehen einsetzt, außer wenn sie durch Doppelungen und Widersprüche zerstört ist. Die kleine Einheit weist sich durch einen Neueinsatz aus, das in ihr anhebende Geschehen oder Thema entfaltet sich folgerichtig und kommt zu seinem angestrebten Ergebnis. Die verbleibenden Abschnitte seien Fragmente (Sinaitheophanie, 50).

 

Adressaten, Konkretion und Figuren

 

Adressaten sind Aaron, das Volk und der Priester: Die Anweisungen für Aaron, welche mit V 2a beginnen, enden mit V 28.

V 29-31.34a bringen Vorschriften für das Volk, V 32f für den Priester.

 

Konkretion: V 2a-28 enthalten konkrete Anweisungen, V 29-34a nur allgemein gehaltene.

 

Auffallend sind einige Verse wegen ihrer kompositionellen Figuren. V 8f.10 haben parallelistischen, V 29.31 chiastischen Charakter. Damit fallen sie aus dem Gesamt des übrigen Textes von Lev 16 heraus.

 

Parallelen

 

Lev 16,29-34 ist parallel mit Lev 23,26-31 und Num 29,7-11. Lev 16,1.3.14f.29 klingt an Ez 43,18-27 und besonders an Ez 45,18-20 an. Einige Wendungen gehen wörtlich parallel, etwa Lev 16,29b mit Lev 23,27 und Num 29,7.

 

Gründe für die Abweichungen sind: Lev 23 steht im Kontext der Kapitel 17-25, dem so genannten Heiligkeitsgesetz, wogegen Lev 16 den Kapiteln 11-15 angefügt wurde, in denen es um Kultfähigkeit und Kultunfähigkeit geht.

 

Hätte Lev 16 den Namen für dieses Fest, der in Lev 23,27 als Tag der Versöhnungen bezeichnet wird, bereits gekannt, wäre er sicher eingefügt worden. Primär ist der Brauch, sekundär die Bezeichnung für ihn. Lev 23,29 verschärft die Fastenvorschrift durch eine Strafandrohung. Dies ist ein sekundärer Zug. Lev 23,32 enthält die erklärende Erweiterung: am Abend, vom Abend an bis wieder zum Abend. Lev 32 kann also gegenüber Lev 16 als sekundär gelten.

 

Num 29,7-11 setzt Lev 16 und Lev 23,26-32 voraus. Der Kontext ist Num 28,1 – 30,1. Hier wird der liturgische Jahreszyklus von Lev 23 erneut geboten, jedoch im Hinblick auf den Tempeldienst systematisch dargestellt. V 1 ist Einleitung zu V 8-11.

 

Dopplungen, Spannungen, Brüche und Unterschiede

 

Dubletten sind: V 4.32; 5.7; 6.11; 10.20; 10.21.22b; 16.33; 17.24d; 18.33; 26.28.

 

V 1f; 2f; 6.11; 7-10.15.21f; 22a.22b; 24a-c.d; 24f;31f;34a.34b stehen jeweils in Spannung zueinander.

 

Syntaktische Brüche begegnen in V 31.32; 33.34a; 34a.b.

 

Das Verb kpr (bedecken, sühnen) wird in V 6.11.17.24.27 mit b konstruiert,

in V 10.16.18.30.33.34 mit ‛l;

in V 20.33 mit ’t.

 

An den Dopplungen sind durchgängig zwei Oppositionen, das heißt zwei Verfasser oder zwei Hände festzustellen. Lediglich V 22b fällt aus dem Rahmen. Dieser Versteil scheidet demnach als Zusatz aus.

 

Die doppelte Redeeinleitung V 1f ist in der Priesterschrift auch Ex 6,2a.b belegt. Zur Einleitung von Gottesreden wird im Grundbestand der Priesterschrift wajjōmær und in den späteren Texten wajjedhabbēr verwendet (P.Weimar, Hoffnung, 140). Die Redeeinleitung in V 1 ist sekundär gegenüber der in V 2a. Wegen der Spannung von 2aβ zu V 3 ist nach V 2aα zu scheiden. Beide Redeeinleitungen können unabhängig voneinander überliefert worden sein. Die Verknüpfung beider Formel kann redaktionell erfolgt sein. Gegen die literarische Einheitlichkeit (vertreten von K.Elliger, Leviticus, 202f) spricht: Zum Zwecke einer erneuten Redeeinleitung hätte das einfach wajjōmær (vgl. 2 Sam 22,1.2aα) oder der Infinitiv lēmor (vgl. Num 1,1; 9,1) genügt (P.Weimar, Hoffnung, 142).

 

Die Verse 7-11 sind wegen der Dopplungen V 5.7; 6.11; 10.20; 10.21 und wegen der Spannungen V 15.21f auszugliedern. Zudem ist dieser Abschnitt aufgrund der Parallelismen in V 8 und V 9f herausgehoben.

 

V 12f stören den Zusammenhang zwischen V 6 und V 14. Zudem ist die Zusammengehörigkeit der V 12f mit 2 zu beachten. Beide sind zugleich auszugliedern oder im Text zu belassen. Aufgrund der Spannung von V 2 und V 3 scheint es besser, V2.12f auszugliedern.

 

V 22b scheidet aufgrund überhängender Opposition als Zusatz aus.

 

V 24d ist aufgrund der Dopplung mit V 17 und der Spannung mit V 24a-c auszugliedern.

 

V 25 steht in Spannung mit V 24. Dieser Vers ist wohl wie V 24d zu bewerten, da er mit ihm in Zusammenhang steht.

 

V 26 ist Dopplung zu V 28. Er ist im Zusammenhang mit V 10 auszugliedern.

 

V 29-34a enthalten die Dopplungen V 4.32; 16.33; 18.33. Der Wechsel von der konkreten (V 2aβ – 28) zu den allgemeinen Anweisungen (V 29-34a), der Wechsel in den Adressaten der Anweisungen (V 2aβ - 28: Aaron; V 29-31.34a das Volk; V 32f der Priester) und die Chiasmen V 29.31 heben diesen Abschnitt genügend vom übrigen Text ab, sodass die Ausgliederung berechtigt erscheint. Dieser Abschnitt ist nicht einheitlich: V 32f sind aufgrund des Wechsels der Adressaten der Anweisungen auszugliedern.

 

V 34b steht in Spannung zu V 34a. Dieser Versteil hebt sich deutlich von V 29-34a ab.

 

Die ausgegliederten Verse bevorzugen die Zusammenfügung kpr ‛l und kpr ’t. Lediglich V 11.24d verwenden auch die Konstruktion kpr b, doch sind diese Verse in Anlehnung an den verbleibenden (älteren) Textteil entstanden, der durchgängig kpr b bevorzugt.

 

Zwei Textgruppen und ihr Verhältnis zueinander

 

Das Ergebnis der Gliederung stellt die Textgruppe V 2aα.3-6.14-22a.23-24c.27f heraus. Sie kann als einfache Einheit gelten (G.Fohrer, Exegese, 53). Während sie homogen, von Dopplungen und Spannungen frei ist, zeichnet sich die mit ihr korrespondierende Gruppe V 1.2aβb.7-13.22b.24d-26.29-31.32f.34 durch unterschiedlicher Herkunft aus. Offensichtlich wurde dieses Textstück mehrmals überarbeitet. Es trägt Anzeichen, jünger zu sein:

 

V1 stellt die Verbindung zu Lev 10,1f her. Diese Einleitung muss später sein als der folgende Text.

 

V 2aβb.12f wurde im Hinblick auf die ältere Textgruppe verfasst.

 

V 7-11 wurden durch V 11, der V 6 wiederaufnimmt, in die ältere Textgruppe eingefügt. V 7-10 können nicht vorher isoliert existiert haben; der Verfasser von V 11 muss auch der von V 7-10 sein. Es handelt sich um eine sekundäre Erweiterung. Allerdings ist das Asasel-Motiv wesentlich älter als das jetzige Textstück V 7-11.

 

V 22b.24d.25f sind Textzusätze, die für den jetzigen Zusammenhang, also nicht vorher, verfasst wurden.

 

In V 29-31.32f.34a sind zwei Einheiten abschnittsweise ineinander verschachtelt worden. Am jüngsten sind die Verse 32f, die als Zusatz in die ältere Einheit V 29-31.34a eingefügt wurden. Der Abschnitt V 29-34a ist wiederum jünger gegenüber der älteren Textgruppe V 2aα.3-6.14-22a.23-24c.27f.

 

V 34b rahmt die größere Einheit am Schluss und erweist sich damit als sekundär.

 

Lev 16 hebräisch

 

 

Die ältere Weisung (V 2aα.3-6.14-22a.23-24c.27f)

 

Und der Herr sprach zu Moses: Mit diesem soll Aaron in das Heiligtum hineingehen, mit einem Jungstier, dem Jungen eines Rindes zum Sündopfer, und mit einem Widder zum Brandopfer. Einen heiligen Leibrock von Linnen soll er anziehen und Beinhüllen von Linnen seien an seinem Fleisch und mit einem Gürtel von Linnen umgürte er sich und mit einem Kopfbund von Linnen umwinde er sich, heilige Kleider sind sie; und er soll im Wasser sein Fleisch baden und sie anziehen. Und von der Kultgemeinde der Söhne Israels nehme er zwei Ziegenböcke zum Sündopfer und einen Widder zum Brandopfer. Und Aaron soll den Jungstrier des Sündopfers, den-für-ihn, herzubringen und Sühnung tun für sich und sein Haus. Und er nehme von dem Blut des Jungstiers und sprenge mit seinem Finger vorne auf die Deckplatte nach Osten hin; und vor der Deckplatte sprenge er siebenmal von dem Blut mit seinem Finger. Und er schlachte den Bock des Sündopfers, den-für-das-Volk, und bringe sein Blut hinter den Vorhang und er tue mit seinem Blut, wie er mit dem Blut des Jungstiers getan hat und er sprenge es auf die Deckplatte und vor die Deckplatte. Und er entsündige das Heiligtum von den Unreinheiten der Söhne Israels und von ihren Übertretungen, von allen ihren Sünden; und so tue er mit dem Zelt der Begegnung, das bei ihnen weilt, inmitten ihrer Unreinheiten. Und kein Mensch soll im Zelt der Begegnung sein, wenn er hineingeht, um Sühnung zu tun im Heiligtum, bis er hinausgeht. Und er sühne für sich und für sein Haus und für die ganze Volksgemeinde Israels. Und er soll hinausgehen zu dem Altar, der vor dem Herrn ist, und er entsündige ihn; und er nehme von dem Blut des Jungstieres und von dem Blut des Bockes und gebe es an die Hörner des Altars ringsum, und er sprenge von dem Blut mit seinem Finger siebenmal an ihn und reinige ihn und heilige ihn von den Unreinheiten der Söhne Israels. Und hat er die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der Begegnung und des Altares vollendet, soll er den lebenden Bock herzubringen. Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes und er bekenne auf ihn alle Vergehen der Söhne Israels und alle ihre Übertretungen, alle ihre Sünden; und er gebe sie auf den Kopf und er schicke ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste, und es trage der Bock auf sich alle ihre Vergehen in ein unfruchtbares Land. Und Aaron soll in das Zelt der Begegnung hineingehen und die Kleider von Linnen ausziehen, die er anzog, als er in das Heiligtum hineinging, und sie dort niederlegen; und er soll sein Fleisch im Wasser baden an heiligem Ort und seine Kleider ausziehen; und er soll hinausgehen und er vollziehe sein Brandopfer und das Brandopfer des Volkes. Und den Stier des Sündopfers und den Bock des Sündopfers, deren Blut hineingebracht worden ist, um Sühnung zu tun im Heiligtum, lasse er hinausschaffen außerhalb des Lagers, und man soll im Feuer ihre Häute und ihr Fleisch und ihren Mageninhalt verbrennen. Und der sie verbrennt, soll seine Kleider reinigen und sein Fleisch im Wasser baden; und danach darf er ins Lager kommen.

 

Jüngere Bestimmungen (V 1.2aβb.7-13.22b.24d-26.29-31.32f.34)

 

Und der Herr redete zu Moses nach dem Tod der beiden Söhne Aarons, als sie sich dem Herrn nahten und starben:

 

Rede zu deinem Bruder Aaron, dass er nicht zu jeder Zeit in das Heiligtum hineingehe hinter den Vorhang vor der Deckplatte, die auf der Lade ist, damit er nicht sterbe; denn ich erscheine in der Wolke über der Deckplatte.

 

Und er soll die zwei Böcke nehmen und sie vor den Herrn stellen an den Eingang des Zeltes der Begegnung. Und Aaron gebe Lose über die zwei Böcke, ein Los für den Herrn und ein Los für Asasel. Und Aaron soll den Bock herzubringen, auf welchen das Los für den Herrn gefallen ist, und ihn opfern als Sündopfer. Und der Bock, auf welchen das Los für Asasel gefallen ist, soll lebendig vor den Herrn hingestellt werden, um auf ihm Sühnung zu tun, um ihn zu Asasel fortzuschicken in die Wüste. Und Aaron bringe den Jungstier des Sündopfers, den-für-ihn, herzu und er tue Sühnung für sich und sein Haus und er schlachte den Jungstier des Sündopfers, den-für ihn.

 

Und er nehme ein Feuerbecken voll Glühkohlen von dem Altar vor dem Herrn und seine beiden Hände voll wohlriechenden, feingestoßenen Weihrauchs und bringe es hinter den Vorhang und er gebe den Weihrauch auf das Feuer vor den Herrn, damit die Wolke des Weihrauchs die Deckplatte bedecke, die auf der Vergegenwärtigung ist, und er nicht sterbe.

 

Und er schicke den Bock fort in die Wüste.

 

Und er tue Sühnung für sich und das Volk.

 

Und das Fett des Sündopfers lasse er auf dem Altar in Rauch aufgehen.

 

Und der den Bock zu Asasel fortführte, reinige seine Kleider und er bade sein Fleisch im Wasser und danach darf er ins Lager kommen.

 

Und es sei euch zur ewigen Satzung: Im siebten Monat, am Zehnten des Monats sollt ihr eure Seelen kasteien und keinerlei Arbeit tun, der Eingeborene und der Fremdling, der in eurer Mitte weilt; denn an diesem Tag wird man Sühnung über euch tun, euch zu reinigen. Von allen euren Sünden werdet ihr rein sein vor dem Herrn. Ein Sabbat der Sabbate sei er euch und ihr sollt eure Seelen kasteien, eine ewige Satzung.

 

Und es soll Sühnung tun der Priester, den man salben wird und dem man die Hände füllen wird, um Priester zu sein an seines Vaters statt; und er soll die Kleider von Linnen anziehen, die Kleider des Heiligtums; und er soll die heilige Stätte des Heiligtums entsühnen, und das Zelt der Begegnung und den Altar soll er entsündigen, und für die Priester und für das ganze Volk der Volksgemeinde soll er Sühne tun.

 

Und dies sei euch zur ewigen Satzung, die Söhne Israels zu entsündigen von allen ihren Sünden, einmal im Jahr.

 

Und er tat, wie der Herr Moses beauftragt hatte.

 

Sacherklärungen

 

 

Der Anlass

 

 

Riten des Übergangs

 

 

Die Korporativperson

 

Das englische Recht bestimmt Folgendes: Eine Korporation (Gruppe) kann durch ein repräsentatives Mitglied für vergangene, gegenwärtige und zukünftige Mitglieder wie ein einzelnes Individuum handeln. In der hebräischen Bibel bedeutet sterben, mit seinen Vorfahren vereinigt zu werden (Gen 15,15). Amos kann im 8. Jahrhundert sagen: „Höret, was der Herr wider euch redet, ihr Israeliten, wider alle Geschlechter, die ich aus Ägyptenland geführt habe“ (Am 3,1). Die Makkabäischen Märtyrer identifizieren sich mit der Nation und leiden stellvertretend für sie, damit der Zorn des Herrn zum Stillstand kommt (2 Makk 7,38). Der Gottesknecht ist zugleich der Prophet selbst als auch das Volk, das er repräsentiert (Jes 53,4-6). (H.Wheeler Robinson, The Hebrew Conception of Corporate Personality, in: Werden und Wesen des Alten Testaments, hg. v. P.Volz, F.Stummer u. J.Hempel, Berlin 1936, 49-62).

 

Wenn der Hohepriester für das Volk opfert, handelt er als Korporativperson. Der Priester vermittelt Heil, indem er für das Volk eintritt. (J.Scharbert, Heilsmittler im Alten Testament und im Alten Orient, Quaestiones Disputatae 23f, Freiburg i.Br. 1964, 136-138; Jean de Fraine, Adam et son lignage. Études sur la notion de „personnalité corporativedans la Bible, Brüssel 1959; Adam und seine Nachkommen. Der Begriff der „Korporativen Persönlichkeit“ in der Heiligen Schrift, Übersetzt v. R.Koch u. H.Bausch, Köln 1962, 142).

 

Die hebräische Wurzel kpr

 

Im 19. Jahrhundert wird kippær mit dem arabischen kafara (bedecken) in Verbindung gebracht. Sühne gilt als Zudecken der Schuld.

 

Das akkadische kuppuru (Dopplungsstamm von kapārum) hat die Bedeutung: abwischen, kultisch reinigen. Es geht hier nicht um Sühne, sondern um Reinigung. Dennoch besteht eine Verbindung zum hebräischen kippær.

 

Wer seine beiden Hände auf das Opfertier legt, identifiziert sich mit ihm als einem Zeichen symbolischer Lebenshingabe. Durch die Blutapplikation gibt der Opfernde zeichenhaft sein Leben dem Heiligtum und damit dem Herrn hin. Die Deckplatte der Bundeslade ist Ort Seiner Gegenwart. Hier geschieht Begegnung zwischen Ihm, der sich offenbart, und dem Menschen, der sich hingibt.

 

Der Mensch steht zwischen Leben und Tod. Wer sich versündigt, hat sein Leben verwirkt. Es geht um die Errettung aus Todverfallenheit, die Ermöglichung neuen Lebens durch das Sühnehandeln des Herrn. Die Sühne rettet vor dem Tod. Der Herr selbst, nicht der Mensch, wirkt die Sühne und vergibt die Sünde. Der Priester vollzieht zwar kultisch das Sühneritual, aber der Herr selbst wirkt die Sühne (Lev 4,31). Mit ihr wird der Zusammenhang von Sünde und Unheil aufgehoben. (B.Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 27-102.358f).

 

Das Blut

 

Sünde ist eine Krankheit, die alle Lebensbereiche durchdringt. Der Herr ist Arzt (Ex 15,26), der dem Mangel an Leben durch Zufuhr neuen Lebens abhilft. Dazu dient das Blut, in dem das Leben ist (Lev 17,11). (Notker Füglister, Sühne durch Blut. Zur Bedeutung von Leviticus 17,11, in: Studien zum Pentateuch. Festschrift für Walter Kornfeld, hg. v. G.Braulik, Freiburg i.Br., Basel u. Wien 1977, 143-164, hier 156f).

 

Das Blut wirkt als Sühne; denn es tritt als Lebensträger dem Chaos und Tod der Sünde entgegen. Der Herr ermöglicht den Sieg des Lebens über den Tod und damit die Sühne. (Corinna Körting, Der Schall des Schofar, 163-172).

 

Das Ritual macht eine von Heiligkeit geprägte Gegenwelt zu einer Welt deutlich, die von zerstörerischen Kräften geprägt ist. Die Ehrfurcht vor dem Blut ist Ehrfurcht vor dem Leben. Sühne- und Eliminationsriten sollen vor Sünde, Chaos und Tod bewahren. Allerdings wirken die Rituale nur, wenn Israel den Bund mit dem Herrn hält. (Benedikt Jürgens, Heiligkeit und Versöhnung, 426f).

 

Der Herr selbst gibt das Blut, in dem das Leben ist, für den Altar, damit es Sühne schafft (Lev 17,11). Das Versprengen des Blutes ist eine zeichenhafte Lebenshingabe des Opfernden an das Heiligtum. In der sühnenden Bluthingabe wird dem sündigen, gottfernen Menschen verwirktes Leben zurückgeschenkt und Leben neu ermöglicht. Im Begegnungszelt ist die Sühneplatte der Ort der Begegnung mit dem Herrn. Damit wird Sühne Heilsgeschehen. (Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 11.360f).

 

Das Gebet des Hohenpriesters

 

Der Midrasch überliefert ein Gebet, das der Hohepriester am Versöhnungstag spricht, wenn er das Heiligtum verlässt:

 

Möchte es doch Dein Wille sein, dass dieses Jahr reich an Regen, an Wärme und Tau sei, möge es ein gnaden- und segensreiches Jahr sein, ein Jahr niedriger Preise, ein Jahr der Fülle, ein Jahr des Gebens und Empfangens, und nicht möge in ihm Israel, Dein Volk, von einander in der Not abhängig sein, und nicht mögen sich die Israeliten aus Herrschsucht über einander erheben, und nicht mögest Du das Gebet der Wanderer erhören (die sich schönes Wetter wünschen). (Midrasch Wajiqrā rabbā, Parascha 20, Tel Aviv 1962, 14).

 

Leviticus 16 im Neuen Testament

 

Lev 16 wird im Neuen Testament achtzehnmal angeführt, am häufigsten im Brief an die Hebräer. Im einzelnen sind dies folgende Zitate und Anspielungen:

 

 

Bei diesen Zitaten und Anspielungen wird das Fasten des Versöhnungstages genannt (Apg 27,9), die Reinigung mit Wasser (Hebr 10,22), die Räucherpfanne (Offb 8,5),  das Betreten des Allerheiligsten hinter dem Tempelvorhang (Hebr 6,19; 10,20) und das Verbrennen außerhalb des Lagers (Hebr 13,11).

 

Es wird mehrfach darauf hingewiesen, dass der Hohepriester sich selbst und das Volk immer wieder entsühnen muss, während der Hohepriester Christus ein für allemal Sühne mit Seinem Blut erwirkt hat (Röm 3,25; Hebr 5,3; 7,27; 9,7).

 

Ebla

 

Das erhabene Haus (das Heiligtum) wird auf folgende Weise gereinigt: Eine Ziege mit einem Halsband aus Silber wird in die Steppe freigelassen. (G.Pettinato, in: Rivista degli Studi orientali 70 (1996), 4).

 

Das Babylonische Neujahrsfest

 

Nicht zufällig wird der jüdische Versöhnungstag einige Tage nach dem Neujahrsfest begangen. Es gibt bemerkenswerte Verbindungen zwischen diesen beiden Festen. Zur Illustrierung dieses Sachverhalts wird im Folgenden das Ritual des babylonischen Akitu (Neujahrsfest) geschildert.

 

Von den Vorbereitungen für das Fest am ersten Tag des Monats Nisan (Mitte März) gibt es keine schriftlichen Überlieferungen. Im Britischen Museum (London) und im Louvre (Paris) befinden sich Tontafeln, die den Ablauf vom 2. bis zum 5. Nisan schildern. Der Ablauf der übrigen Tage erfolgt durch Schilderungen des Neujahrsfestes in anderen Städten, die zum Teil aus späterer Zeit stammen, ist also hypothetisch.

 

Am zweiten Tag des Monats Nisan, zwei Stunden vor dem Ende der Nacht, erhebt sich der Oberpriester und wäscht sich mit Wasser aus dem Fluss. Er tritt hin vor Bel, vor den Herrn (bēl) Marduk, zieht den Vorhang vor den Götterstatuen zurück und spricht ein Gebet, in dem er um die Gunst Bels bittet:

 

Herr, deine Wohnung ist Babylon, deine Tiara Borsippa, die weiten Himmel sind die Gesamtheit deines Leibes, mit deinem Blick schenkst du den Mächtigen Gnade, deiner Stadt, Babylon, schenke Gnade, zu deinem Tempel wende dein Antlitz! – Dieses Gebet ist ein Geheimnis (nisirtu mit emphatischem S). Nur der Oberpriester darf es rezitieren.

 

Danach vollzieht sich das übliche Ritual unter Gesang der Kultsänger.

 

Am dritten Tag des Monats Nisan erhebt sich der Priester zwei Stunden vor dem Ende der Nacht, wäscht sich mit Flusswasser, tritt vor Bel hin, zieht den Vorhang vor den Götterstatuen zurück und betet zu Bel. Zum Gesang der Kultsänger vollzieht sich das übliche Ritual.

 

Drei Stunden nach Sonnenaufgang kommen ein Holzbearbeiter, ein Metallbearbeiter, ein Goldschmied und ein Weber, um zwei Statuen aus Zedern- und Tamariskenholz anzufertigen. Dazu werden ihnen aus dem Schatz Marduks kostbare Materialien wie Edelsteine und Gold gegeben. Die eine Statue trägt eine Schlange, die andere einen Skorpion. Die Statuen werden mit roten Gewändern bekleidet. Mit einem Palmzweig sind ihre Lenden umgürtet. Man präsentiert ihnen Schaubrote.

 

Am vierten Tag des Monats Nisan erhebt sich der Priester dreieinhalb Stunden vor dem Ende der Nacht, wäscht sich mit Flusswasser, zieht den Vorhang vor den Götterstatuen zurück, erhebt die Hände zu Bel und bittet für Stadt und Tempel. Dann bittet er Beltia, die Gemahlin Bels, für die Kinder Babylons, die krank sind und leiden, bei Marduk einzutreten.

 

Nach der Abendmahlzeit rezitiert der Oberpriester das Weltschöpfungsepos Enūma eliš:

 

Als oben der Himmel nicht genannt war, unten der Grund noch keinen Namen trug, als Apsu, der Uranfängliche, ihr Erzeuger, und Mutter Tiamat, die Gebärerin aller, ihre Wasser in eins vermischten, als Ried noch nicht entsprossen, Rohrdickicht nicht zu sehen war, als die Götter noch nicht enstanden waren, sie noch unbenannt und Geschicke nicht bestimmt waren, da wurden in der Mitte Apsus und Tiamats Götter geschaffen. Ea zeugt Marduk. Dieser kämpft für die anderen Götter und erhält dafür das Privileg, das Schicksal zu bestimmen. Die Menschen werden erschaffen und Marduk erhält von den Göttern einen Tempel in Babylon.

 

Das Gesicht und die Tiara Anus und der Thron Enlils werden bedeckt.

 

Am fünften Tag des Monats Nisan erhebt sich der Priester vier Stunden vor Ende der Nacht, wäscht sich mit Wasser der Flüsse Tigris und Euphrat, tritt vor Bel hin, zieht den Vorhang vor den Götterstatuen zurück und spricht vor Bel und Beltia ein Gebet, in dem er die Gunst der Sterne erfleht. Die Priester vollziehen das übliche Ritual und die Kultsänger singen dazu.

 

Zwei Stunden nach Sonnenaufgang ruft der Priester einen Beschwörungspriester, der den Tempel reinigen soll. Mit Wasser aus den Zisternen für Tigris- und Euphratweasser besprengt der Beschwörungspriester den Tempel. Er stellt den Weihrauchspender in die Mitte des Tempels, betritt aber nicht das Heiligtum von Bel und Beltia.

 

Nach der Reinigung dieses Tempels geht der Beschwörungspriester in das Heiligtum Nabus und besprengt es mit Tigris- und Euphratwasser. Er berührt alle Türflügel des Heiligtums mit Zedernöl und verbrennt Weihrauch. Der Schwertträger enthauptet ein Schaf. Der Beschwörungspriester wischt mit dem Rumpf des Schafes den Tempel ab (ukappar). Er rezitiert Sprüche, um böse Geister aus dem Tempel zu vertreiben. Die große Kesselpauke wird geschlagen.

 

Er stellt im Tempel ein Weihrauchgefäß auf und wirft dann den Körper des Schafes in den Fluss. Der Beschwörungspriester und der Schwertträger nehmen den Kopf des Schafes mit sich, gehen aufs Land und bleiben dort, solange Nabu in Babylon ist, nämlich vom 5. bis zum 12. Tag. Wenn der Oberpriester selbst die Reinigung vollzöge, würde er dadurch kultunfähig.

 

Drei Stunden nach Sonnenaufgang verlässt der Priester das Heiligtum und ruft alle Kunsthandwerker. Sie bringen aus dem Schatzhaus Marduks die goldene Verkleidung und bedecken das Heiligtum Nabus innen bis zu den Fundamenten, sodass ein goldener Himmel entsteht. Der Priester und die Kunsthandwerker bitten in einer Beschwörung, Marduk möge den Tempel reinigen und das Schicksal bestimmen.

 

Zu dieser Stunde setzt der Priester geröstetes Fleisch, Brote, Salz, Honig und Wein auf einer goldenen Platte vor Bel. Davor stellt er das Weihrauchgefäß mit Zypressenaroma und stellt Wein hinzu. Dann spricht er folgendes Gebet: Marduk, Oberster der Götter, du hast die Gesetze geschaffen. Wende dein Herz gegen die, welche deine Hand berühren, hier in diesem Heiligtum, dem Haus des Gebetes.

 

Danach bringt er den Tisch mit den Speisen und Getränken den Kunsthandwerkern, welche ihn Nabu vorsetzen. Sie bringen Wasser, damit sich der König die Hände waschen kann, und führen ihn in den Tempel. Darauf gehen die Kunsthandwerker zur Pforte.

 

Der König tritt vor Bel, der Oberpriester kommt aus dem Heiligtum und nimmt dem König Szepter, Ring und Götterwaffe, eine gezähnte Sichel, ab, er nimmt aus dem Händen des Königs die Tiara entgegen und legt diese Gegenstände auf einen Sitz vor Bel. Der Oberpriester verlässt das Heiligtum, gibt dem König eine Ohrfeige und zerrt ihn an den Ohren zur Erde.

 

Der König spricht kniend: Ich habe nicht gesündigt, o Herr der Gegensätze, ich war nicht nachlässig gegenüber deiner Gottheit. Ich habe Babylon nicht zerstört, ich habe die Riten nicht vergessen. Ich habe Bittsteller nicht geohrfeigt und sie nicht gedemütigt. Ich sorge für Babylon und habe seine Mauern nicht geschleift.

 

Der Oberpriester versichert ihm: Sei ohne Furcht; denn Bel wird dein Gebet erhören, deine Souveränität garantieren und dein Königtum erhöhen. Bel wird dich allezeit segnen und deine Feinde vernichten.

 

Danach empfängt der König wiederum die Zeichen seiner Macht. Der Priester ohrfeigt den König zum zweiten Mal. Wenn der König nach der Ohrfeige weint, ist Bel wohlgesonnen, weint er nicht, ist Bel zornig: Der Feind wird sich erheben und den Fall des Königs herbeiführen.

 

Vierzig Minuten nach Sonnenuntergang bindet der Priester mit einem Palmzweig vierzig Schilfrohre aneinander, je drei Ellen lang, unzerbrochen und gerade. Er gräbt im Innenhof einen Graben und wirft die Schilfrohre hinein. Er stellt einen weißen Stier vor den Graben. Der König entzündet im Graben inmitten der Schilfrohre eine Flamme. König und Priester sprechen das folgende Gebet: O göttlicher Stier, leuchtende Flamme, welche die Dunkelheit erhellt, Stier, brennend vor Anu. (Britisches Museum, London, DT 15.109.114; Louvre, Paris, MNB 1848, in: F.Thureau-Dangin, Rituels accadiens, Paris 1921, 149-154).

 

Man zieht zur Anlegestelle des Schiffes von Nabu, um dort Opfer darzubringen. Nabu, der Sohn Marduks, verlässt seinen Tempel in Borsippa und fährt, begleitet von Göttinnen, mit dem Schiff nach Babylon. Ein Kanal verbindet beide Städte. An jeder Meile des Weges werden Feuer angezündet (VAT = Vorderasiatisches Museum, Tontafel 1384+, Berlin, Pergamonmuseum).

 

Am sechsten Tag des Monats Nisan findet eine Prozession Nabus vom Uraš-Tor zum Tempel des Ninurta statt. Bei seiner Ankunft werden die beiden angefertigten Statuen durch den zeremoniellen Schwertträger enthauptet, gefesselt zum Tempel getragen und vor Nabu ins Feuer geworfen. Der weiße Stier wird geschlachtet. Nabu ist der Gott der Schreibkunst und der Patron der Schreiber. Marduk hat ihm die Schicksalstafeln zur Aufbewahrung gegeben. Durch diese Tafeln hat Nabu einen besonderen Einblick in die Geschicke der Welt. Deshalb kann ohne ihn das Neujahrsfest nicht stattfinden. An den ersten fünf Tagen des Monats Nisan wird seine Ankunft feierlich vorbereitet.

 

Ein zum Tode verurteilter Gefangener wird in den Festtagen auf den Königsthron gesetzt und in ein herrschaftliches Gewand gekleidet. Ein  Ring wird ihm an den Finger gesteckt und ein Szepter in die Hand gegeben. Er darf nach Belieben kommandieren, schwelgen und trinken. Schließlich wird er entkleidet, gegeißelt und aufgehängt. Dies ist ein Ersatzopfer für den König.

 

Möglicherweise werden am siebten Tag des Monats Nisan die Götterstatuen nach einer rituellen Reinigung feierlich neu eingekleidet.

 

Am achten Tag des Monats Nisan werden die Geschicke des Landes vorhergesagt.

 

Es folgt die Aufführung eines Festspiels, in der Bel erniedrigt wird und leidet. Er sinkt zur Unterwelt hinab, wird verhört, geschlagen, verwundet und seiner Kleider beraubt. Darauf wird er in den finsteren Weltenberg eingeschlossen. Wächter werden vor das Grab gestellt. Zugleich wird ein Verbrecher abgeführt und hingerichtet. Beltija fleht zum Sonnen- und Mondgott um das Leben ihres Gatten. Suchend geht sie ihm nach bis zur Begräbnisstätte. Dann ersteht Bel aus dem Grabe.

 

Am neunten Tag des Monats Nisan beginnt die Prozession der Götter aus dem Tempel zum nördlich der Stadt gelegenen Neujahrsfesthaus (Akituhaus) vor der Stadt. Der König erfasst die Hand des Gottes Marduk, um ihn zu bitten, sich zu erheben. Daraufhin verlassen die Götter den Tempel, begleitet von der betenden, musizierenden und Weihrauch spendenden Priesterschaft. Marduk und der König ziehen voran. Ihnen folgen die Götter auf reichgeschmückten Thronen unter lebhafter Teilnahme der Bewohner und Gäste Babylons. Der Weg wird teilweise zu Land und teilweise auf einem Kanal zurückgelegt.

 

Am zehnten Tag des Monats Nisan bringt der König Opfer dar. Der König vollzieht mit Ištar, die durch deren Tempeloberpriesterin vertreten wird, die Heilige Hochzeit, im Hinblick auf Fruchtbarkeit für das Neue Jahr.

 

Am elften Tag des Monats Nisan zieht die Prozession zu Lande zurück in die Stadt.

 

Am zwölften Tag des Monats Nisan kehrt Nabu nach Borsippa zurück.

 

Das Neujahrsfest ist ein jährliches Gedenken der Weltschöpfung. Daher wird Enuma eliš rezitiert.

 

Der jüdische Versöhnungstag wird am zehnten Tischri gefeiert, dem alten Tag des Neujahrsfestes. Daher gibt es mehrere Parallelen zwischen dem jüdischen Versöhnungstag und dem babylonischen Neujahrsfest. Erst später wird das jüdische Neujahrsfest auf den ersten Tischri verschoben.

 

Die rituelle Reinigung des Tempels erfolgt in Babylon durch Abwischen der Unreinheit, beim jüdischen Versöhnungsfest, wie es in Lev 16 geschildert wird, durch Sühne. Siehe auch J.Morgenstern, The Doctrine of Sin in the Babylonian Religion, 44.

 

Die Erniedrigung und das Leiden Marduks (Bels) werden symbolisch am König nachvollzogen.

 

Glück und Wohlergehen für das Neue Jahr werden in Babylon durch Erniedrigung und negatives Schuldbekenntnis des Königs, Vorhersage des Schicksals durch Lose und die Heilige Hochzeit angezielt. Im Midrasch zu Lev 16 bittet der Hohepriester um ein gutes Neues Jahr.

 

Der Ersatzkönigritus in Mesopotamien

 

Neuassyrische Briefe aus der Regierungszeit Asarhaddons (680-669) sprechen von einem Ersatzkönig: Wenn es böse Vorzeichen gibt, zum Beispiel Finsternisse, die den König bedrohen, wird ein Ersatzkönig (šar pūchi) eingesetzt, der die Gefährdung als fiktiver König auf sich nehmen (machāru) soll. Während der hundert Tage der Regentschaft des Ersatzkönigs verbirgt sich der wahre König im Palast. An ihm wird eine Scherung (gallābūtu) vorgenommen. Dabei handelt es sich um einen eliminatorischen Ritus.

 

Der Priester spricht zu ihm: Deine Übel nimm mit dir hinab in das Land ohne Wiederkehr! Darauf wird der Ersatzkönig zu seinem Schicksal gehen (ana šīmtišu alāku). Thron, Tafel, Waffe und Szepter des Ersatzkönigs werden vor dem Sonnengott verbrannt. Die Asche davon wird zu Häupten des Ersatzkönigs und seiner Palastfrau, die ihm als Totenbegleitung gefolgt ist, vergraben.

 

Die bösen Vorzeichen treffen nicht den wahren König, der während der Zeit des Ersatzkönigs „Bauer“ genannt wird. Der König bleibt also am Leben und sein Land gedeiht. (Assyrian and Babylonian Letters Belonging to the Kouyunjik Collection of the British Museum 437).

 

Hethitische Ersatzkönigrituale

 

Aus der Zeit der Šuppiluliuma-Dynastie zwischen Muršili II. und Chattušili III., also etwa zwischen 1350 und 1250 vor Christus, stammen folgende königliche Ersatzrituale:

 

Wenn es Nacht wird, geht der König zum Hügel des Mondgottes und spricht folgendermaßen: Siehe, weswegen ich zum Gebet gekommen bin, höre mich, Mondgott, mein Herr! Du hast Vorzeichen gegeben: Falls Du damit Böses angekündigt hast, so habe ich Substitute (tarpalli) an meiner Stelle gegeben. Nun nimm diese, mich aber lass frei! Dann treibt man einen Stier auf die Opferhöhe (charpa) hinauf und opfert ihn dort. Der König steigt hinauf und spricht: Siehe, ich habe diesen Ersatz dargebracht. Er ist gestorben; möge ich nicht sterben!

 

Dann führt man einen Gefangenen herbei und salbt ihn mit dem Feinöl des Königtums. Der König spricht: Siehe, dieser ist König! Den Namen des Kölnigtums habe ich diesem beigelegt, das Gewand des Körpers ihm angezogen und das Diadem ihm aufgesetzt. Nun, böse Vorzeichen, kurze Lebensjahre, geht diesem Ersatz nach. Ein Offizier bringt den Gefangenen zurück in sein Land. Der König erhebt bittend seine Hände zur Gottheit, zieht sich nackt aus, wäscht sich und kleidet sich in andere Festgewänder. Er spricht: Nimm den Ersatz, den ich Dir gegeben habe, mich aber lass frei! Ich will den Sonnengott des Himmels weiterhin mit meinen Augen sehen. (Keilschrifturkunden aus Boghazköi 9,13; 14,14; 15,7; 25,5; 36,92-94).

 

Man macht ein Kultzelt (kippa) und darin ein Ersatzbild (šena) aus Holz, die Augen mit Gold belegt, mit Ohrringen aus Gold. Ihm zieht man Königsgewänder an. Man opfert täglich ein Schaf, der König isst täglich davon und auch dem Ersatzbild stellt man täglich Bissen hin.

 

An dem Tag, an welchem der Kriegsgefangene den König wegschickt, spricht der König: Dieser ist der lebendige oberirdische Ersatz für mich, dieses Ersatzbild aber ist der unterirdische Ersatz für mich. Wenn nun ihr oberirdischen Götter mich wegen irgendetwas Bösem heimgesucht und mir Tage, Monate und Jahre der Lebenszeit verkürzt habt, so soll für mich dieser lebendige Ersatzmann an die Stelle treten. Wenn mich aber die Sonnengottheit der Erde und ihr unterirdischen Götter wegen irgendetwas Bösem heimgesucht habt, so soll für mich und das ganze Volk dieses Ersatzbild an die Stelle treten.

 

Der wahre König darf nicht mehr mit seinem Titel genannt werden und man vollzieht am neuen König die Zeremonien des Königtums. Ihm dienen Verwalter, Köche, Bäcker und Kammerdiener. Sie geben ihm zu essen und zu trinken. Der neue König sitzt auf dem Platze des wahren Königs. Er stirbt am siebten Tage.

 

Am achten Tage werden Samenkörner an den Türen hier und dort hingeschüttet. Reinheitswasser wird hier und dort gesprengt, dann wird die Türversiegelungsbeschwörung rezitiert. (Keilschrifturkunden aus Boghazköi 15,2).

 

Die hethitischen Ersatzkönigrituale haben babylonische Vorbilder als Grundlage, die in ihrer ursprünglichen Fassung nicht mehr erhalten sind. Im Unterschied zum babylonischen Ritus weisen die hethitischen Riten einen eliminatorischen Ritus vom Sündenbock-Typ auf, da der Ersatzkönig ja in das feindliche Ausland gebracht wird. Der Ersatzkönig schafft also alles Böse weg, damit die Götter dem wahren König wieder wohlgesonnen seien.

 

Von hier aus fällt Licht auf den Ritus in Lev 16,10.21f: Der Bock trägt das Unheil, Übel, die Unreinheit hinweg, nicht die Sünde. Bei dem Sündenbekenntnis handelt es sich um die Ethisierung eines archaischen Ritus’.

 

Ersatzritual, Ersatzopfer und Eliminationsritus

 

 

Opfer für das Leben

 

In der Frühzeit ist das Opfer eine Wiedergutmachung, eine Rückgabe an den Herrn oder die Herrin des Lebens. Zugleich wird damit eine Ordnung anerkannt, eine höhere Macht. Beim Töten im Rahmen des Opfers geht es um eine Bestätigung des Lebens aus dem Tod, um ein stellvertretendes Sterben, damit andere leben (Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers, 23-35).

 

Gotteszorn oder Menschenzorn?

 

Der Literaturhistoriker René Girard ging davon aus, dass Rivalität die Hauptquelle zwischenmenschlicher Gewalt sei. Diese tobe sich an einem willkürlich gewählten Opfer ab. So baue der Sündenbock Spannungen in der Gesellschaft ab. (Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen, 26; Das Ende der Gewalt, 45).

 

Diese Interpretation setzte die These von der Gesellschaft als Ursprung religiöser Vorstellungen voraus (Émile Durkheim). Im Hintergrund stand außerdem Freuds Urmord-These und die Aggressionstheorie von Lorenz. Raymund Schwager bezieht den Urmord auf die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain (Gen 4,8; R.Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock?, München 1978, 98).

 

Der Sündenbock soll den Gotteszorn auffangen, bei Girard aber soll er den Menschenzorn auffangen. Gegen die These vom Urvatermord spricht, dass der Ödipuskomplex mit dem patriarchalischen Familientypus verknüpft, also nicht naturgegeben ist. Es geht nicht um einen innerweltlichen und binnensozialen Gewaltausgleich, sondern um eine Gabe von einem Höheren. (Arnold Angenendt, Die Revolution des geistigen Opfers, 12.82.88).

 

Das Ende des Opferkults

 

Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus durch Titus traten das Gebet, Torah-Studium, Fasten und Almosengeben an die Stelle der Opfer.Damit entfernte sich die religiöse Praxis vom Grundsatz des ex opere operato (der im Vollzug garantierten Wirksamkeit; das Wort Opfer kommt von operari). Jetzt kommt es dem einzelnen zu, die Verbindung mit dem Göttlichen zu beleben (Guy G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults, 101f).

 

 

Quellen

 

 

Weiterführende Literatur

 

 

 

Diese Diplomarbeit aus dem Jahre 1975 wurde für die Veröffentlichung aktualisiert und thematisch erweitert.

 

 

Hauptseite