Tomás Špidlík

Die Aktualität der russischen Spiritualität

 

aus dem Französischen übersetzt und mit zusätzlichen Anmerkungen in [...] versehen von Klaus Bambauer

 

 

Existiert eine russische Spiritualität?

 

Ich erwähne zunächst einen Zweifel, der von dem großen Pionier der östlichen Spiritualität, I.Hausherr, stammt. Als ich ihm meine Vorstellung erklärte, mich der russischen Spiritualität zu widmen, zeigte er sich skeptisch. Die slawischen Völker, sagte er zu mir, wurden sehr spät getauft, als die ursprünglichen Ideen der christlichen Spiritualität schon gebildet waren. Von diesem Gesichtspunkt aus ist ihr Beitrag zur Religion nicht von Wichtigkeit.

 

Dies ist ganz das Gegenteil dessen, was W.Solowjew versichert hat. Als dieser Autor beginnt, über den "russischen Gedanken" zu reflektieren, stellt er fest: "Viele betrachten diese Frage als nutzlos, andere finden sie gefährlich, aber sie ist wahrhaftig am wichtigsten für einen Russen und sie sollte außerhalb Russlands das Interesse aller ernsthaften Geister erwecken" (1). Welches sind seine Argumente? Wir wissen von dem, was die großen Völker Europas der universellen Kirche gegeben haben. Wir kennen noch nicht die Rolle der Russen auf diesem Gebiet. Gewiss ist ihnen eine besondere Berufung in der Geschichte vorbehalten. Es ist deshalb richtig sich zu fragen "welches das Ideal ist, das einen ebenso mächtigen Organismus beseelt, was ist das Wort, das dieses Volk, ganz kürzlich geboren, zur Menschheit sagen müsste"? (2)

 

Aber eine andere Frage: Wer sind die Russen? Das Adjektiv "russisch" ist selbst zweideutig: das große Reich der Zaren umfasste die Ukrainer, die Weißrussen und selbst die Polen, Finnen, ohne alle die sehr kleinen russifizierten Völker und die nach den Kriegen angegliederten Länder zu rechnen.

Mit Recht warnt Tschischewskij vor allen Arten von Vereinfachungen, die aus der "russischen Idee" die Frucht einer illusorischen Ideologie machten (3). Deshalb begibt er sich daran, Russland den Fremden darzustellen, die verschiedenen spirituellen Bewegungen zu beschreiben, die sich in den russischen Ländern abwechselten, sodass er es dem Leser überlässt, sich seine eigene "Idee" über die russische Spiritualität als solche zu bilden.

 

Nun will ich das Gleiche tun. In einem sehr beschränkten Umfang will ich eine Wahl anbieten zwischen den Ideen, die ich als die wichtigsten oder als die ansprechendsten betrachte.

Eines erstaunt mich im besonderen stark: die Antinomie zwischen dem kollektiven Traditionalismus und der persönlichen schöpferischen Freiheit.

 

Die traditionelle Spiritualität

 

In der Vergangenheit zeigte sich die russische Welt den westlichen Ländern als außergewöhnlich traditionell. "Die Apostel, die Väter, die Konzilien habe so gelehrt". Dies ist eine gewachsene, fast magische Formulierung, um eine spirituelle Lehre darzubieten. Nach dem russischen Autor P.Evdokimow kann die Idee der Kontinuität der Übertragung des spirituellen Lebens sich mit einem heiligen Wort ausdrücken: der Tradition (4).

 

Bezeichnet aber Tradition automatisch Traditionalismus? Die Bücher, die Riten, die Gebräuche der Vergangenheit besaßen tatsächlich eine große Kraft im Leben und folglich gab es in der russischen Geschichte Formen einer trocken entwickelten Mentalität, die folglich von einer Unbeweglichkeit der Institutionen [bestimmt war]. Es wäre unterdessen ungerecht, diese Mentalität als die glaubwürdigste Spiritualität dieses Volkes zu betrachten. Evdokimow verteidigt die Tradition, aber er stellt sie unterschiedlich dar: sie ist lebendig wie eine ständig einberufene Synode des Volkes Gottes (5). Dies ist es auch, was ein anderer Laientheologe, A.S.Chomjakow, versichert: die Tradition ist "die heilige unsterbliche Kirche, der lebendige Tabernakel des göttlichen Geistes, in seinem Herzen Christus tragend", die Gemeinschaft der Gläubigen, handelnd durch gegenseitige Liebe (6).

 

Man könnte hier die Zuflucht zu der Erklärung einer psychologischen Ordnung vorschlagen. In gutem Latein heißt es formosum [wohlgestaltet]. Die Entwicklung lässt sich wie von einer Form zu einer besseren Form übergehend vorstellen, eine Reform oder eine Umstrukturierung. Im Gegensatz dazu ist im Altslawischen das Wort, das dem Schönen entspricht, krasnyj, ein Wort, das in der gegenwärtigen russischen Sprache rot bedeutet. Dieser Mentalität entsprechend, gestaltet sich die Entwicklung der russischen Ikonen nicht durch die Entwicklung von Formen, sondern durch die Nuancen der Farben und besonders des Lichtes. Das Gleiche gilt für das Leben. Die Russen schätzen es nicht, die äußeren Formen zu ändern, aber sie verstehen, dass das, was sich ändern muss, die Haltung ihnen gegenüber ist, und manchmal sind sie zu radikalen Veränderungen fähig.

 

Eine große Veränderung der Haltung hat sich genau in diesem Übergang von der trockenen Mentalität zu einer Hinwendung zur Person ergeben, des rituellen Traditionalismus zum Personalismus.

 

Die Person

 

Worin besteht die Würde des Menschen? Die Väter sind darüber einer Meinung: der Mensch ist das Bild Gottes. Dieses ist seine wahre "Natur", die Natur des vergöttlichten Seins. Indem sie über diese Offenbarung reflektierten, hoben die Autoren verschiedene Aspekte dieser Natur hervor. Aber bei den modernen russischen Schriftstellern bemerkt man eine neue Idee. Sie wenden sich weniger den Vorrechten der menschlichen "Natur" zu als der Tatsache, dass der Mensch [als] "Person" Bild des persönlichen Gottes ist: ein Privileg, das die einfache Frage der "Natur" hinter sich lässt. Die Vertreter des russischen "Personalismus" sind zahlreich (7). Der bekannteste ist ohne Zweifel Berdjajew, der versichert hat, dass "die ganze Welt nichts ist gegenüber der menschlichen Person, gegenüber dem, was einzigartig in einem menschlichen Antlitz ist" (8).

 

Man muss bei den alten Griechen das Verdienst wiedererkennen, die gemeinsame "Natur" der Menschen vertieft und entdeckt zu haben, die [=Natur] sich durch allgemeine Gesetze ausdrückt, was zu dem Ideal der Sehnsucht führt, "gemäß der Natur zu leben", gemäß den Prinzipien, die die ganze Welt regieren. Die Unterwerfung des Menschen unter "natürliche" Prinzipien erscheint am Anfang des Christentums wie heilig und wünschenswert. Aber später bemerkt man negative Verwicklungen dieser moralischen Regeln, die keine Ausnahmen kennen und die von dieser Tatsache [etwas] verkleinern oder die Freiheit zerstören. Man kann dies nachweisen in den Schriften von Boethius. Er urteilt, dass der Mensch wesentlich "Natur" ist, aber durch das Geschenk Gottes ist er eine privilegierte Natur, mit Vernunft und mit Freiheit versehen, die ihn zur "Person" werden lassen. Von dorther die berühmte Definition: "Die Person ist eine individuelle Substanz von vernünftiger Natur" (9).

 

Person zu sein könnte auch bedeuten: sich gewisser Ausnahmen in der natürlichen Ordnung der Welt zu erfreuen. Diese Vorstellung wird in der Philosophie bis zur modernen Epoche bleiben. Es genügt, die Geschichte zu betrachten: Europa folgt einer doppelten Bewegung. Auf der einen Seite strebt die Gesellschaft dahin, sich nach universellen Gesetzen zu organisieren; auf der anderen Seite bemerkt man in dieser gleichen Gesellschaft, dass die Individuen für ihre Freiheit kämpfen müssen. Wohl bewusst des Widerspruches dieser Tendenzen, suchte Europa Kompromisse zwischen einer begrenzten Ordnung und einer gewissen begrenzten Freiheit zu finden. Die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen wechseln kontinuierlich.

 

Angesichts des Scheiterns dieser Kompromisse schlagen die russischen Denker eine andere Annäherung an das gleiche Problem vor: Man muss nicht von der Natur zur Person gehen, sondern im Gegenteil, von der Person zur Natur, ganz wie die Dogmatik, wenn sie das Mysterium der göttlichen Trinität behandelt.

 

Was ist die Person? Nach allgemeinem Verständnis die wesentliche Eigenschaft, die es erlaubt zu versichern: die Person ist die Freiheit. Aber um welche Freiheit handelt es sich? Nach aristotelischer Vorstellung tritt Gott, das vollkommen freie Sein nicht in die Beziehung zur Welt ein, er liebt niemanden außer sich selbst. Im Gegensatz zu dieser Theorie liebt der Gott der Christen die Menschen, und deshalb sagt man "Unser Vater im Himmel". Die Freiheit, versichert Berdjajew, verwirklicht sich in den Beziehungen der Liebe, sie muss agapisch ein, um die Persönlichkeit zu schaffen. "Ich" und "Wir" schließt ein anderer russischer Autor, Frank, sind die ersten Kategorien des persönlichen Seins. Nun, das "Ich" ist unmöglich, wenn es nicht vor einem "Du" steht, doch es könnte sich ein einfacher Widerspruch zwischen dem Ich und dem Du herausbilden. Ein solcher Widerspruch ist gerade durch das "Wir" überholt. Tu es ergo sum, sagte V.Iwanow (10).

 

Außerdem müssen die menschlichen Beziehungen teilnehmen an den Beziehungen der Liebe, die die göttlichen Personen im trinitarischen Leben begründen: die freien Beziehungen, die sich in der absoluten Natur des einen Gottes verwirklichen. Dies geschieht, wenn die Freiheit und die Notwendigkeit sich nicht mehr ausschließen. Diese "neue Freiheit" wollte Berdjajew der modernen Welt vorschlagen. Es ist von Interesse festzustellen, dass er selbst nichts anderes tun wollte als zu erklären, was er von Dostojewskij gelernt hatte, den er als einen der größten Denker der Freiheit in unserer Zeit betrachtete [11].

 

Dostojewskij, Prophet der Freiheit

 

Der Gedanke Dostojewskijs wird vor allem in seinen Romanen ausgedrückt, aber manchmal auch in seinem Tagebuch, das genaue Reflektionen liefert. Man muss, um seinen Gedanken über die Freiheit in systematischer Gestalt darzustellen, die verschiedenen Feststellungen hinsichtlich seiner Intuition erfassen und sammeln, um die Verbindung wahrzunehmen, die zwischen ihnen existiert (12). Die Vorstellung der Freiheit bei Dostojewskij ist in hohem Maße dynamisch. Der Mensch sucht auf alle möglichen Arten und um jeden Preis frei zu werden. Welches sind die Charakteristika der Freiheit, die er so wesentlich für den Menschen einfordert?

 

Eine der ersten Charakteristika der Freiheit ist die Unbegrenztheit. Jede Begrenzung wird wie ein Angriff auf die Würde der Person empfunden. Aber dieser unbegrenzte Charakter bringt die gute Ordnung des Lebens und der Gesellschaft in Gefahr. Es scheint doch, dass, um großen Unglücken vorzubeugen, man gezwungen ist, der Freiheit Grenzen zu setzen. Das ist die Lösung, welche die Persönlichkeit des Großinquisitors in den Brüdern Karamasow als Frucht seiner langen Erfahrung mit den Menschen ausdrückt. Aber vor dieser Art von Argumenten verstummt Christus: er ist an der Seite der absoluten, grenzenlosen Freiheit.

 

Die Freiheit ist auch irrational, metalogisch. Die Philosophen der Aufklärung glaubten, dass der Mensch im Hinblick darauf, dass er Vernunft besitzt, nach dieser oder jener Weise handelt. Aber der Mensch, bemerkt Dostojewskij, folgt nicht der Logik der Vernunft, er zieht es vor, wahnsinnig zu sein unter der Voraussetzung, dass er frei sei.

 

Die Freiheit ist dämonisch. Alle diejenigen, die gewünscht haben, dem Weg einer unbegrenzten Freiheit zu folgen, haben sich an dieser Feststellung den Kopf stoßen müssen: ihr Leben steuerte darauf hin, das Maß der sterblichen Menschen zu überschreiten. Sie sind wie "Dämonen" geworden und haben ein tragisches Ende erlitten. In der Geschichte der Familie Karamasow des berühmten Romans weist der Vater es zurück, dem sexuellen Leben Grenzen zu setzen und er endet, indem er durch seinen eigenen Sohn getötet wird. Der Sohn Iwan läßt es nicht zu, seine Gefühle in Schach zu halten, und er wird wahnsinnig. Dimitrij, gelenkt durch seine unkontrollierbaren Leidenschaften, endet im Gefängnis. Dies ist das Ergebnis, wohin der Dämon der Freiheit führt. Er befreit den Menschen, aber um ihn zu zerstören. Ist eine andere, positivere Vision möglich?

 

Dostojewskij fügt hinzu, dass die Freiheit christologisch ist. Um wahrhaft frei zu sein, muss man wirklich die Grenzen des Menschlichen überschreiten, doch es geschieht, um "göttlich" zu werden. Der Mensch hat diese Möglichkeit, wenn er die dämonische Besessenheit zurückweist und wenn er sich mit Jesus Christus identifiziert. Ein solcher Mensch ist ganz "vergöttlicht", indem er sich wie ein Mensch vervollkommnet. Dies ist dargestellt durch den Jüngsten der Brüder Karamasow, Aljoscha, den einzigen freien Menschen inmitten von Menschen, die einander in die Sklaverei führen.

 

Die schöpferische Freiheit nach Berdjajew

 

Dostojewskij hat auf seine Weise diese Vorstellung der Freiheit ausgedrückt, die charakteristisch für die russischen Denker bleibt: die Freiheit ist metanomisch, metalogisch, gott-menschlich. Berdjajew fügt hinzu: sie muss schöpferisch sein. Sie leitet den Menschen zu Christus, der sich nicht mit jedem statischen Gesetz identifizieren kann, abstrakt auf alle Fälle anwendbar. Diese Schlussfolgerung könnte zum Relativismus führen; aber Berdjajew vermeidet es, indem er versichert, dass jede schöpferische Entwicklung ihre Lösung nur in Christus findet (13).

 

S.Frank entwickelt den Gedanken Berdjajews, indem er seine offenkundigste Anwendung analysiert: die künstlerische Schöpfung (14). Wenn der Schöpfer uns nach seinem Bild geschaffen hat (Gen 1, 26f), bedeutet dies, dass auch wir schaffen können und müssen. Die Künstler suchen soviel "Originalität", weil sie sich mit dem identifizieren, was sie tun. Nun, wie entsteht ein Kunstwerk? Man sagt, dass die Künstler "sich selbst ausdrücken" wollen, ihre Idee "inkarnieren". Diese Meinung widerspricht jedoch ihren eigenen Zeugnissen. Sie sprechen von einer Inspiration, die ihnen von einer Muse zukam, von einem nicht-menschlichen Geist. Der Künstler hört die Stimme dieses Geistes, identifiziert sich mit ihm und erzeugt sein Werk.

 

Es stellt sich ein moralisches Problem: wird nicht der Künstler im Hören auf die Stimme eines "anderen" - Sklave seiner Inspiration und seiner Kunst? Verliert er nicht seine eigene Freiheit und seine Persönlichkeit? Um eine bestimmte Antwort auf diese Frage zu geben, muss man fragen, wer dieser "andere" ist, dessen Stimme der Künstler hört, als ob es seine eigene sei. Die Spur zur Antwort findet sich in einem Ausdruck Dostojewskijs über die Schönheit: "Dort kämpft der Teufel mit Gott".

 

Gemäß der Lehre der Väter kommen die Inspirationen des Teufels "von außen", sie sind für unser Herz äußerlich, und deshalb zerstören sie die Freiheit. Im Gegensatz dazu sind die göttlichen Inspirationen innerlich, sie kommen vom Herzen, von dort, wo der Heilige Geist wohnt, sie befreien die menschlichen Fähigkeiten. Deshalb [ist] die Lösung: die wahre Kunst ist immer eine spirituelle Kunst, falsche Kunst ist eine "Besessenheit"" des Bösen. Logisch schließt sich seine Überlegung an, die versichert, dass die Schönheit die Welt retten wird (15). Die Künstler haben die Bestimmung, die Welt durch die spirituelle Vision zu verklären, weshalb die Ikonographen immer mit dem Malen des Bildes der Verklärung auf dem Berg Tabor begannen. Gegen das Ende des letzten Jahrhunderts war es, dass gewisse russische Denker bei dieser Feststellung angekommen sind: sind nicht der Glaube und die Kultur zwei Manifestationen des gleichen Geistes, alle beide notwendig? (16) Puschkin und der hl. Seraphim von Sarow, schreibt Berdjajew, waren Zeitgenossen. "Es wäre nicht nützlich, den einen durch den anderen zu ersetzen, die Vorsehung hat sie beide gesandt" (17).

 

Das Buch von A.M.Bucharew, Die Beziehung der Orthodoxie gegenüber der zeitgenössischen Epoche (18) entwickelt genau diese Idee: Indem Gott sich inkarniert, nimmt er die menschliche Natur an, ist er im ganzen menschlichen Leben gegenwärtig, in seinen religiösen und kulturellen Aspekten; das kulturelle Schöpfertum verhindern bedeutet, "die Liturgie des Geistes und des Herzens zu begrenzen". W.Iwanow, der mit Eifer die alten Kulturen studierte, stellte traurig fest, dass fast alle tot sind.

 

Fortsetzung