Die Aktualität der russischen Spiritualität 2, T.Špidlík

 

 

Das Herz

 

Wenn man es auf den ersten Platz der menschlichen Persönlichkeit setzt, stellt sich das erkenntnistheoretische Problem unmittelbar: die Dinge kennen wir durch die Sinne und durch die Vernunft. Wie lernt man die Persönlichkeit kennen? Die Antwort der Russen ist deutlich: es geschieht durch das Herz, wie wir die Menschen erkennen.

 

Was ein Mensch ist, ist er in seinem Herzen. Ich erinnere mich an einen in Paris lebenden Russen. Er hatte bei mir die italienische Übersetzung der berühmten Philokalie gesehen und war erfreut, dass man nun auch im Westen Texte der östlichen Spiritualität schätzt. Er fügte jedoch mit skeptischer Manier hinzu: "Sie lesen die gleichen Texte wie wir, aber Sie lesen sie mit dem Kopf, während wir sie mit dem Herzen lesen".

 

Der Begriff "Herz", der in der Bibel und in der mystischen Literatur gegenwärtig ist, passt gut zur kulturellen Mentalität der Russen, die nichts tun, was nicht po serdcu, nach dem Herzen ist (19). In den spirituellen Anweisungen des "Herzensgebets" hat es einen einzigartigen Platz. Und ebenso in den dogmatischen und apologetischen Büchern kann man lesen, dass "der Glaube in der Sphäre des Gefühls" geboren wird, und dass dieses "eine Angelegenheit des Herzens" ist (20). Der Sentimentalität angeklagt, haben sich die russischen Autoren verteidigt. Die These der Slawophilen zum Beispiel ist interessant: das Volk handelt "nach dem Herzen", was sich nicht gegen die Vernunft wendet, wenn sie gesund ist. Kirejewskij andererseits hatte anlässlich einer Zusammenkunft bei Schleiermacher beobachtet, dass die Überzeugungen seines Herzens von den intellektuellen Bemerkungen getrennt sind (21).

 

Wie kann man die Funktion des Herzens beschreiben? Es ist das, was man bezeichnet als die subjektive All-Einheit, das einigende Prinzip der menschlichen Person, denn das ist das Herz, sagt Theophan der Klausner, "was alle Kräfte der Seele, die animalischen und körperlichen Kräfte aufrecht erhält" (22). Gott zu lieben "mit seinem ganzen Herzen", bedeutet, ihn zu suchen "mit seiner ganzen Seele und mit seinem ganzen Geist" (Mt 22,37). Die Frage, die sich stellt, ist, zu wissen, wie man diese Einheit begreifen kann. Man kann zwei Grundprinzipien in den Blick nehmen. Wir werden das erste "statisch", das zweite "dynamisch" nennen.

 

Durch den Begriff "statisch" wollen wir den harmonischen Aspekt aller menschlichen Fähigkeiten im Augenblick, wo wir handeln, anzeigen. Um seine Behauptung zu illustrieren, bedient sich Theophan eines dem Theater entliehenen Vergleichs. Wenn ein Schauspieler seine Rolle außerhalb der Szene spielt, verliert sein Spiel dort viel. Es ist ähnlich wie mit einer Übung einer isolierten Fähigkeit (23). Das ist es, was geschieht, wen ein Mensch durch die Kraft seines freien Willens über die aufständischen Gefühle handelt. Durch die Reinigung des Herzens muss man zu einer "Änderung des Herzens" kommen, zur Harmonie gelangen, nicht nur momentan, sondern während des ganzen Lebens, man muss sozusagen zur "dynamischen" Einheit gelangen.

 

Der lebendige Organismus ist in Entwicklung, was die Unbeständigkeit in sich schließt, die Gefahr von Stürzen, aber auch die Erfahrung der Umkehr. Wir sind nicht in der Lage, eine Handlung zu vollbringen, die für die Ewigkeit dauert, sagte Bossuet (24); so führen wir ein gefährliches Leben. Können wir irgendeine Versicherung des Heils haben? Die spirituellen Russen sahen sie im "Zustand des Herzens". Sie sprechen häufig vom "Zustand des Gebets" (katástasis), das heißt von einer gewohnheitsmäßigen Disposition, welche die Bezeichnung "Gebet" in sich selbst verdient, außerhalb von Handlungen, die sie hervorbringt, mehr oder weniger häufig. Dieser Zustand des Gebets ist zugleich der Zustand des ganzen spirituellen Lebens, eine feste Haltung des Herzens.

 

Nun erhebt sich eine andere Schwierigkeit. Wir haben ein Bewusstsein von unseren Handlungen und wir können ihren moralischen Wert beurteilen. Das Herz wiederum bleibt ein Geheimnis, es ist der verborgene Teil des Menschen, den Gott allein kennt. Wenn man darauf besteht zu wissen, wie der Mensch den Zustand seines Herzens kennen kann, antworten die Autoren: nach dem Grad seiner Reinheit hat er eine direkte Intuition, ein "Gefühl" seines eigenen Herzens und auch von dem der anderen. Die Kardiognosie [Herzensschau] der Starzen, der spirituellen Väter besteht genau darin. Sie lasen in dem Herzen der anderen wie in einem offenen Buch und sie betrachteten dies nicht als ein Wunder, sondern als normale Veranlagung einer durch die Liebe gereinigten Seele. Um eins mit den anderen zu sein, schrieb Wyscheslawzew, genügt nicht die Solidarität eines Rousseau oder eines Robespierre. "Man muss sagen, dass diese Menschen nicht das Herz haben, und dass sie folglich jede mystische Beziehung mit dem Nächsten und mit Gott verloren haben" (25).

 

Von dort rührt die Wichtigkeit der Empfindungen für das spirituelle Leben. Alle Gefühle können offensichtlich von gleichem Wert sein, man muss die spirituellen Empfindungen pflegen und entwickeln, dort entstehen die "Intuitionen", die "Inspirationen". Ihre Quelle ist der Heilige Geist, der im gereinigten Herzen wohnt. Um sie zu wissen, sie zu vernehmen, das ist es, was man das "Gebet des Herzens" nennt.

 

Dank der Überlieferungen der Philokalie und des Russischen Pilgers hat der Westen gerade ein großes Interesse für dieses Gebet wieder entdeckt. Der moderne Mensch wird fortwährend von Eindrücken, die von außen kommen, überhäuft. Er hat vergessen, wie man die Inspirationen vernimmt, die von innen kommen, vom Herzen. Ich unterstreiche gerne die Analogien, die man in der westlichen Spiritualität finden kann. In der Biographie des hl. Franz von Assisi kann man diese Erklärung lesen: Franziskus betete nicht, "er wurde in lebendiges Gebet umgewandelt" (26) - ein schönes Beispiel dessen, was den dauernden Zustand des Herzens bezeichnet. Das andere Zeugnis ist den geistlichen Exerzitien des hl. Ignatius von Loyola entnommen, wenn er von der Unterscheidung der Geister spricht: diejenigen, die von außen kommen, können gut oder böse sein, doch wenn ein Gedanke kein äußeres Motiv hat, kommt es sicherlich von Gott. Hier haben wir einfache Beschreibungen dessen, was das Herzensgebet bezeichnet.

 

Leider stellt man fest, dass der moderne Mensch sich daran gewöhnt hat, seine Inspirationen von außen zu empfangen, er hört alle Stimmen, ausgenommen die eine, die aus der Tiefe seines Herzens kommt. Er ist es folglich, an den sich die Worte von Paul Claudel, gut passend zu denen der russischen Asketen, richten: "Wenn der Herr sagt: Gib mir dein Herz! (Spr 23,26), will dies sagen: mein Sohn, gib mir das, was, in deinem Zentrum dein Grund ist, das regulative Prinzip deines Lebens, deinen empfindsamen, gefühlvollen und intelligiblen Rhythmus. Entdecke wieder die Quelle. Kämpfe mit mir" (27).

 

Der Mensch in der Geschichte

 

Das Herz sagt: seid die Festigkeit, seid das Werden in eurer Einheit.

 

In der griechischen Philosophie stellte man sich die Frage des Werdens und seiner Beziehung zum Sein. Die Tatsache, dass alles sich fortwährend ändert, brachte Heraklit zum Pessimismus. Die klassische Philosophie blieb bei dieser Idee stehen: Gott ist unwandelbar und doch, um Gott zu finden, muss man in der Geschichte das suchen, was bleibt, das, was ewig ist. Aber folglich muss man eine Philosophie haben, die nicht historisch ist, eine Philosophie, die sich außerhalb der Entwicklung der Welt befindet, das heißt: eine ewige Philosophie [philosophia perennis]. Im Gegenteil dazu ist in der Bibel das Heil historisch, es offenbart sich in der Geschichte. Diese biblische Vorstellung passt besser zu den Russen, die die Wahrheit als lebendige und konkrete begriffen. Es ist interessant zu bemerken, dass das slawische Wort für die Wahrheit istina ist; es bezeichnet nicht nur "das, was existiert" (vgl. das lateinische est und das deutsche ist), sondern auch das, was atmet (vgl. asmi, asti im Sanskrit und atmen in deutsch). Die Wahrheit (istina) zu kennen, das bedeutet also: eintreten in den Kontakt mit einer lebendigen Realität.

 

Die Philosophie und die Theologie der Geschichte sind in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts sehr modern geworden. Aber was suchte man zu entdecken? Das Gesetz der Evolution, die Hand der väterlichen und freien Vorsehung, welche die Ereignisse lenkt? Die historischen Phänomene werden auf dem gleichen Niveau studiert wie die Wirklichkeit des sichtbaren Kosmos. Am Anfang der Forschung sammelt man Fakten, danach versucht man die Gesetze, die sie lenken, zu entdecken, "die innere Idee der Entwicklung der Welt". Die Entdeckung dieser Gesetze führt zu gleichen Schlussfolgerungen wie die Entdeckung der kosmischen Gesetze in der Antike, das heißt zum Verlust der menschlichen Freiheit. Die moralische Philosophie, die folgt, ist die Notwendigkeit der Unterwerfung unter die Zwangsläufigkeit. Dies war zum Beispiel die Überzeugung von Tolstoj in der Zeit, als er Krieg und Frieden schrieb. "In den historischen Ereignissen sind die hochqualifizierten Menschen (ich denke an Napoleon) Etiketten, die einem Ereignis einen Namen geben und - wie die Etiketten - sind sie es, die am wenigsten mit dem Ereignis selbst zu tun haben" (28).

 

Diese Überlegungen offenbaren uns eine Antinomie: auf der einen Seite muss die historische Entwicklung zur Vervollkommnung der Menschheit führen, das heißt, zur vollen Freiheit; aber wenn diese Entwicklung den "Gesetzen der Geschichte" folgt, beraubt sie die Menschen der Freiheit. Die Lösung dieses Problems kann nicht anders als christologisch sein. Indem sich Christus der Notwendigkeit der Gesetze des Universums unterwirft, hat er uns befreit von "der Versklavung der Elemente" (Gal 4,3).

 

Belinskij kommt auch zu diesem Schluss, aber nach einer schwierigen Periode einer persönlichen Krise. Nachdem er die deutsche idealistische Philosophie studiert hatte, fühlt er, dass sie seine Liebe des konkreten Lebens verletzt. "Ewige Veränderlichkeit", dies sind die Worte, die für ihn das Leben des Menschen charakterisieren. Im Gegensatz dazu schlägt Hegel die Vorstellung des abstrakten Absoluten vor, um das Universum zu erklären. "Aber diese Vorstellung (Idee) kann die Menschen nicht trösten, die leiden und die ihre geliebten Menschen sterben sehen. Für die menschlichen Geschöpfe finden sich der einzige Sinn und das einzige Heil im Kreuz Christi und in seiner Auferstehung, die der Zentralpunkt der Geschichte der Menschheit ist" (29). In der konkreten Welt lässt die Entwicklung das Leiden zu und es regt an, ihm einen positiven Wert zu geben.

 

Der russische Messianismus

 

In der Geschichte empfängt jeder Mensch von Gott einen besonderen Auftrag. Das Gleiche gilt für jede Nation. Das Bewusstsein für seine eigene Berufung kann messianisch genannt werden. Nach dem jüdischen Volk ist es das russische Volk, das die messianische Idee am besten assimiliert hat, die Idee, die die ganze Geschichte durchzieht. Das Subjekt einer göttlichen Berufung sollte eine Person sein oder konkrete Personen. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man von einem politischen Messianismus sprechen, kirchlich (vereinigt besonders mit der Idee von Moskau - dem Dritten Rom). Aber das ist der Messianismus der "Populisten", die die dynamischste gewesen ist. Die Populisten wollten nicht vom Zaren sprechen, weder direkt von der Kirche noch von der "Nation", was eine abstrakte Idee ist, und deshalb zogen sie das Wort "Volk" vor. Aber wer ist dieses "russische Volk", wem teilt man eine besondere Berufung zu?

 

Die Bemerkung des Volkes bei den Traditionalisten sollte auf diese Definition antworten: dies sind die historischen Formen des alten Russland, entwickelt unter dem besonderen Einfluss göttlicher Gnade, daher die Bewahrung des authentischen christlichen Geistes. Deshalb betrachteten es die Kritiker ironisch als die "Kanonisierung des östlichen Traditionalismus".

 

Der Kontakt zwischen Russland und Westeuropa hat zahlreiche Probleme aufgeworfen. Man hat sich die Frage gestellt: gehört Russland zur Gemeinschaft der europäischen Völker? Weder die Westler noch die Russen selbst wussten auf diese Frage eine Antwort zu geben. Einige gestanden die Unfähigkeit, sich wechselseitig mit der einen oder der anderen Seite einverstanden zu erklären, unter dem Einfluss eines naiven Patriotismus oder einer offensichtlichen Fremdenfeindlichkeit versicherten sie die große Überlegenheit der russischen Kultur und russischen Tradition. Nach dieser Logik betrachtete es der Moralist Popow als eine Sünde gegen das fünfte Gebot, die westlichen Staaten höher zu schätzen als sein eigenes Vaterland oder ohne Notwendigkeit während einer langen Zeit im Ausland zu wohnen. Er kritisiert die "Westler", die behaupten, Russland müsse "nachholen" und sich dem Westen anzugleichen.

 

Dennoch wendet sich der echte russische Messianismus nicht blind gegen den Westen. Kirejewskij beispielsweise erklärte anlässlich der Gründung der Zweitschrift "Der Europäer", dass sich Russland den Prinzipien der europäischen Zivilisation angleichen müsse, um sich zu entwickeln. Samarin, überzeugter Slawophile und Patriot schrieb, dass man die europäischen Völker lieben sollte. Der Theologe Florowskij, ein typischer Traditionalist, fordert nicht dazu auf, den Westen zu verleugnen, im Gegenteil, er rät, die Erfahrung des katholischen Westens zu nutzen, die scholastische Philosophie, die mystische Theologie, die modernen Autoren. Und der russische Emigrant W.Losskij hat gute Worte für Frankreich: "Für das Zusammentreffen in der Tiefe zwischen dem christlichen Westen und Osten wird Frankreich ein Foyer der Wiederherstellung […] in Europa, das sich entchristianisiert. Land der neuen christlichen Mission, Land der Apostel der letzten Zeiten, angekündigt durch die Heilige Jungfrau auf dem Hügel von la Salette" (30). Aber diese wünschenswerte Zusammenarbeit in Europa – wann wird sie sich realisieren? Die russischen Denker wollten nicht "die Zeit verbrennen", sie haben Sinn für die Eschatologie.

 

Der Eschatologismus

 

Man spricht oft vom Eschatologismus der russischen Kirche. A. von Harnack betrachtet sie wie "ein vollkommenes Beispiel einer Religion von jenseits", die "kaum die Erde mit ihren Füßen berührt" (31). Unter sich sollten sich alle Christen fragen, wie sie sich "den Tag des Herrn", der kommen soll, vorstellen. Die Antworten sind verschieden. Wir wollen versuchen, verschiedene Zugänge gemäß einer bestimmten Ordnung zu bieten (32).

 

Der katastrophische Eschatologismus stellt das Kommen Christi wie eine Zerstörung alles dessen dar, was die Welt erbaut hat. Dies war zum Beispiel die Mentalität der Zeit, die dem Jahr 1492 voranging (siebentausend Jahre der Erschaffung der Welt), sehr nahe, wie die Haltung der westlichen Tausendjahrfeier.

 

Der utopische Eschatologismus glaubt an eine sehr rasche Verwirklichung des Ideals. In Russland waren die Utopisten zahlreich. Sie wollten die Zeit verkürzen und die Verklärung der Welt mit ihren eigenen Kräften hervorbringen, es sich realisieren sehen unter ihren Augen.

 

Der apokatastische Eschatologismus bestreitet den positiven Sinn der Geschichte. Es genügt, sich zu reinigen und alles wird zu der ersten Vollkommenheit der Schöpfung, zum Paradies, zurückkehren. Von dieser Art sind oft die Ermahnungen der Mönche.

 

Der schöpferische Eschatologismus charakterisiert sich gut mit den Worten von Berdjajew: die Zukunft kann nicht gebaut werden, indem man die Vergangenheit zurückweist; wir leben in der Zeit und durch die Gegenwart bereiten wir die Zukunft vor, wir verändern das Ende der Welt mit unserer Freiheit.

 

Der anamnetische Eschatologismus ist derjenige, wo das russische Denken sich als das originellste manifestiert. Dieser Eschatologismus spricht vom Übergang dieses historischen Lebens zum ewigen Leben. Aber haben wir eine deutliche Idee dessen, was ewiges Leben ist? Die Ewigkeit ist nicht eine unendlich lange Zeit. Und wenn man andererseits die Ewigkeit als das Ende der Zeit betrachtet, ist es schwierig, sich die wiederauferweckten Körper vorzustellen. Wie kann man dieser Sackgasse entkommen? Erneut kann die Lösung nur christologisch sein: die Geheimnisse des gegenwärtigen Lebens von Jesus sind ewig geworden, und sie werden ewig in der eucharistischen Liturgie hervorgerufen. Die Ewigkeit begreift sich nun wie die ewige Rückkehr von allem Guten, das in der Zeit Gestalt angenommen hat. Deshalb wiederholt die byzantinische Totenliturgie mit Beständigkeit den innigen Wunsch des "ewigen Gedenkens" (wjetschnaja pamjat). Die Zeit ist vorübergegangen, und sie tritt in die Ewigkeit Gottes ein. (Nebenbei: Diese Probleme sind sehr gut in dem Film "Nostalgie" von Twarkowski behandelt worden.)

 

 

Schluss